Die ehemalige VEB-Arbeiterin Hildegard Hantke wurde 90

Älteste Gärtnerin vom Tempelhofer Feld

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Abb. 1: Die 90-jährige Hildegard Hantke erklärt Studierenden den Kompost. Foto: Elisabeth Meyer-Renschhausen
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Die sozusagen dienstälteste Gemeinschaftsgärtnerin vom Tempelhofer Feld wohnt in den Nachkriegsbauten der 1950er-Jahre direkt am Feld. Ihre Straße, die Kienitzer Straße, mündet in die auffällige Freitreppe, die in den ehemaligen Sportpark Neukölln führte. In diesem Park - bereits vor dem Ersten Weltkrieg geplant - sollte und konnte die Bevölkerung Neuköllns in den 1920er-Jahren sich mittels Sport und Spiel erholen. Bis die Alliierten den Sportpark bald nach Ende des Zweiten Weltkriegs kassierten, weil die Landebahn für die Größe der "Rosinenbomber" zu kurz war. Zu kurz für jene Flugzeuge, deren Fracht von Reis über Rosinen bis hin zu Kohle den Westberlinern durch die Blockade von 1947/1948 half. Diese heute etwas deplatziert wirkende Freitreppe mündet in die Weite des Tempelhofer Feldes, in das sich der ehemalige Flugplatz zurückverwandelt hat. Am Rande der neuen Freifläche, die die Senatsverwaltung als Park versteht und mittels eines Kreises von ehrenamtlichen Koordinatoren bürgernah zu planen sucht, blühen drei große Gemeinschaftsgärten. Der Gemeinschaftsgarten Allmende-Kontor, der Schillerkiez- und der Rübezahl-Garten.

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Abb. 2: Hildegard Hantke erklärt, wo es lang geht. Foto: Volker Hegmann
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Abb. 3: Rittersporn und Kornblumen im Gemeinschaftsgarten – auf dem Tempelhofer Feld gedeihen sie gut. Foto: Elisabeth Meyer-Renschhausen

Die heute 90-jährige Hildegard Hantke teilt im Allmende-Kontor ein Beet mit einer Nachbarin. Sie ist eine kleine Person, die im Sommer gerne ein Tuch im Haar trägt und mit jedem ins Gespräch kommen kann. Ihr Hauptverdienst besteht darin, den rauen Kerlen vom Schillerkiez, die sich über ihren Gemeinschaftsgarten auf dem Tempelhofer Feld zu hingebungsvollen Gärtnern mauserten, das Kompostieren beigebracht zu haben. Hildegard Hantke kommt vom Land und hatte dort natürlich immer auch einen Garten. Sie arbeitete bis zur Wende in einem volkseigenen Betrieb in der Uckermark. Seit 2012 ist sie in den 2011 gegründeten Gemeinschaftsgärten auf dem Tempelhofer Feld aktiv. Das Tempelhofer Feld wurde im Mai 2010 den Berlinern als offene Freifläche zugänglich gemacht. Seit April 2011 durften sich sogenannte Pionierprojekte von Bürgerinitiativen unter Beweis stellen. Die drei Gemeinschaftsgärten im östlichen Neuköllner Teil des Tempelhofer Felds wurden schnell zu den absoluten Highlights unter den Projekten. Die Gemeinschaftsgärten ersticken fast im steten Besucherandrang aus dem In- und Ausland. Uneingezäunt verschaffen die in Kisten angelegten Beete eine fantasieanregende Gartenlandschaft, die Kleinkinder ebenso wie Senioren lieben. Zumal an vielen der Kastenbeeten angebaute Sitzbänke zum Verweilen einladen.

Als wir im Frühjahr vor zwei, drei Jahren mit einigen Allmende-Gärtnerinnen (eine gute Mehrheit ist weiblich) das Gemeinschaftsbeet namens "Getreidekringel" neu anzulegen versuchten, ermittelten wir Scherzes halber einmal das Durchschnittsalter. Es lag bei 74. So erfuhren wir erstmals von Hildegards tapferem Alter. Verständlich also, dass sie von vielen Gärtnern bis heute respektvoll mit "Frau Hantke" angesprochen wird. Ansonsten ist es in den Gemeinschafts-Gärten auf dem Tempelhofer Feld so wie überall: Die Älteren, die durch eine (in Neukölln meistens bescheidene) Rente abgesichert sind und nicht mehr berufstätig sein müssen, übernehmen einen Löwenanteil der praktischen Arbeiten. Sie pflegen die gemeinsamen Heckenbeete, übernehmen den Bewässerungsdienst oder helfen ihren jüngeren Beetnachbarn mit dem Gießen und Unkrautjäten aus.

