Auenlandschaft Zugwiesen wird Publikumsmagnet

Ludwigsburger Neckarufer naturnah umgebaut

von:
Hochwasserschutz Flutungsflächen
Projektgebiet Zugwiesen, Mai 2012. Foto: Info & Idee

Stadtnahe Natur ist ein Publikumsmagnet: Seit Monaten lockt das Ludwigsburger "Neckarbiotop Zugwiesen" tausende Interessierte zu Spaziergängen, Radtouren, kurzem oder ausgiebigem Beobachten und Erleben. Innerhalb eines Jahres sind an der Staustufe Poppenweiler eine 17 Hektar große Auenlandschaft und 40.000 Quadratmeter neue Wasserfläche entstanden. In den kommenden Monaten wird noch der marode Uferdamm mit seinen Betonplatten und vermörtelten Steinplatten abgetragen. Dann bilden Fluss und Uferlandschaft wieder eine ökologische Einheit.

Ausgangspunkt des Projektes "Zugwiesen" war in den 1990er-Jahren die nüchterne Erkenntnis, dass der gesamte untere Neckar seit dem Ausbau für die Schifffahrt als Lebensraum für Pflanzen und Tiere dramatisch an Wert verloren hat. Die 27 Staustufen zwischen Deizisau bei Esslingen bis zum Rhein zerstückeln das Leben im und am Fluss und verhindern den Artenaustausch aller aquatisch lebenden Organismen, wie Fachleute beklagen. Durch den Ausbau des Neckars zur Wasserstraße wurden artenspezifische Wanderungen der Gewässerorganismen verhindert, Fische können beispielsweise ihre Laichplätze nicht mehr erreichen, die Reproduktion heimischer Arten wird unterbunden.

Vor diesem Hintergrund rief das Land Baden-Württemberg 1999 des Projekt "IKoNE" - "Integrierende Konzeption Neckar-Einzugsgebiet" - ins Leben. Hochwasserschutz, Wasserqualität und Gewässerökologie sollten nachhaltig weiterentwickelt werden. Bei der Stadt Ludwigsburg rannte das Land offene Türen ein: Naturnaher Flussbau und bessere Ökologie an den Gewässern auf Ludwigsburger Gemarkung waren dem Fachbereich Tiefbau und Grünflächen schon lange ein zentrales Anliegen. Nachdrücklich setzte sich die Stadt dafür ein, an den Zugwiesen ein "IKoNE"-Pilotprojekt zu realisieren. Eine vielfältige Uferlandschaft sollte entstehen und ein sogenanntes "Umgehungsgerinne". Damit Fische wieder flussaufwärts schwimmen können, wurde ein 1,7 Kilometer langer Bach geplant, der die Lebensräume ober- und unterhalb der Staustufe Poppenweiler verbinden sollte.

Dass Planung und Genehmigung, vor allem aber der Landerwerb am Neckarufer viel Zeit in Anspruch nahmen, erwies sich im Nachhinein als Glücksfall. Denn inzwischen zeigten die Betonplatten des linksufrigen Neckardammes aus den 1950er-Jahren gewaltige Verschleißerscheinungen. Der Damm an den Zugwiesen war auf rund 800 Metern Länge nicht mehr auf Dauer funktionstüchtig. Das zuständige Wasser- und Schifffahrtsamt Stuttgart musste etwas unternehmen. Warum also nicht Dammsanierung mit der naturnahen Umgestaltung in einer Maßnahme zusammenfassen?

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Zwei völlig verschiedene Bauherren (der Fluss gehört der Bundesrepublik, das Ufer der Stadt Ludwigsburg), zwei Projekte mit ganz unterschiedlichen Zielen - kreatives Denken in Politik und Verwaltung war notwendig, um aus den beiden Vorhaben ein gemeinsames zu machen. Vom Bundesverkehrsministerium kamen positive Impulse, das Wasser- und Schifffahrtsamt Stuttgart, die Ludwigsburger Grünflächen-Experten, das Landratsamt als untere Genehmigungsbehörde und die Planer entwickelten ein gemeinsames Konzept. Am Ende sollten Fluss und Landschaft - fast wie in Zeiten vor dem kanalartigen Ausbau der Bundeswasserstraße Neckar - wieder ein Bild abgeben, waren sich alle Beteiligten einig. Es galt die Maxime, das höchstmögliche Maß an Ökologisierung umzusetzen.

Um dies zu erreichen, müssen zeitgemäße Technologien eingesetzt werden - muss der Fokus auf dem naturnahen statt dem rein technischen Wasserbau wie seither liegen. Anstatt auf gemauerte und betonierte, also starre technische Bauwerke zu setzen, sind ingenieurbiologische Methoden gefragt, in denen lebende Pflanzen eine entscheidende Rolle spielen. Denn ein hartes Bauwerk aus Beton altert vom ersten Tag an. Ein naturnah befestigtes Ufer kann sich anpassen und wird dank des Pflanzenwachstums täglich besser und stabiler. Bis die Pflanzen dank ihrer biotechnischen Eigenschaften die notwendigen Stabilisierungsfunktionen erfüllen können, werden Hilfsbaustoffe eingesetzt - zum Beispiel Konstruktionen aus Totholz oder Naturfasermatten. Diese schützen sofort und so lange gegen Erosionen, bis die Pflanzen mit dann kräftigen Wurzeln und Trieben in der Lage sind, diese Aufgaben alleine zu erfüllen.

