Über Verlust, Kontinuität und Improvisation, Teil 1

Sarajevo auf der Suche nach einer euroorientalischen Urbanität

von:
Sarajevo Stadtentwicklung
Konturen der Verschränkung von Geschichte, Erinnerung und Gegenwart. Fotos: Dirk Manzke

Seit drei Jahren fahre und fliege ich konstant im Mai mit Studierenden nach Sarajevo. Seit drei Jahren erlaufe ich mit ihnen diese Stadt, immer wieder unter anderen Gesichtspunkten. Was dabei parallel zu den Erkundungen entsteht, gerade im gemeinsamen Beobachten, im Austausch und im Zuhören, ist eine Stadt in mir. Noch entwerfe ich sie mir, um dem möglichst nah zu kommen, worauf ich nicht vorbereitet bin.

Die Stadt erinnern

Noch, ja noch ist etwas von der alten, längst versunkenen Welt Sarajevos zu spüren, die aus einem sich allmählich entfernenden, verwehenden Glanz des Erinnerns und Erwartens entsteht. Es ist dies ein Erinnern, das nicht selten mit Verklärung einhergeht und doch unsere Muster von Herkunft, Einbindung und Zugehörigkeit anspricht. Allmählich aber überblenden die gegenwärtig eilig stattfindenden Selbstbausanierungen des Alltags, die glättenden Moderneschübe der letzten Jahre und neue Erwartungsmuster eines beinahe alles nivellierenden Massentourismus den Charme der von Landschaft, Patina und eigentümlicher Exotik durchdrungenen Atmosphäre der einst osmanisch grundierten, später monarchisch aufgeladenen und schließlich modernistisch konzipierten Stadt. "Mit fünfeinhalb Jahrhunderten ist Sarajevo noch ziemlich jung, obwohl es bereits zweimal am Rande des Grabes stand, am Ende des 17. und am Ende des 20. Jahrhunderts."1 Dieser "Kessel von Sarajevo war schon in neolithischer Zeit von Trägern der Butmir- und Vuc?edol-Kultur besiedelt. Aus dem Alter sind illyrische und römische Siedlungsspuren erhalten; im 7. Jahrhundert (war das Tal) zeitweilig von Goten bewohnt. Unter der 1262 erbauten Burg Bosnovar entstand ein 1415 erstmals bezeugter Ort, der 1463 unter türkischer Herrschaft fiel und 1507 als Bosna Saraj erwähnt wurde."2 Wer heute auf die Geschichte dieser Balkanregion schaut, dürfte mit etwas Distanz die wechselvollen Vorgänge auch als kulturelle Ergänzung Europas erkennen und betrachten. Doch mit dem Erinnern und also mit der Suche nach Sarajevo gehen komplexe Zusammenhänge und Konfliktlagen einher.

Den meisten dürfte die jüngere Geschichte gegenwärtiger sein. Diese hat die Stadt zu einem zwielichtigen Geschöpf werden lassen. Was als gern gepriesene Vielvölkerstadt Sarajevo im Wahn von Hinterhalt, Krieg und Vertreibung zwischen 1992 und 1995 versank, entsteht in den letzten Jahren als vorwiegend monokulturelle Stadt muslimischer Orientierung. Wie Ende 1995 im Dayton-Vertrag zwischen den Kriegsfronten und ihren offensichtlich hilflosen Vermittlern ausgemacht3, musste zur Erreichung eines neuen Balkanfriedens dem Separatismus und Nationalismus ein unrühmlich komplizierter Platz eingeräumt werden. So entstand ein misstrauisches Nebeneinander, dem der Krieg das Vertrauen und Vermögen zu Nachbarschaft und Nebeneinander auf lange Sicht entzogen haben könnte. Der heutige Frieden gründet aus den Ursachen des Krieges.

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Der Frieden von Dayton könnte eine Hilfskonstruktion auf Zeit sein. Ausschlag für diese Besorgnis gibt beinahe jedes Gespräch, das man in dieser Stadt führen kann, ausgelöst "nicht etwa durch eine den Krieg verursachte Abwesenheit von Erinnerungen und Erinnern, überdeckt wird im Gegenteil der politisch-ideologische Komplex einer wuchernd-chaotischen Anwesenheit von ´Erinnern` und ´Vergessen`…".4 Bei dem Wahrnehmen und Erleben Sarajevos sollten diese unterschwellig mitschwingenden Vorgänge nicht übersehen werden, denn wo sonst könnte man etwas lernen über die ambivalente Verschränkung von Geschichte, Erinnerung und Raum? Tatsächlich spürt man aus manchen Gesprächen, "dass das Sarajevo von heute in einem Kriegszustand lebt, der mit Bürokratie gestillt worden ist: drei Präsidenten gibt es in Bosnien, einen serbischen, einen bosnischen, einen kroatischen; man bekämpft sich, wo man kann."5