Durch mein Interesse an ihrer agrarkulturellen Vorbildung lud mich Hildegard bald ein, sie auch einmal in ihrer Wohnung zu besuchen und ich bestaunte Vogelhäuschen, eine stattliche Bücherwand sowie Sammlungen: Weidenkörbe nebst Hirsch-Geweihen, letzteres Geschenk eines Nachbarn. Im Sommer wird es ihr in der Wohnung aber schnell zu eng, dann muss sie wieder los und aufs Tempelhofer Feld in die Allmende-Gärten. "Die Gärten haben mir das Leben gerettet" gestand sie mir einmal, denn eigentlich habe sie nach dem Tod ihres Mannes gar nicht mehr leben wollen. "Aber dann habe ich die Gemeinschaftsgärten entdeckt" und sie begann sich nützlich zu machen.

Im Schillerkiez-Garten zeigte Hildegard Hantke den Initiatoren - eine Arbeitslosen-Initiative, die als Beratungsstelle und Kieztreff eine Kneipe betrieb - die Kunst der Kompostierung. Denn bisher hatten sie da in Hildegards Augen "nur Chaos" gemacht. Bei schönem Wetter geht sie jeden Tag hin. "Dann quatsche ich mit allen." Da sie die ersten Jahre fast täglich da war, wurde sie unversehens zur Interviewpartnerin bei spontanen Befragungen. Die Studenten himmelten sie geradezu an, so entzückt waren sie von der geradeheraus ihre Meinung sagenden älteren Dame, die oft morgens den Unrat auflas, den gedankenlose Touristen und Besucher in den Gärten hinterlassen hatten und anderntags die große Freitreppe fegte, die das Bezirksamt ignorierte. Seit zwei Jahren macht sie das kaum noch: Knie und Rücken schmerzen zunehmend und der Hausarzt meint, er könne nun nichts mehr für sie tun. Nun hilft sie sich mit Naturheilmitteln. Woher hat Hildegard Hantke ihren so beeindruckenden Lebensmut und ihren Tatendrang?

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Abb. 4: Sommerfest unter der Tanzlinde im Allmende-Kontor. Foto: Elisabeth Meyer-Renschhausen

In die Wiege gelegt war ihr wenig. Denn als Hildegard geboren wurde, war die Mutter völlig verzweifelt, weil ihr Verlobter in den Krisentagen der Weltwirtschaftskrise verschwunden war. Deshalb legte sie das Neugeborene nachts unter einen Strauch. Das war im Herbst 1929 auf dem Bahnhof in Dippoldiswalde im östlichen Erzgebirge in Sachsen. "Ich hätte erfrieren können". Aber der Säugling wurde gefunden und kam in ein Waisenheim. Später kam Hildegard zu Pflegeeltern nach Pirna. Und bei diesen Pflege-Eltern ging es ihr gut, das waren freundliche Leute. "Mein Pflegevater hat mir sogar einen Holzkindertisch gebaut." Auf dem Heimweg von der Schule aber wurde sie gehänselt: "Du kennst noch nicht einmal deine richtigen Eltern." Zuflucht fand sie bei den Büchern. Zu Hause gab es zwar nur die Bibel, aber sie besorgte sich "Heidi" und all die anderen eben entstehenden Kinder- und Jugendbuchliteratur aus der Leihbibliothek.

Als Leseratte, wie man damals sagte, wäre Hildegard gerne zu einer weiterführenden Schule gegangen. "Muttel, bloß noch ein Jahr!", bat sie weinend die Pflegemutter. Doch die konnte den Schulbesuch nicht mehr finanzieren, da der Pflegevater leider früh an Tuberkulose gestorben war. Als Handwerker, er war ein Zimmermann, hatte er Frau und Kind nichts hinterlassen können. Die Mutter verdiente ihren Unterhalt mühselig als Wäscherin und schickte Hildegard in eine staatliche Hauswirtschaftsschule. Nach Schulabschluss arbeitete die Jugendliche zwei Jahre als Köchin auf einem Dampfer der sächsisch-böhmischen Dampfschiffgesellschaft. Da lernte sie die Männerwelt von einer Seite kennen, die dazu führte, dass sie niemals mit einem Mann zu tun haben wollte. "Die Matrosen auf dem Schiff hatten in jeder Stadt eine. Und verheiratet waren sie auch." Immerhin schaffte sie es, respektiert zu werden, sie wurde nie angerührt, zumal davon überzeugt: "Ich werde nicht heiraten."

