An den Rändern der Städte

von: ,
Stadtentwicklung
Robuste Wegesysteme als neue Struktur extensiv genutzter Stadtränder in Berlin- Schönefeld. Gestaltung bgmr. Foto: Thomas Rosenthal

Im Gegensatz zu den breiten Diskussionsprozessen der Innenentwicklung wurde die Peripherie meist stiefmütterlich behandelt. In Anbetracht zunehmender Urbanisierungsprozesse aber auch anhaltender Schrumpfungstendenzen spielen die Stadtränder als Lebens- und Arbeitsraum aber auch als Potenzialraum für neue experimentelle Stadtnutzungen eine wichtige Rolle. Nach welchen Leitbildern und mit welchen Strategien können die urbanen Ränder zukünftig weiterentwickelt werden?

Mit der Leipzig Charta wurden die Ziele für die Innenstädte klar definiert. Das Baugesetzbuch fordert die Innenentwicklung. Für die Innenstadt wurde 2010 das Weißbuch Innenstadt "Starke Zentren für unsere Städte und Gemeinden" vom Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung vorgelegt und eine breite Diskussion angeschoben. Ein Leitbild für die Innenstädte liegt vor, auch wenn die Umsetzung nicht immer ganz einfach ist. Für die Peripherien hingegen mangelt es an vergleichbaren Leitbildprozessen.

SUG-Stellenmarkt

Relevante Stellenangebote
Landschaftsarchitekt/-in (w/m/d), Wiesbaden  ansehen
Alle Stellenangebote ansehen
Stadtentwicklung
Wegenetz und sparsame Rauminterventionen: Das Naherholungsgebiet Rubbenbruch in Osnabrück aus den 70er-Jahren. Foto: Carlo Becker, bgmr
Stadtentwicklung
Akkupunkturen: Ein Belvedere inszeniert die Aussicht auf die Stadt auf dem Mount Hiriya, Teil des neuen Ariel-Sharon-Parks in Tel Aviv. Gestaltung Latz und Partner. Foto: Lena Flamm

Die Ränder der Städte sind heterogen und hybrid. Meist weder Stadt noch Landschaft, stellen sie ein kaum greifbares Konglomerat von ausgelagerten Stadtfunktionen wie Versorgungsinfrastrukturen, Gewerbe- und Logistikeinheiten, Wohnmonostrukturen und Versatzstücken der historischen Kulturlandschaft dar. In schrumpfenden Städten bestimmt die Vielfalt an Brachen das Bild, in den wachsenden Städten ein Patchwork an Stadtfragmenten, vielmehr ein Nebeneinander denn ein Miteinander. Während für die Kernstädte eine Freiraumkultur mit öffentlichen Parks, Stadtplätzen sowie Promenaden entlang der Flüsse entwickelt und somit ein Grundgerüst an öffentlichen Räumen geschaffen wurde, fehlen übergeordnete Raumgerüste an den Stadträndern meist gänzlich.

Es bedarf für diese Räume neuer Ideen und Prozesse für die Inwertsetzung, die weder mit dem klassischen Repertoire von Städtebau und Freiraumgestaltung noch von Land- und Forstwirtschaft beantwortet werden können. Es stellt sich die Frage, wie für diese Hybridräume neue Bilder entstehen können, um Zukunftsperspektiven für mehrdimensionale urbane Kulturlandschaften zu eröffnen.

Die Bändigung des Verkehrs, die Überwindung der Weiten, die Neuprogrammierung großmaßstäblicher Zwischen- und Resträume sowie die Nutzbarmachung der Randlandschaften für die Stadtgesellschaft sind Zukunftsaufgaben der Stadtentwicklung, die auf gesamtstädtischer, freiräumlicher und sozialer Ebene gedacht werden sollten. Fünf Strategien könnten helfen, die urbanen Ränder aus dem Freiraum heraus zu qualifizieren. Dies kann nur unter Berücksichtigung und qualitätsvollen Nutzbarmachung der ganz eigenen Gesetzmäßigkeiten dieses Planungsraumes geschehen.

Stadtentwicklung
Strategie 1: Die Eigenlogik der Ränder verstehen und nutzen. Grafiken: Lena Flamm
Stadtentwicklung
Strategie 2: Barrieren abbauen - Wegenetze als Grundgerüst der Peripherie ausbauen.
Stadtentwicklung
Strategie 3: Anker sichern, neue Akkupunkturen sparsam setzen.