Die orientalische Stadt

Wer heute, einhundert Jahre nach dem Attentat von Sarajevo im Jahre 1914, das die Julikrise und die schwelenden Weltkonflikte zum ersten Weltkrieg auslöste, hier eintrifft, sucht das, was im Tourismusführer "Altstadt" genannt wird und doch missverständlich bleibt.6 Nach dem unerträglichen Flächenbrand der 1990er Jahre am Balkan, dem die Welt so hilflos zusah, entstand hier aus Ruß und Asche um den Bas?c?ars?ija-Platz wieder die wohl ungewöhnlichste Altstadt Europas, die Stari Grad, welche überwiegend aus Holz gebaut ist. Das von Gewalt durchtränkte 20. Jahrhundert schlug hier seine letzte tragische Schneise in die Erinnerungsgeschichte nicht nur Europas. Orientiert am alten, nicht nachweisbar nach Plan entstandenen, Stadtgrundriss ist inzwischen eine weitere Variation des traditionellen Sarajevo entstanden, die nur für den wahrnehmbar ist, der diese baulich noch jungen Jahre der alten, inzwischen wiedererrichteten Stadt auch an sich heranlässt.7

Wir wissen heute, dass vom Glanz der Stadt aus dem 16. Jahrhundert nur wenig erhalten ist. Dabei sind etwa die ehrbaren, schwermütig und geheimnisvoll anmutenden Moscheen, Mausoleen, Koranschulen oder ungenutzten Bäder bis heute steinerne Festpunkte geblieben, um die sich seit Jahrhunderten kleine Holzlauben, Marktstände, Buden, Kioske, Karawansereien und Unterstände der Händler und Handwerker zu einem überschaubaren Markt versammelt haben, der hierzulande gern als Basar bezeichnet wird. Dessen eigentliches Zentrum aber ist ein öffentlicher Brunnen, der Sebilj, der erstaunlich an einen Kiosk erinnert. Ja, es ist auch hier das Wasser, das Quell des Lebens ist und Ausgangspunkt der Stadtbegründung zwischen den dunklen Dinarischen Gebirgszügen. Markiert wird der Höhenzug hier durch die Berge Janorina und Trebevic? sowie Bjelas?nica und Igman, die am Fuße der Miljacka steil bis zu 2000 Meter aufsteigen. So klein die flächige Ausdehnung des berühmten innereuropäischen Marktes von Sarajevo auch sein mag, so vielfältig ist der Alltag im Raum dieses sichtbar ältesten Stadtteils. Hier versammelt sich noch immer und inzwischen wieder das tägliche Leben. Hier trifft zusammen, wer zwischen Vertrautem und Fremden, zwischen Bewohnern und Besuchern die Stadt aufsucht. Wo es nach Kaffee, Brot, Maiskolben und Cevapcici riecht, bekommt man eine Ahnung von dem, was Vertrautes ist und was das Fremde trägt. Etwa innerhalb der Fläche eines Quadratkilometers um diesen Markt herum ist die Nachbarschaft mehrerer Moscheen aus dem 15. Jahrhundert, einer orthodoxen Kirche, eines orthodoxen Klosters, einer katholischen Kathedrale aus dem 19. Jahrhundert und einer Synagoge aus dem 16. und aus dem 19. Jahrhundert markiert. Sarajevo liegt im Raum einer alten, unsichtbaren Trennlinie, die ausgelöst wurde durch das morgenländische Schisma von 1054 zwischen den orthodoxen Kirchen und der römisch-katholischen Kirche.8 Das Schisma folgt der römischen Reichsteilung von 395 und der Trennung in ein lateinisches Westrom unter Rom und einem griechischen Ostrom unter Konstantinopel. Hier überlagern sich innereuropäische historische Gravuren der monotheistischen Religionsräume und verschränken sich zu einem brisanten Gewebe lange funktionierender, geduldiger Korrespondenz zwischen Religion und Kultur. Die Region hält auch die osmanischen Eroberungen und nachfolgenden Entwicklungen durch gegenseitig entstehende Toleranzen lange ausgleichend aus. So gleicht stellvertretend die Region des Balkan und darin die Stadt Sarajevo einem auslotenden Schmelztiegel der Religionen und Kulturen, das erst mit der "Erfindung der Nation" im 19. Jahrhundert zu einem Hort vielschichtig angespannter Polarisation, aber auch würdevoller Verantwortung gerinnt.9 "Konflikte gab es, …, aber erst mit der Nationalisierung der Religion und Sakralisierung der Nation seit dem 19. Jahrhundert wurde ein explosives Modell der Abgrenzung in die Stadt getragen, das es in dieser Form vorher nicht gegeben hat."10 Daraus resultieren die bald unguten Gruppenbildungen im Zenit einer gemeinsamen Verortung, um sich vielfach und schließlich auch 1992 bis 1995 erschütternd zu entladen. Bis heute gleicht die Stadt äußerlich noch immer einem unverwechselbaren Mosaik von Sakralbauten, die jeweilige Religionen verkörpern. Doch es ist unklar, ob diese einst gelebte, räumliche Nähe zu einer Musealisierung führt oder zu einer neuen, veränderten Lebendigkeit finden kann, denn "Der Krieg hat unsichtbare Mauern errichtet, hinter denen die Stadt zu verkümmern droht."11