Nach dem Schiff arbeitete sie bei einem Landwirt. Dann wechselte sie in ein volkseigenes Gut in Sachsen: Der Stundenlohn war zwar schlechter als bei der "weißen Flotte", aber es gab regelmäßige Arbeitszeiten und Urlaub. "45 Pfennig haben wir bekommen, die Männer 50." Dort lernte sie ihren Mann kennen. Er war sieben Jahre älter, las wie sie gerne und viel und hegte wie sie auch eine gewisse Leidenschaft für das Reisen. Angesichts dieses redlichen Pauls änderte sie ihre Meinung und wurde zu Frau Hantke. Mitte der 1960er-Jahre gingen sie und ihr Mann von Sachsen auf ein volkseigenes Gut im Norden von Prenzlau in der Uckermark. Eigentlich nur deshalb, weil sie dort eine größere Wohnung bekommen konnten, die in Sachsen einfach nicht zu bekommen war, sie hatten ja bereits zwei kleine Kinder. Zwar waren die Löhne in der Uckermark niedriger als in Sachsen, aber sie durften Tiere halten - sie hatten zwei Schweine. Einen Garten hatten hier die meisten sowieso. Hildegard Hantke übernahm den Kompost, ihr Mann kümmerte sich um den Rest. Doch so einfach war das mit dem ordentlichen Kompost nun auch wieder nicht. "Die Amseln zogen immer die Würmer raus und machten Chaos."

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Abb. 5: Hildegard Hantke teilt sich ihr Beet mit Nachbarin Katol. Foto: Elisabeth Meyer-Renschhausen

Die Arbeit in so einem Volkseigenen Betrieb war nicht immer schön. "Im Osten war immer ein Druck", erinnert sie sich, zumal sie sich - wie auch ihr Mann - niemals hat völlig anpassen können. Einmal stand sie auf dem Acker mit 30 Frauen zur Rübenernte. Es war 7.00 Uhr morgens, sie warteten stundenlang, dass die Männer Geräte und Sammelkörbe brachten. Doch die Männer mit den Treckern kamen nicht, sie hatten den Abend vorher getrunken. Hildegard beschwerte sich. "Das geht doch nicht". Aber das war unerwünscht." Was danach passiert ist, erzählt sie zunächst nicht. Später gesteht sie mir dann doch, dass ihnen viele bereits geplante und bezahlte Reisen untersagt und in letzter Minute nicht genehmigt wurden. Egal ob zum Wandern in die Berge oder an den Strand in Bulgarien. Schlimmer aber war, dass ihrer Tochter die Repressionen, deren die Eltern ausgesetzt waren, weitaus schlimmer zu setzte.

Als die Tochter später als junge Frau in der Nähmaschinenreparatur in Cottbus arbeitete, beantragte sie die Ausreise in den Westen. Und zwar sogar zwei Mal - vergeblich. "Lass das", hatte ihr die Mutter empfohlen. Aber die Tochter blieb stur. Auf einem Messemarkt in Leipzig verteilte sie Flugblätter, wurde auf dem Rückweg im Zug verhaftet und zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Sie kam ins Gefängnis für politische Gefangene nach Hoheneck. Nach anderthalb Jahren wurde sie in einem Bus voller Mitgefangener über die Grenze nach Westberlin abgeschoben. Was auf den Flugblättern stand, weiß die Mutter bis heute nicht. "Was im Gefängnis geschehen ist, ist tabu. Wir haben nie drüber gesprochen."

Als 1989 die Mauer fiel, war Hildegard Handke 60 Jahre alt. Sie wurde, wie die meisten der LPG-Genossen und Mitarbeiter der Volkseigenen Betriebe (VEB) der DDR frühverrentet. Nach 36 Arbeitsjahren und dem Aufziehen von zwei Kindern bekam sie eine schmale Rente von 345 Mark", sagt sie. "So eine Ungerechtigkeit gegenüber so einer Lebensarbeitsleistung!" Dazu kam, dass nach der Wende auf dem Land alles abgewickelt wurde und die Leute weggingen. Es machte keinen Spaß mehr dort zu leben. Zumal ihr Haus abgerissen wurde und sie in eines ziehen sollte, wo die ehemaligen LPG-Chefs wohnten, die sie immer drangsalierten.