Strategie 1: Die Eigenlogik der Ränder verstehen und nutzen

Wesentliche Merkmale der Ränder liegen in dem autistischen, selbstreferentiellen Charakter der einzelnen Einheiten. Räumliche Korrespondenzen zwischen Stadtstrukturen, welche aus der "Anhäufung von Einzelentscheidungen" (Sieverts 2004) entstanden sind, sucht man meist vergeblich. Die Peripherie ist ein Raum der Ungleichzeitigkeit: Dorfstrukturen, alte Kulturlandschaften, Obstwiesen, Einfamilienhausgebiete, Gewerbegebiete, Einkaufcenter liegen nebeneinander. Statt Kontinuitäten findet man Brüche: Da liegt der Produktionsbetrieb neben dem Naturschutzgebiet hinter einem Gehölzgürtel von der Großwohnsiedlung abgeschirmt, begleitet von Stromfreileitungen oder großen Ausfallstraßen. Eine wenig lesbare Struktur erschwert die Schaffung von nutzbaren und wahrnehmbaren Stadträumen.

Erschließbar und fassbar ist die urbane Peripherie erst durch das Auto. Die peripheren Landschaften strukturieren sich durch ein Netz aus Autobahnen, Bundestraßen und lokalen Straßen. Der Modal Split bildet diese Autoorientierung deutlich ab. In den Innenstädten steigt der Fuß- und Radverkehr stetig, an der Peripherie dünnt sich der öffentliche Nahverkehr aus. Das Auto bleibt das beherrschende Verkehrsmittel. Der öffentliche Raum ist in der Peripherie nicht der Marktplatz, sondern der Parkplatz.

Das Gestaltungshandbuch für die A 40/B 1 im Ruhrgebiet von Orange Edge und Davids | Terfrüchte + Partner zeigt in diesem Kontext auf, wie die Schönheit der großen Straße erlebbar wird. Infrastruktur wird nicht mehr versteckt, sondern als zentrales Gestaltungsthema weitergedacht. Die essentielle Aufgabe liegt darin, die Eigenlogiken der Ränder zu verstehen, um auf dieser Grundlage passgenaue Qualifizierungsansätze zu entwickeln.

Strategie 2: Barrieren abbauen - Wegenetze als Grundgerüst der Peripherie ausbauen

Eine Schlüsselstrategie besteht im Abbau von Barrieren. Ein lesbares Grundgerüst des öffentlichen Raumes gibt Orientierung, alltäglich nutzbare Wegeverbindungen schaffen Lebensqualität. Bisher voneinander unabhängige Systeme müssen aufeinander bezogen, bestehende Netze verknüpft werden. Monofunktionale Verkehrsräume sollten für Autos, Fußgänger und Fahrradfahrer nutzbarer und einladender gestaltet werden. Aber nicht nur die Alltagsnetze, sondern auch die Freizeitwege für Fußgänger, Radfahrer, Reiter oder Inliner tragen dazu bei, das Grundgerüst der Peripherie zu stärken. Die Fortbewegung als Strukturgeber des Raumes wird beibehalten, die Geschwindigkeiten und somit auch der Raum werden verlangsamt. Das Grundgerüst des Raumes wird mehrdimensional nutzbar.

Für den Bau des Flughafens BER Berlin-Schönefeld wurden umfangreiche Ausgleichsmaßnahmen für Eingriffe in Natur und Landschaft am Stadtrand von Berlin durchgeführt. Nach Plänen von bgmr Landschaftsarchitekten wurde das Stationenkonzept "Kultivierte Wildnis" entwickelt. Die Ausgleichslandschaft, die mit Wildpferden und -rindern gepflegt wird, zeichnet sich durch ein robustes Wegesystem aus, das sehr sparsam an bestimmten Orten Akkupunkturen zum Verweilen und Schauen anbietet. Die Wildpferde und -rinder sind Teil des Pflegekonzeptes, die diesen Raum am Rand von Berlin aufwerten.