Dass diese Rechnung aufgeht, kann in den Zugwiesen beobachtet werden - und zwar unter erschwerten Bedingungen: Die Staustufe Poppenweiler hat mit ihren zwei Schleusenkammern nicht nur für die Schiffe Bedeutung, die hier sieben Meter Höhenunterschied überwinden. Im Bauwerk wird auch eine Wasserkraftanlage betrieben. Bei der Planung des naturnahen Neckardammes musste zudem gewährleistet sein, dass Schiffe zuverlässig den Bereich passieren können und dass ein Hochwasser keine größeren Schäden anrichten kann.

Rund acht Millionen Euro kostete es einschließlich Grunderwerb, die neue Landschaft herzustellen. Etwa die Hälfte davon konnte die Stadt Ludwigsburg aus ihrem Ökokonto aufbringen: Geld, das für Ausgleichsmaßnahmen zum Beispiel für städtebauliche Entwicklungen im Stadtgebiet bezahlt werden muss. Der Verband Region Stuttgart steuerte 600.000 Euro bei, das Land Baden-Württemberg 400.000 Euro. 350.000 Euro kamen aus Mitteln, die das Landesumweltministerium über die "Glücksspirale" einnahm. Das Wasser- und Schifffahrtsamt investiert in seinen Projektbereich Wasserstraßeninstandsetzung 2,8 Millionen Euro. Weitere Gelder kamen aus dem Europäischen Förderprogramm "Life+". Ebenso beteiligten sich die Umweltstiftung NatureLife International sowie Unternehmen an Projektbausteinen wie etwa der Beobachtungsplattform "Storchennest". Diese zurückhaltend-markante Konstruktion ermöglicht es Interessierten, auch Bereiche des Zugwiesen-Gebiets einzusehen, die aus Rücksicht auf die Tier- und Pflanzenwelt nicht für den Publikumsverkehr zugänglich sind.

Der Aufwand für das große ökologische Kleinod hätte noch viel höher sein können, wenn nicht die vorgegebene Landschaft den Planern in die Karten gespielt hätte: Da Wiesen und Äcker tiefer lagen als der Neckarpegel, musste viel weniger gebaggert und geschaufelt werden als bei vergleichbaren Baustellen. Dennoch sind die Zahlen beeindruckend: Rund 50.000 Kubikmeter Erde wurden im Rahmen der Bauarbeiten, die im Juli 2011 begannen, bewegt, etwa 7000 Tonnen Steine verbaut. Höchste Präzision dabei war gefordert: Als es darum ging, die Strömungen und die Fließgeschwindigkeit des neuen Umgehungsgewässers zu gestalten, legten die Planer zum Beispiel zentimetergenau Größe und Platzierung einzelner Steine fest.

Maßstab für die Entwicklung der Zugwiesen war gleichzeitig immer auch die Bevölkerung - sei es, dass sie die natürliche Umgebung zur Naherholung erleben oder sich mit den Feinheiten bestimmter Pflanzen- und Tierwelten fachkundig auseinandersetzen will. Schon früh wurde sie in das Projekt eingebunden. Presseberichte, gezielte Informationen für fachlich interessierte Laien, Führungen und andere Veranstaltungen gab es von Anfang an. Mit Broschüren, Filmen und fürs Internet aufbereiteten Inhalten wurde das Zugwiesen-Vorhaben transparent und allgemein zugänglich vermittelt. Spatenstiche wurden von Bürgerinnen und Bürgern aller Altersgruppen fast wie Volksfeste wahrgenommen - sie identifizierten sich schon in der Planungsphase mit dem neu geschaffenen Stück Landschaft.

Mit einem "NeckarFestTag" am 13. Juni 2012 hat die Stadt Ludwigsburg diese Linie konsequent fortgesetzt. Auf fast zwei Kilometern Strecke zwischen Schleuse und der Beobachtungsplattform "Storchennest" wurden Infostände, Mitmach- und Erlebnisprogramme angeboten. Provokativ-unterhaltsam machte Spontantheater das Publikum auf das Thema "Angemessenes Verhalten in der Natur" aufmerksam und sammelte von Interessierten Tipps und Regeln für einen "Zugwiesen-Knigge" ein. "Nicht die Tiere stören" hieß es da, "Kein Feuer machen", "Keine Fische fangen" und "Keinen Müll wegwerfen". Anders gesagt: "Wir wollen die Natur sauber bewundern!"

