Gesellschaftliche Fragen, räumliche Antworten

von:
Forschung und Bildung
Zwischen den neuen viergeschossigen Gebäuden könnten kleine Plätze entstehen. Hier wird erlebbar, wie Grau- und Regenwasser über offene Gerinne (rechts) geleitet wird. TU Berlin Projekt Zingster reloaded”, Forschungsgruppe Weidinger

Wohnraum in Großstädten wird knapp - und das in einer Zeit, in der sich das Klima verändert, fossile Ressourcen schwinden, Menschen immer älter werden und man nicht so richtig weiß, wie sich digitale Techniken auf das Zusammenleben auswirken. Lokale und globale Frage- und Problemstellungen überstürzen sich. Um ihnen nachzukommen und zu begegnen, wurden in den letzten Jahren Handlungsprinzipien wie "Nachhaltigkeit" und "Resilienz" formuliert. Häufig ist unklar, was mit diesen Begriffen gemeint und anzufangen ist.

Deshalb ist es unumgänglich, sie in diskursiven Auseinandersetzungen zu qualifizieren.1 Für eine entwurfliche Auseinandersetzung ist das aber nicht ausreichend. Von gestalterischen Disziplinen wird zusätzlich erwartet, dass sie auf Fragen und Probleme Antworten geben, und zwar in Form von Vorschlägen für räumliche Veränderungen. Wie aber könnten sie mit heutigem Stand der Technik und des Wissens in der Bundesrepublik aussehen und realisiert werden?



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Als Untersuchungsgebiet wurde die in den 1980er-Jahren entstandene Großsiedlung in Neu-Hohenschönhausen im Nordosten Berlins ausgewählt, die etwa 22 500 Wohnungen umfasst. Abb.: Geoportal Berlin / Digitale farbige Orthophotos 2014 (DOP20RGB)

Entwurfsbasiert forschen

Mit dieser Fragestellung beschäftigte sich das Forschungsprojekt "Zingster reloaded - zur Zukunft einer Plattenbausiedlung in Berlin".2 Etwa zwei Jahre lang loteten Architekten, Städtebauer, Landschaftsarchitekten sowie Fachleute der Siedlungswasserwirtschaft und der Energietechnik an der TU Berlin räumliche Antworten auf die oben genannten gesellschaftlichen Frage- und Problemstellungen aus. Als Untersuchungsgebiet wurde die in den 1980er-Jahren entstandene Großsiedlung in Neu-Hohenschönhausen im Nordosten Berlins ausgewählt, die etwa 22 500 Wohnungen umfasst. Die Entscheidung fiel auf eine solche Siedlung, weil dort häufig das vorhanden ist, was in der Innenstadt fehlt: Relativ kostengünstiger Wohnraum und zusätzlich freies Bauland, das der öffentlichen Hand oder den landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften gehört.
Methodisch wurde das Projekt als "entwurfsbasierte Forschung" aufgefasst, das heißt das Phänomen wurde mit Hilfe der Handlungsweise "Entwerfen" beleuchtet und der Entwurf reflektiert.3 Der Entwurf wurde bis zur städtebaulichen Ebene ausgearbeitet. Ende 2015 endete das Projekt mit einem Podiumsgespräch. Dabei wurde der Entwurf mit Vertretern der Politik wie Engelbert Lütke Daldrup (Staatssekretär für Bauen und Wohnen in der Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt), der Wohnungsbaugesellschaft, und zwar Stefanie Frensch (Geschäftsführerin der Howoge Wohnungsbaugesellschaft Berlin) sowie mit Fachleuten der Architektur wie Stefan Forster (Architekt in Frankfurt am Main) und Umwelttechnik Martin Kriegel (Professor für Gebäudeenergiesysteme an der TU Berlin) sowie Erwin Nolde (Ingenieur für Wassertechnik aus Berlin) an der TU Berlin diskutiert. Im Folgenden wird nicht das Projekt vorgestellt oder die Inhalte des Podiumsgespräches wiedergegeben, sondern es werden einige Diskussionsfelder aus unterschiedlichen Perspektiven skizziert, die durch den Entwurf anschaulich wurden und deshalb hier beleuchtet werden können.