"Der DDR habe ich keine Träne nach geweint", erklärt sie entschieden und sie beschlossen nach Berlin zu ziehen, wo die Tochter wohnte. Als fast die einzigen, die zu DDR-Zeiten auch mal den Mund aufgemacht hatten, waren sie in ihren Ort nicht wohl gelitten. Sie wurden, wie man heute sagt, "gemobbt". Noch heute bekommt sie manchmal Anwandlungen von Ängsten und kann dann selbst ihren freundlichsten Nachbarinnen kaum noch die Tür aufmachen, wenn sie sich daran zurück erinnert. Erst 2008 klappte es, sie bekamen die kleine Wohnung im Schillerkiez, einem armen Viertel mit hohem Ausländer- und Arbeitslosenanteil in Neukölln. Denn der Fluglärm des erst 2008 endgültig stillgelegten Flughafens hatte aus dem einstigen Arbeiter-Quartier ein "Problemviertel" gemacht, in dem bis zu diesem Jahr keiner wohnen wollte.

Der Sohn blieb in Prenzlau. Dorthin zurück will Hildegard aber sicher nicht, sie findet das Stadtleben mittlerweile prima. Sie legte sich Bücher zu und machte mit ihrem Paul Reisen in die Alpen, nach Italien, Tunesien, Mallorca. "Das Landleben vermisse ich nicht ein bisschen" sagt sie und greift nach ihrem Stock, um erneut runter aufs Feld, in die Allmende-Gärten zu gehen. Mit der Rente, die mittlerweile bei 700 Euro liegt, wozu noch 400 Euro Witwenrente dazu kommen, habe sie gelernt, klarzukommen. "Ich kann nicht in die Oper, aber mir geht es gut."

Als in ihrem Schillerkiezgarten der Ton durch einige ruppige Männer rauer wurde, wechselte sie in den Gemeinschaftsgarten Allmende-Kontor: Dort half sie ihrer Nachbarin aus Afghanistan, das Beet zu pflegen. Gerne schäkert sie mit der anderen Beetnachbarin, die zusammen mit ihrem Kleinkind den Garten regelmäßig besucht. Heute kennt sie die meisten der vielen älteren und jüngeren Menschen, die mit ihren Kleinkindern häufig in die Gemeinschaftsgärten kommen. Als sie im Jahr 2019 90 wurde, hätten fünf junge Paare Babys bekommen erzählt sie. Und nach altem Brauch haben sie ihnen allen eine kleine Gabe zum Familienaufbau geschenkt. "Die haben sich so gefreut".

Während die ersten Gartenpioniere im Dauerstress, ihre Gartenprojekte gegenüber dem Hin und Her von Politik und Verwaltung verteidigen zu müssen, wohl nicht gleich verstanden, was für ein Schatz so eine alt erfahrene Gärtnerin für einen Gemeinschaftsgarten ist, ist das heute anders. Zu ihrem 90sten bekam sie eine Serie von selbst gezeichneten Porträts: Hildegard beim Buddeln, Hildegard am Kompost, Hildegard beim allmorgendlichen Papiereinsammeln, Hildegard beim Fegen der großen Freitreppe, Hildegard beim Gartenplausch.

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Abb. 6: Die Allmendegärten liegen am Ostrand des Tempelhofer Feldes. Foto: Elisabeth Meyer-Renschhausen


So können Gemeinschaftsgärten helfen, den Tod von lieben Angehörigen zu verkraften und schenken den Gartengemeinschaften zugleich damit auch mal vorbildliche Menschen mit Sinn zu viel gemeinnütziger Arbeit. Daher ist verständlich, dass innerhalb der "Szene" der Berliner Gartenaktivisten wenig Verständnis besteht, wenn diese sozialintegrativen Gemeinschaftsgärten, die derartig zwischen Jungen und Alten wie übrigens auch In- und Ausländern zu vermitteln verstehen, eventuellen "Randbebauungsplänen" zu Opfer fallen sollen. Denn die Gründergruppen einschließlich ihrer zentralen Helfer wie Hildegard Hantke, werden derartige Allmende-Gärten sicher nicht noch einmal schaffen können.

Dr. Elisabeth Meyer-Renschhausen
Autorin

Freie Journalistin, Berlin

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