Die kaiserliche Stadt

In der historischen Abfolge ihrer additiv anmutenden räumlichen Epochengeschichte liest sich die Stadt beinahe sortiert bis in unsere Tage. Zunächst eröffnet sich der Reigen als osmanischer Orient in Europa im Osten der Stadt. Im 19. Jahrhundert dockt westlich der Okzident in Form der österreich-ungarischen Vielvölkermonarchie mit seinen imposanten städtebaulichen Impulsen an.

Die Kaisergeschichte der Stadt beginnt "… mit dem 19. August 1878, an dem österreichische Truppen in Sarajevo einfielen. Es ist die (zu oft übersehene) Vorgeschichte des Attentats" von 1914.12 In kürzester Zeit wechseln mit dem überformenden Maßstab die Bauaufgaben der Monarchen und damit die Raumbezüge und Materialien. Der Historismus bringt alle Variationen von Zitaten europäischer Architektur mit und entwickelt variationsreiche Geometrien orientalischer und maurischer Formzitate. Hier bildet sich auffallend deutlich der Versuch ab, das Erbe der frühen orientalischen Prägung mit dem Moderneschub der österreich-ungarischen Monarchie zu verbinden. Jetzt stehen zwei räumlich völlig verschiedene Städte nebeneinander, die ein einander duldendes Dasein fristen. Bis nach dem Zweiten Weltkrieg, das Königreich Jugoslawien wurde gegründet und verschwand, der kroatische und beinahe schon vergessene faschistische Ustascha-Staat sickerte unheilsam in die Stadt ein und ließ sich wieder beseitigen, scheint die Stadt in einer unruhigen und doch wechselvollen Bedeutungslosigkeit verschwunden zu sein. Zwischenzeitlich entstanden einige Impulse der klassisch motivierten Moderne, die Anschluss an die europäischen Entwicklungen versprachen. Doch erst mit dem zweiten, sozialistischen und später blockfreien, von der Sowjetunion distanzierten Jugoslawien unter Josip Broz Tito kommt wieder Bewegung in das Miljacka-Tal.

Die moderne Stadt

"Das Jahr 1962 war die Zeit der Wunder und Triumphe. Die ersten und wichtigsten Wunder waren Nylonmäntel und Transistorradios, echte Wunder der zeitgenössischen Welt, …".13 Mit harter, staatslenkender Hand entsteht wiederum weiter im Westen der Stari Gora und in der kaiserlichen Stadt ein herber, sozialistisch inspirierter Modernismus, der die einstige Beschaulichkeit Sarajevos bis ins hochgeschossige Bauen typologischer Massenhaftigkeit treibt. Die offensive Industrialisierung befördert eine enorme Bevölkerungszunahme und legitimierte vorläufig die ungebremste Stadterweiterung. Das dabei der innere Konsens, die eigens durchlebte Sinnerfahrung der Stadt in religiöser, kultureller und vorläufig auch nationaler Hinsicht neutralisiert wurde, schob die explosiven Konflikte nur auf, ohne sich ihnen zu stellen. Zunächst befreite die Funktionalismus-Euphorie die Auseinandersetzung um Identität und Identifikation. Die zurückgelassene Stadt der Sarajevo-Moderne wurde ein konsequentes industriemodernes Konstrukt zwischen Technik, Serie und Effizienz.

In resoluter Großtafelbauweise entstanden weiträumige Blockquartiere als Massenwohnungsbau, die der Idee kollektiver Gleichheit folgten. "Die Schule war nicht ganz so modern wie der Kindergarten, aber immer noch sehr modern. Sie war größer. Grauer und weniger freundlich. Fünf aneinandergereihte hellgraue Schachteln. Ein sozialistischer Traum der Modernität und Nützlichkeit."14 Die einheitlich wirkenden Satellitenstädte erscheinen heute als abgehängte Eigenwelten, die gegenwärtig erheblich nachgerüstet werden etwa mit Infrastruktur, Sozialeinrichtungen, Räumen für Handel und für religiöse Betätigung.