Städtebauliche Perspektive: Unterstadt ergänzen

Die Siedlung ist durch eine elfgeschossige Bebauung geprägt, was etwa einer Höhe von 30 Metern entspricht. Viel Leerstand gibt es in solchen Siedlungen in Städten wie Berlin nicht mehr. Ein kompletter Abriss wurde auch deshalb nicht erwägt. Stattdessen sieht das Projekt vor, die elfgeschossigen Gebäude durch viergeschossige zu ergänzen, sodass die Höhendifferenz zwischen Gebäude und Freiraum nicht zu stark ausfällt. Mit dieser Maßnahme wird auch dem Wunsch nach mehr Wohnraum in der Siedlung nachgekommen.
Mit den Neubauten, die im Projekt von der Forschergruppe um Luise King, emeritierte Professorin für Städtebau und Siedlungswesen an der TU Berlin, als "Unterstadt" bezeichnet werden, sollen aber auch neue private und öffentliche Nutzungen angeregt werden: Wohnräume, Räume für Kultur- und Freizeitnutzungen oder Nahversorger. Hier ist zu erkennen, wie das Paradigma der "Funktionsgetrennten Stadt" - unter der die Siedlung vor etwa 30 Jahren errichtet wurde - aufgegeben wird und gemäß des Paradigmas der "Funktionsgemischten Stadt" verändert werden soll. In einer solchen Stadt können im besten Fall Einkäufe fußläufig erledigt werden. Das hat möglicherweise zur Folge, dass weniger Pkw-Stellflächen in der Siedlung vorgehalten werden müssen. Auf diesen freien Stellflächen könnten wiederum Wohngebäude oder neue Freiräume entstehen. Pkw werden allerdings nur dann im größeren Umfang entfallen können, wenn es einen verlässlichen öffentlichen Personennahverkehr mit angemessener Taktung gibt; im Untersuchungsgebiet fährt beispielsweise eine Straßenbahn in etwa 30 Minuten zum Berliner Alexanderplatz. Das macht deutlich, wie architektonische Veränderungen nur im Zusammenspiel mit Veränderungen realisiert werden können, die den Einfluss gestalterischer Disziplinen übersteigt.

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Der Bestand kennzeichnet sich durch überdimensionierte und voneinander getrennte Straßen und Stellflächen. TU Berlin, Jacek Ruta
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Der Entwurf sieht vor den Bestand zu transformieren, sodass eine Promenade mit einem offenen Gerinne entsteht, die Grau- und Regenwasser führt. Projekt Zingster reloaded”, Forschungsgruppe Weidinger

Landschaftsarchitektonische Perspektive:

Öffentlicher Raum als Struktur sich ergänzender Freiräume

Der öffentliche Raum soll in dem Projekt als robuste Struktur aus Freiräumen verstanden werden, in der zum Beispiel Parks mit unterschiedlichem Charakter vorgeschlagen werden. Der Grund für diesen Ansatz beruht auf mindestens drei Einsichten, welche die für den Freiraum verantwortliche Forschergruppe um Jürgen Weidinger, Professor für Landschaftsarchitektur an der TU Berlin, formulierte:
(a) Die Freiräume innerhalb der Siedlung sollen unterschiedliche Charaktere besitzen und nicht wie bisher nur einen einheitlichen Charakter, der zudem nur wenig Aufenthaltsmöglichkeiten bietet. So sieht der Entwurf beispielsweise einerseits einen Park für sportliche oder gärtnerische Nutzungen mit Zugang zu einem See vor ("Stadtpark"), andererseits einen völlig anderen Park, der aus extensiven, weitläufigen Wiesen besteht und dadurch Aspekte des Naturschutzes berücksichtigt ("Wiesenpark").
Man könnte deshalb davon sprechen, dass sich die öffentlichen Freiräume der Siedlung gerade wegen ihrer Unterschiedlichkeit ergänzen.
(b) Durch die robuste Struktur sollen übergeordnete Ziele, wie zum Beispiel die Wiederverwertung von gebrauchtem Wasser aus den Haushalten, im öffentlichen Raum sichergestellt und für den Bewohner erlebbar gemacht werden, beispielsweise in der sogenannten "Grün-Blauen-Achse", die als eine Art Rückgrat der Siedlung verstanden werden kann.
(c) Ein weiterer Grund für den robusten Freiraum liegt in der Einsicht, dass nur so dauerhaft private Flächen geschaffen werden können, für die sich die Bewohner verantwortlich fühlen und dann beispielsweise Gärten - welcher Art auch immer - anlegen können.
Diese Position erinnert entfernt an methodische Überlegungen zum Wohnungsbau von John Habraken oder Ottokar Uhl, die diese ab den 1970er-Jahren entwickelten. Beide Architekten artikulierten Prinzipien, die zwischen einer "Struktur" und einem "Inhalt" unterschieden. Habraken entwickelte das Prinzip von "Träger" und "Menschen",4 Uhl das Prinzip der "Primärstruktur" und "Sekundärstruktur".5 Ein Unterschied zwischen diesen beiden architektonischen Prinzipien und dem hier vorgeschlagenen landschaftsarchitektonischen Prinzip liegt darin, dass die Struktur im Wohnungsbau einem Bausystem gleicht, das an mehreren Orten angewendet werden kann. In der Landschaftsarchitektur ergibt sich diese Struktur hingegen aus dem Ort und kann zumeist nicht auf andere Orte übertragen werden. Solche Strukturen sind zum Beispiel Baumbestände, Teiche, der Verlauf von Bahnschienen oder eine Häuserflucht. Eine vergleichende Analyse der städtebaulichen Prinzipien von Habraken und Uhl mit dem hier vorgeschlagenen landschaftsarchitektonischen Prinzip liegt nicht vor. Eine solche Analyse könnte vielleicht auch einen Beitrag zur Frage leisten, auf welchen Ebenen der Planung von Landschaftsarchitektur Bürger sinnvoll einbezogen werden können. Nach Weidinger sind es übrigens die privaten Freiräume, die innerhalb der Struktur des öffentlichen Raums von den Bewohnern in allen erdenklichen Ausprägungen und Vorlieben ausgestaltet werden können.

Architektonische Perspektive: Austausch im Erdgeschoss initiieren

Das Erdgeschoss vieler Gebäude unterscheidet sich von anderen Geschossen zum Beispiel darin, dass ein unmittelbarer Kontakt zum Freiraum besteht. Deshalb ist es plausibel, Erdgeschosse nicht nur als Erschließungsinstrumente für Gebäude zu verstehen, sondern als Räume aufzufassen, indem ein vielfältiger Austausch von innen und außen sowie von privat und öffentlich realisiert werden kann. So schlägt die Forschergruppe um Florian Köhl, Architekt aus Berlin, vor, die bestehenden Gebäude der "Wohnungsbauserie 70" (WBS 70), die in den 1970er-Jahren entwickelt wurde, innerhalb der Serie so zu verändern, dass beispielsweise ein Zugang von der Wohnung in einen Garten möglich ist. Solche Änderungen sind relativ einfach zu realisieren, da die Fassaden dieser Serie nichttragend sind und deshalb auf unterschiedliche Weise bearbeitet werden können. So ist es zum Beispiel möglich, Fenster und Türen auszuwechseln oder ganze Fassaden-Elemente auszutauschen, ohne das Tragwerk des Gebäudes negativ zu beeinflussen. Es ist aber auch möglich, vor die reliefarme Fassade eine zweite selbsttragende Fassade zu installieren, die einem Wintergarten gleicht.
Köhl hat die Kategorien "Small", "Medium" und "Large" entwickelt, um die Intensität des Eingriffs in den Bestand auszudrücken. Ferner wird damit auch vermittelt, dass Veränderungen stückweise realisiert werden könnten. Stefanie Frensch wies allerdings im Podiumsgespräch darauf hin, dass bei vielen Baumaßnahmen nicht unterschätzt werden darf, dass damit häufig eine Erhöhung der Miete verbunden ist. Gerade die Bewohner von Großsiedlungen schätzten aber den geringen Mietpreis. Auch wenn das ein "Todschlagargument" für jegliche Veränderung ist, sind doch ökonomische Parameter per Definition eine Zieldimension dessen, was als "nachhaltig" bezeichnet wird. Das Projekt geht darauf nur rudimentär ein. An anderer Stelle hat die Howoge bereits Konzepte realisiert, bei denen mit teuren Dachgeschosswohnungen günstigere Wohnung finanziert werden konnten.6