Stadtentwicklung
Die Peripherie mit neuen Augen erkunden:Das B_Tour-Festival für künstlerische Stadtführungen unterwegs in Berlin-Marzahn. Foto: Lena Flamm
Stadtentwicklung
Alte und neue Raumtaktiken aktivieren den Stadtrand als urbanen Lebensraum. Grafik: Lena Flamm
Stadtentwicklung
Grüne Infrastrukturen: Der Müllberg Mount Hiriya wird in eine neue Naherholungslandschaft für den Großraum Tel Aviv umcodiert. Gestaltung Latz und Partner. Foto: Lena Flamm

Strategie 3: Anker sichern, neue Akkupunkturen sparsam setzen

Die namenlosen Ränder benötigen Anker der Identität, welche den Raumbezug ermöglichen. Das noch erkennbare Dorf, das Sichtfenster in die Landschaft, die Topografie, die Laubfärbung im Herbst, der Verweilort unter einem alten Schattenbaum könnten dies sein. Aber auch Neuinterpretationen wie der Kreisverkehr, die neue Fußgängerbrücke über die Autobahn oder der Park & Ride Parkplatz können als neue Akkupunkturen Orte markieren. Sie verorten den Nutzer im Raum, geben Orten eine Namen und legen landschaftliche Qualitäten frei.

Die Konzepte für Naherholungsgebiete der 1970er- und 80er-Jahre bauen auf dieser Logik der guten Wegenetze auf, die besondere Räume in Beziehung setzen. Die gesetzten Akkupunkturen bieten Möglichkeiten der aktiven oder kontemplativen Raumaneignung.

Das Naherholungsgebiet Rubbenbruch bei Osnabrück, das seit den 70er Jahren angelegt wurde, arbeitet nach diesen Prinzipien. Die vorhandene Landschaft wird als Kulisse durch ein gut ausgebautes Wegenetz inszeniert. Mit wenigen zusätzlichen Akkupunkturen wie Grill- und Spielplätze oder exponierten Aussichtspunkten werden Orte der Aneignung geschaffen.

Strategie 4: Raumaneignung und Raumtaktiken ermöglichen

Erst die soziale Interaktion macht den Raum zum Ort des Lebens. Um die Ränder zu aktivieren, werden Raumtaktiken notwendig, die Benutzung und Aneignung ermöglichen und animieren. Wanderwege, Hundeauslauf, Radwege, Joggingwege stellen mit ihren Kulissenräumen das Grundgerüst dar. Landwirtschaft, Wald, Kleingärten, Siedlungsgebiete, Naturräume, und besondere Aussichtspunkte als integrale Bestandteile der Peripherie werden erlebbar.

Die Konzepte der 70er-Jahre für die Naherholung werden heute durch neue Formen der Raumaneignung wie Geocashing, Crossgolf, Urban Foraging, SpeedSkating oder Parcourrunning ergänzt. Diese Nutzergruppen haben die Ränder als Bewegungsraum entdeckt und entwickeln immer neue Taktiken, um sich den Raum anzueignen.

Im Kontext der Kulturhauptstadt Ruhr wurde beispielsweise unter dem Motto "Land for free" eine Brache für Raumpioniere unentgeltlich zur Nutzung zur Verfügung gestellt. In dem temporären, künstlerischen Projekt versammelten sich ganz unterschiedliche Nutzungen - von einer Radiostation bis hin zu Schafherden in einem Prozess der Raumentwicklung von Unten. Die Bereitstellung von Brachen für experimentelle Aneignungen stellt eine Möglichkeit dar, um ungenutzte Flächen für die Stadtbevölkerung zugänglich zu machen.

Aber auch neue Formen der Stadterkundung können die Wahrnehmung und damit auch die Nutzung der Stadtränder befördern. Das B_Tours-Festival für künstlerische Stadtführungen widmete sich in diesem Jahr ausschließlich dem Thema Peripherie. In zahlreichen, ganz unterschiedlichen Routen konnten die Teilnehmer die Peripherie Berlins und Leipzigs aus neuen Perspektiven entdecken. Sensitive und spielerische Ansätze, die sich damit beschäftigen, wie die Peripherie sich anfühlt, riecht, schmeckt und welche Geschichten sich hier verbergen, schaffen in der Tradition der Situationisten neue Bewegungs- und Aneignungsmuster.

Stadtentwicklung
Räumliche Synthese der fünf Strategien.
Stadtentwicklung
Strategie 4: Raumaneignung und Raumtaktiken ermöglichen.
Stadtentwicklung
Strategie 5: die Ränder als grüne Infrastruktur nutzen.