Ob von Flusswasser oder durch Regen gespeist, im neuen "Neckarbiotop Zugwiesen" sind die Lebensräume für Pflanzen und Tiere ähnlich wie vor der Industrialisierung. Stillwasserflächen mit Inseln, Feuchtgebiete, Teiche und ein vagabundierender Bachlauf - diese kleinen, unregelmäßigen Erscheinungsformen von Flusslandschaft sind es, die den ausgebauten Wasserstraßen des 20. Jahrhunderts fehlen. Auch bei der Staustufe Poppenweiler herrschte bis zum Baubeginn im Juli 2011 ein "ökologisch defizitärer Zustand" wie der Erläuterungsbericht zur Genehmigungsplanung von 1999 formulierte. Die jetzt neu erstellten Lebensräume sind eine konzentrierte Anlage von Mangelbiotopen des ausgebauten Neckars, wie sie an vielen weiteren Stellen erforderlich sind, um der Natur einen ökologisch funktionsfähigen Verbund mit immer stabiler werdendem Wert zurückzugeben. Aus Sicht der Gewässerökologie ist es wichtig, alle Neckarschleusen passierbar zu gestalten. Ein Pilotprojekt wie die Zugwiesen gibt die Richtung an, aber es ist natürlich nur der Anfang. Inwieweit sich das Land hier in die Pflicht nehmen lässt, wird sich zeigen. Landesumweltminister Frank Untersteller hat zumindest beim Besuch der Zugwiesen bereits erklärt, dass solche Projekte am Neckar in den nächsten Jahren Stück für Stück vorangetrieben werden müssten.

Mehr noch: Das Zugwiesen-Projekt soll Nachahmer in ganz Europa finden. Denn die Renaturierung der Zugwiesen ist Teil des EU-Projektes "My Favourite River", das die EU in ihrem Umwelt- und Naturschutzprogramm "Life +" fördert. Zur Aufgabe der Projektbeteiligten gehört es, in einem präzisen Abschlussbericht die Kooperation der verschiedenen Behörden zu beschreiben und zu erklären. Vom Denkansatz bis zu praktischen Tipps sollen die in Ludwigsburg realisierten Ideen und die damit erzielten Erfolge Fachleute und Laien in ganz Europa motivieren, ihre Flüsse naturnahe umzumgestalten. Gleichzeitig soll sich die Bevölkerung mit dem Öko-Projekt identifizieren.

Letzteres hat die Abteilung Grünflächen in der Stadtverwaltung durch ihre breite Öffentlichkeitsarbeit bereits erreicht. Die Ludwigsburger sind stolz auf das neue Stück Natur vor ihrer Haustür. Das belegen die Besucherzahlen vor allem an den Wochenenden. Wobei die Zugwiesen nur eines von zwei Pilotprojekten im Rahmen des EU-Projektes "My Favourite River" ist. Auch im benachbarten Remseck soll die Zusammenarbeit zwischen Bund und Kommune an einem konkreten Beispiel durchgespielt werden - der naturnahen Gestaltung des rechten Neckarufers.

Seit im späten Mittelalter die Stämme von Schwarzwaldtannen ins flache Rheinland und nach Holland geflößt wurden, hat sich zwar vieles verändert, doch im Grundsatz gilt nach wie vor: Nur auf dem Wasser können gigantische Massen von Material wie beispielsweise Bau- und Brennstoffe vergleichbar rasch und preiswert transportiert werden. Eisenbahn und Lastwagen konnten und können in diesem speziellen Markt keine vergleichbaren Angebote machen. Im Kaiserreich und später dann in der Weimarer Republik wurden die Flüsse deshalb als wichtige Transportwege für die moderne Gesellschaft definiert.


Viele der Menschen, die heute am Neckar mit den Enkelkindern spazieren gehen, erinnern sich lebhaft an die "Schaumberge" der 1950er- und 60er-Jahre: Mit der Einführung von synthetischen Waschmitteln war der Fluss oft mit riesigen Mengen von Schaum überzogen, Schifffahrt und sogar der benachbarte Straßenverkehr waren zum Teil drastisch behindert und gefährdet. Düngemittel, die von Gärten und Äckern in den Fluss drangen, brachten den Lebensraum Wasser fast zum Kippen. Lebewesen im und am Fluss waren vom Aussterben bedroht.

Technische und gesellschaftliche Entwicklungen haben diese Situation entschärft: So sind nicht nur die Kläranlagen in den vergangenen Jahrzehnten sehr viel leistungsfähiger geworden. Auch die Menschen, einschließlich der Akteure in Verwaltung und Politik, wurden sehr viel sensibler für ökologische Belange.


Rainer Schilling ist Abteilungsleiter im Fachbereich Tiefbau und Grünflächen der Stadt Ludwigsburg. Nach der offiziellen Einweihung der Zugwiesen im Juni 2012 ist er in den wohlverdienten Ruhestand gegangen.

Peter Geitz ist Geschäftsführer des Stuttgarter Landschaftsarchitekturbüros "Geitz & Partner", das mit der Planung und Umsetzung der Ludwigsburger Neckarprojekte betraut ist.

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Landschaftsarchitekt, Geschäftsführer

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