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Die „Grün-Blaue-Achse” führt in den Stadtpark, der an den vorhandenen See stößt. Projekt „Zingster reloaded”, Forschungsgruppe Weidinger

Verwaltungsstrukturelle Perspektive: "Amt für Stadtgestaltung" einrichten

Das Projekt vertritt die These, dass die Strukturen der öffentlichen Verwaltung nicht zeitgemäß sind. Soll es Freiräume geben, in denen unterschiedliche Elemente der Infrastruktur wie Fahrradwege, Straßen und Straßenbahnschienen nicht mehr als voneinander getrennte Räume, sondern als vermischter Raum realisiert werden, bedürfe es eine andere Organisation von Zuständigkeiten in den Verwaltungen. Weidinger schlägt eine Art "Amt für Stadtgestaltung" vor. (Ebd.) Wie sonderbar dieser Begriff im ersten Moment auch klingen mag, stimmt ihm Engelbert Lütke Daldrup im Podiumsgespräch in der Sache zu. Damit ist nicht gemeint, dass verschiedene Behörden mit unterschiedlichen Aufgabenfeldern nicht einen speziellen Blick auf den Raum richten sollten. Vielmehr wird kritisiert, dass (a) der Stadtraum in seinem Zusammenhang mit umgebenden Stadträumen leicht aus dem Blick gerät und (b) Budgets nur für bestimmte Zwecke eingesetzt werden können.

Ethische Perspektive: Funktionen erlebbar machen

Die Energietechnik sieht sich im Untersuchungsgebiet damit konfrontiert, dass die Gebäude verhältnismäßig kleine Dachflächen besitzen, dafür aber große Fassadenflächen aufweisen. Diese Ausgangslage löst die Forschungsgruppe um Markus Naimer, Energietechniker aus Berlin, indem die Fassade Solarmodule aufnimmt, die zugleich einen Sonnenschutz bieten und die Fassade gestalterisch strukturieren.
Ferner soll das in einem Haushalt anfallende Abwasser nach Meinung der Forschergruppe um Matthias Barjenbruch, Professor für Siedlungswasserwirtschaft der TU Berlin, nicht einfach in die Kanalisation abgeleitet, sondern als Ressource genutzt werden. So wird vorgeschlagen aus dem anfallenden Schwarzwasser Nährstoffe wie Stickstoff und Phosphor zu extrahieren, die von den Bewohnern als Düngemittel von einer dezentralen Anlage für ihren eigenen Garten bezogen werden können. Grauwasser soll hingegen so gefiltert werden, dass es in offenen Gerinnen in einen bereits vorhandenen Bach und schließlich in einen See geleitetet werden kann. Diese beiden Vorschläge stehen exemplarisch für die Position des Projektes: Ökologische Maßnahmen sollen in der Gestaltung aufgehen.
Das ist gewiss kein neuer Gedanke. So hat zum Beispiel Dieter Kienast bereits vor über 20 Jahren für die Landschaftsarchitektur formuliert, dass Ökologie und Gestaltung kein Widerspruch sein müssen. Der kleine Hof und Vorgarten des Bürogebäudes in der Mühlebachstraße in Zürich, entstanden Mitte der 1990er-Jahre, zeugen von der Realisierbarkeit dieses Verständnisses. Dort wird anfallendes Regenwasser nicht abgeführt, sondern auf inszenierte Weise gefiltert und geleitet, bevor es im Boden versickern kann.7 Ohne zu übertreiben, könnte nach einer ethischen Dimension der Gestaltung gesucht werden, die sich darin kennzeichnet, dass etwas erlebbar gemacht wird, das häufig verborgen bleibt. Bis heute liegt eine solche Ethik - zumindest im Bereich der Landschaftsarchitektur - nicht vor.