Strategie 5: Die Ränder als grüne Infrastruktur nutzen

Die Ränder der Städte sind nicht nur Transitraum, Konsum-, Arbeits- und Wohnort oder Naherholungsraum, sie stellen auch eine potenzielle grüne Infrastruktur dar. Am Stadtrand wird das Grundwasser angereichert, das Regenwasser zurückgehalten und über die Verdunstung zur Kühlung der überhitzten Städte beigetragen. In urbanen Wäldern wird CO gespeichert. Biomasse wird als nachwachsender Rohstoff produziert. Ränder können auch der Ernährung der Städter dienen, ob im sozialen Kontext des Urban Gardenings oder durch die Direktvermarktung regionaler Produkte. Stadtränder bieten das Potenzial, ökologische Dienstleistungen, landwirtschaftliche Produkte und Nahrungssouveränität im urbanen Raum anzusiedeln. Darüber hinaus bieten sie Service für die Städter wie Reiten und Selbstpflücken an. Mit ihren Naturraumpotenzialen sind die Peripherien wichtige Orte der Biodiversität, sie tragen zur Entschleunigung in der wachsenden Stadt bei.

An den Rändern besteht aber noch ein weiteres, bisher wenig genutztes Potenzial: Die Umcodierung ehemals grauer Infrastrukturen. Die Entsorgungslandschaften mit den Deponien, die großen Kläranlagen, Kiesabbaugebiete oder die großen Verkehrstrassen und -kreuze bieten Ansatzpunkte, die Stadt um neuartige Hybriden aus Stadtversorgungsflächen und Erholungslandschaften zu ergänzen.

Der in Tel Aviv zurzeit in der Umsetzung befindliche Ariel-Sharon-Park des Büros Latz und Partner zeigt prototypisch, wie eine solche Umcodierung eines ehemaligen Müllberges zu einem neuen Freiraum in einer stark urbanisierten Region aussehen kann. Auf dem Müllberg Mount Hiriya entsteht eine Parklandschaft, die mit einem regenwassergespeisten See, Spiel- und Sportflächen sowie einem Belvedere zu einem Anziehungspunkt wird, der den Blick auf das Wadi, die neue Agrikulturlandschaft und die Stadtsilhouette von Tel Aviv freigibt.

Ein weiterer zukunftsweisender Ansatz liegt in dem Ersatz grauer Infrastrukturen durch natürliche Systeme. Deiche werden durch neue Retentionsräume - gestaltet als naturnahe Landschaften - ersetzt. Regenwasser wird nicht mehr in Kanälen abgeführt, sondern in urbanen Wetlands zwischengespeichert, versickert und verdunstet. Fahrradautobahnen bieten die Chance, dass der Autoverkehr zumindest anteilig auf das Rad verlagert wird. Besonders die Ränder der Städte bieten den räumlichen und strukturellen Rahmen, graue Infrastrukturen allmählich durch nachhaltigere, an den Kreisläufen der Natur orientierte Alternativen zu ersetzen.

Ausblick

Die fünf Strategien eröffnen besonders in der Kombination die Chance, die Ränder der Städte in einem neuen Licht zu betrachten und zu gestalten. Wenn diese Strategien weiter gedacht werden, ergeben sich neue Perspektiven für die Ränder der Städte. Während Leitbilder und Strategien für die Kernstädte auf die Innenentwicklung einer kompakten Stadt setzen, wird die Zukunft der Ränder maßgeblich darin bestehen, sie in ihrer Rolle als grüne Infrastruktur der Stadt zu verstehen. Der Landschaft kommt hierbei die Rolle als wesentliche Stellschraube zu. Ein zentraler Aspekt wird dabei sein, wie sich die urbanen und landschaftlichen Systeme überlagern könnten und von einem monostrukturierten Nebeneinander zu einem mehrdimensionalen Raum werden.

Literatur

Bölling, Lars, Thomas Sieverts (Hrsg.): Mitten am Rand: auf dem Weg von der Vorstadt über die Zwischenstadt zur regionalen Stadtlandschaft. Wuppertal 2004.

M.Sc. Lena Flamm
Autorin

Lehrstuhl Landschaftsplanung und Freiraumgestaltung

Vertretungsprofessor Dr. Carlo W. Becker
Autor

Lehrstuhl Landschaftsplanung und Freiraumgestaltung

Ausgewählte Unternehmen
LLVZ - Leistungs- und Lieferverzeichnis

Die Anbieterprofile sind ein Angebot von llvz.de

Redaktions-Newsletter

Aktuelle grüne Nachrichten direkt aus der Redaktion.

Jetzt bestellen