Nacheinander lassen sie sich ablaufen, diese drei Stadtsphären, in denen drei Geschichtsbilder, drei Visionen von Gesellschaft aufgehoben sind. Sie bilden ein an Dissonanz reiches Stadtraumtrio vom bedachten Legato über ein elegantes Moderato bis zu einem zitternden Staccato. Dabei ist eine gegenwärtig spröde anmutende Stadt entstanden, die räumlich zusammengehalten wird einmal durch die Ende des 19. Jahrhunderts begradigte Miljacka, diesem Flüsschen, das von Mineralien oft rötlich-braun gefärbtes Wasser führt und weiterhin durch die umliegenden, so friedlich anmutenden, grünen Berghänge, deren täuschende Ruhe sich von hysterisch aufgestachelten Militärs in der brutalen Totalblockade der Stadt in den 1990er Jahren entlud.

Die Stadtfugen

Zwischen diesen drei Stadtmodellen lassen sich deutlich trennende, beinahe schroffe Stadtfugen aufspüren, die sich im öffentlichen Raum geradezu unübersehbar abzeichnen. Hier werden einander oszillierende Übergänge von Zeit und Raum sichtbar, von Epochenverschränkung und Raumdistanz. Hier wird Geschichte räumlich lesbar und der enorme Wechsel der Atmosphären setzt sich von den hölzernen Kaffeebuden über die steinernen Nobelrestaurants im Wiener Etablissement bis in die in einigen Erdgeschossen betonierter Plattenbauten eingefügten Ladenlokale fort. "Es ist ein Spiel mit Identitäten, das hier zur Überlebensstrategie gehört…".15 Eine der Fugen sitzt zwischen einem ehemaligen orientalischem Saunabad, das heute einen Schmuckmarkt beherbergt und dem eleganten Hotel Europa, einst errichtet von den Habsburger Donau-Monarchen und ihren Architekten. Eine weitere Stadtfuge lässt sich westlich hinter der Kirche St. Joseph ausmachen. Im Umfeld des neuen, austauschbaren Alta-Shopping Centers, dem gegenüberliegenden straffen Parlamentsgebäude von Bosnien und Herzegowina sowie dem heute so benannten Hotel Holiday Inn, einen kompositionsstarken Hotelkoloss des Tito-Sozialismus, ist ein weiterer, nicht zu übersehener Charakterwechsel der Stadt ablesbar. An diesen Stadtfugen zeigen sich einander abgegrenzte Schnittmengen des Stadtraums, wie sie klarer kaum sein könnten. Es scheint, als würde die Stadt dreimal gegründet, wenigstens aber mehrfach erfunden worden sein.

Teil II erscheint in Heft 12-2014

Anmerkungen

1 Sundhaussen, Holm: Sarajevo. Geschichte einer Stadt; Wien 2014, S.9.

2 Brockhaus, Band 19; Mannheim 1992, S.188.

3 Husanovic?, Jasmina: "In den Zwischenräumen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Praktiken der Querverbindungen …", in: Sprung in die Stadt; Köln 2006.

4 Sundhaussen, Holm: Sarajevo. Geschichte einer Stadt; Wien 2014, S. 341.

5 Kümmel, Peter: Sarajevo, später; in: Die Zeit, 8.Mai 2014; S. 53.

6 Vgl. Canfora, Luciano: August 1914 oder: Macht man Krieg wegen eines Attentats?; Köln 2010.

7 Sundhaussen, Holm: Sarajevo. Geschichte einer Stadt; Wien 2014, S.44.

8 de.wikipedia.org/wiki/Morgenl%C3%A4ndisches_Schisma (Aufruf: 22.9.2014).

9 Vgl. Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation; Campus 1988.

10 Sundhaussen, Holm: Sarajevo. Geschichte einer Stadt; Wien 2014, S. 363.

11 Burger, Jörg: Heimatfront, in: Zeit-Magazin, 29.3.2012, S.33.

12 Kümmel, Peter: Sarajevo, später; in: Die Zeit, 8.Mai 2014; S. 53.

13 Karahasan, Dzevad: Berichte aus der dunklen Welt; Frankfurt am Main und Leipzig, 2007, S.57.

14 Tajder, Ana: Titoland. Eine gleichere Kindheit; Wien, 2012.

15 Die Welt, 28.12.2013.

Autor

Professor für Städtebau und Freiraumplanung

Hochschule Osnabrück

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