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Die Bestandsgebäude werden durch neue Gebäude ergänzt oder verändert. Zusätzlich gibt es zahlreiche energetische sowie siedlungswassertechnische Maßnahmen (A = Maisonette, B = Wohnung mit Schaltzimmer, C = Erdgeschosswohnung, D = Clusterwohnung). Projekt "Zingster reloaded", Forschungsgruppe Köhl

Disziplinäre Perspektive: Kultur unterschiedlicher Disziplinen etablieren

Zu Zeiten Vitruvs umfasste die Disziplin "Architektur" auch Bereiche, die man heute gemeinhin nicht mit Architektur in Verbindung bringt, zum Beispiel der Uhrenbau.8 Das hat sich spätestens im 19. Jahrhundert signifikant verändert. Die Gründe dafür waren vielfältig. Unter anderem lag es an den neuen Ausdrucksmöglichkeiten der Architektur und zugleich an den neuen Anforderungen an die Architektur, die ihren Impuls durch die industriellen Entwicklungen erhielten.9 Seitdem etablierten sich Hochbauarchitektur, Bauingenieurwesen, Stadtplanung und Gartenkunst mehr oder weniger als eigenständige Disziplinen. Im 20. Jahrhundert wurden diese Disziplinen erneut ausdifferenziert - so zum Beispiel die Gartenkunst beziehungsweise Gartenarchitektur in eine sozialwissenschaftliche Freiraumplanung, eine ökologisch ausgerichtete Landschaftsplanung und in eine an gestalterischen Themen interessierte Landschaftsarchitektur.10 Seit etwa drei Jahrzehnten wird versucht zumindest diese drei genannten Disziplinen unter dem Begriff "Landschaftsarchitektur" zu fassen. Diese Entscheidung wird mit den sozialen, ökologischen und ökonomischen Anforderungen begründet, den man sich heute in einer demokratisch organisierten Dienstleistungsgesellschaft zu stellen hätte. Das Projekt zeigt, dass auch das nicht ausreichend ist. Besonders deutlich wird das im Fall der hochspezialisierten Energietechnik und Siedlungswasserwirtschaft. Es liegt also nahe, das Projekt mit Begriffen zu versehen, die zwischen Trans-, Inter- oder Multidisziplinärität changieren: Unterschiedliche Disziplinen, die jeweils über ein Fachwissen verfügen, das einer anderen Disziplin fehlt, untersuchen ein Phänomen oder eine Sache, hier eine Siedlung. Das Besondere an diesem Projekt ist die Tatsache, dass sich die disziplinären Grenzen nicht auflösen, sondern dass die Erkenntnisse der anderen beteiligten Disziplinen so in das eigene Denken und Handeln übersetzt werden, dass man von Zusammenarbeit sprechen könnte. Ob das in allen Bereichen des Projektes geglückt ist, sei dahingestellt. Überzeugend ist der Ansatz für eine Zusammenarbeit bei disziplinärer Differenz.

Diskursive Perspektive: Vermischungen reflektieren

Durch das Projekt wird aber auch deutlich, dass der aktuell häufig verwendete Begriff "Mischung" oder "Vermischung" stärker zu qualifizieren ist, soll er zukünftig hilfreich sein, um zu untersuchende Phänomene sowie zu entwickelnde Konzepte treffsicher zu beschreiben. Die Spannweite des Begriffsumfangs reicht vom städtebaulichen Leitbild ("Funktionsgemischter Stadt") bis zur Kennzeichnung von konkreten Räumen zwischen privat und öffentlich ("Hybridnutzungen"). Aber was genau hat sich hier wie vermischt und warum ist es sinnvoll? Und wenn sich alles vermischt, stellt sich die Frage, ob damit zum Beispiel Unterschiede verloren gehen, die auch eine Qualität besitzen?11 Der Gewinn eines solchen Fragens könnte darin liegen, dass ein scheinbar gegenwärtig plausibel klingendes Paradigma wie "Vermischung" ein reflexives Gegengewicht erfährt. Schließlich geht es nicht nur darum, auf gesellschaftliche Fragen sinnvolle räumliche Antworten zu finden, sondern auch darüber nachzudenken, ob Fragen sinnvoll gestellt wurden.

Anmerkungen
1 Vgl. hierzu unter anderen Mitschele, Kai; Scharff, Sabine (Hg.): Werkbegriff Nachhaltigkeit. Resonanzen eines Leitbildes. Bielefeld 2013.
2 Seitenzahlen in Klammern verweisen auf den Forschungsbericht, der in Buchform erschienen ist: King, Luise; Weidinger, Jürgen; Barjenbruch, Matthias u. a. (Hg.): Zingster reloaded. Zur Zukunft einer Plattenbausiedlung in Berlin. Ein interdisziplinäres Projekt. Berlin 2015.
3 Zur Methode vgl. z. B. Weidinger, Jürgen: Entwurfsbasiert forschen. Berlin 2013.
4 Habraken, Nicolaas John: Die Träger und die Menschen [1961]. Den Haag 2000.
5 Steger, Bernhard: Vom Bauen. Leben und Werk von Ottokar Uhl. In: Architekturzentrum Wien (Hg.): Ottokar Uhl. Wien 2005, S. 41-67, hier S. 55.
6 Vgl. Gugel, Susanne; Gabriel, Thorsten: 3 Zimmer, Küche, Bad: 1470 Euro. Berliner Senat sucht Konzepte für den Wohnungs-Neubau. www.rbb-online.de/politik/beitrag/2015/01/Berlin-Senat-neue-Wohnungen-Geisel-Mueller.html (abgerufen am 27.11.2015).
7 Vgl. Kienast, Dieter: Kienast Vogt. Aussenräume. Basel u. a. 2000, S. 144-151.
8 Vgl. Fischer, Günther: Vitruv NEU oder Was ist Architektur? Basel u. a. 2009, S. 86.
9 Vgl. Körner, Stefan: Theorie und Methodologie der Landschaftsplanung, Landschaftsarchitektur und Sozialwissenschaftlichen Freiraumplanung vom Nationalsozialismus bis zur Gegenwart. Berlin 2001.
10 Vgl. Amt, Stefan: Von Vitruv bis zur Moderne - Die Entwicklung des Architektenberufes. In: Johannes, Ralph (Hg.): Entwerfen. Architekturausbildung in Europa von Vitruv bis Mitte des 20. Jahrhunderts. Geschichte - Theorie - Praxis. Hamburg 2009, S. 10-45, hier S. 32-37.
11 Diesen und weiteren Fragestellungen wird eine Konferenz "Vermischungen. Zum Verhältnis von Architektur und Landschaftsarchitektur" nachgehen, die vom 28. bis 29. Januar 2016 an der TU Berlin stattfindet.


Dipl.-Ing. (FH) Sebastian Feldhusen
Autor

Hochschule Osnabrück und Technische Universität Berlin

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