Der Gedenkort Passagen für Walter Benjamin wird 20 Jahre alt

"... ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt ..."

von:
Gedenkort Landschaftsarchitektur
Blick aus der Ferne: Zu sehen ist eine Wand, die sich von einer dahinterliegenden weißen Wand abhebt. Fotos, soweit nichts anderes angegeben, Sebastian Feldhusen

Im September 1940 befand sich der jüdische Philosoph und Literaturkritiker Walter Benjamin auf der Flucht vor der Gestapo. Mit anderen Flüchtlingen unternahm er den Versuch von Frankreich aus über Portbou, einem kleinen Küstenort an der spanisch-französischen Grenze, nach Lissabon zu gelangen. Von dort aus sollte es in die Vereinigten Staaten von Amerika gehen. Soweit ist es nicht gekommen. Ihm wurde die Einreise nach Spanien verweigert. Er sollte dem Deutschen Reich ausgeliefert werden. In der Nacht zum Folgetag verstarb Benjamin in einem Hotel an einer Überdosis Morphium. Vermutlich war es Selbstmord.

Ein Gedenkort in Portbou erinnert an Benjamin. Er wurde von Dani Karavan entworfen. Vor 20 Jahren wurde der Gedenkort fertiggestellt - in Nachbarschaft zum Friedhof, auf dem sich das Grab Benjamins befindet. Der Gedenkort besteht aus drei Bestandteilen: (1) Einer kleinen Treppe, (2) einer quadratischen Plattform sowie (3) einer Art Tunnel, der durch die Felswand stößt und dadurch den Blick auf das Wasser mit seinen steinigen Uferbereichen, die Bucht von Portbou mit ihren schroffen Steilhängen und dem Mittelmeer freigibt.

Im Folgenden wird keine Kritik oder Interpretation des Gedenkortes vorgenommen. Stattdessen dient der Gedenkort hier als Grundlage für eine Diskussion darüber, was Landschaftsarchitektur für das Erleben von Freiräumen leisten kann. Dabei wird sich auf den Tunnel beschränkt. Zuerst wird dieser Teil der Anlage beschrieben. Danach werden Situationen analysiert, die für das Erleben des Ortes wichtig erscheinen. Dadurch soll etwas Allgemeines sichtbar werden: (1) Landschaftsarchitektur kann nicht Situationen für das Erleben herstellen, aber provozieren. (2) Das Erleben von Landschaftsarchitektur kann Bedeutungen nicht erzwingen, aber unterstützen.

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Gedenkort auf der Anhöhe

Der bauliche Kern der Gemeinde Portbou befindet sich im Tal. Der Friedhof und der Gedenkort liegen auf einer Anhöhe, von der man auf die Bucht und auf das Mittelmeer blicken kann. Zum Gedenkort und zum Friedhof gelangt man nur über einen Weg. Dieser ist zur Landesinnenseite durch Felswände mit kargem Bewuchs, zur Wasserseite durch einen steilen Abhang begrenzt, der an die Bucht stößt. Schon aus einiger Entfernung vom Gedenkort ist eine dunkle dreieckige Wand ersichtlich, die sich von einer dahinter liegenden weißen Wand abhebt. Nähert man sich dem Gedenkort, wirkt die Wand nicht mehr flächig, sondern voluminös. Sodann wird eine Öffnung erkennbar. Steht man irgendwann direkt vor der Öffnung, fällt der Blick eine lange Treppe hinunter auf das Wasser. Die Treppe ist aus rostendem Stahl gefertigt. Steigt man die Treppe hinab, bewegt man sich durch einen Tunnel, dessen Ende über den Abhang hinausgeht, so wie ein Wasserspeier eine Hauswand überragt.

Mit den eigenen Schritten im Tunnel erzeugt man dumpfe Geräusche. Im unteren Drittel angelangt, öffnet sich die Tunneldecke. Nun befindet man sich nicht mehr in einem Tunnel, sondern in einer Art Graben. Kurz vor Ende der Treppe wird das ersichtlich, was man vom Eingang des Tunnels nur schemenhaft sehen konnte: Eine Glasplatte spannt sich zwischen die seitlichen Wände. In ihr ist ein Zitat von Benjamin eingraviert, das aus seinem letzten Aufsatz "Über den Begriff der Geschichte" aus dem Jahr 1940 stammt.1) Von dort aus fällt der Blick auf den Uferbereich der Bucht: Wasser, Felshänge am gegenüberliegenden Ufer, landwirtschaftlich bearbeitetes Land, ein paar Häuser, die Bucht und das Meer.

Steigt man die Treppe wieder hinauf, sieht man einen diffusen, dunkel umrissenen Himmelsausschnitt. Erst durch den Aufstieg wird nach und nach die Felswand auf der Landesinnenseite ersichtlich. Wieder beim Eingang angekommen, schaut man auf eine in der Region typische Natursteinmauer. Der Umriss des Tunnels wird in der Mauer als Relief ersichtlich. Man könnte die Anlage weiter beschreiben; es soll dabei belassen werden. Stattdessen soll die Anlage hinsichtlich des Erlebens analysiert werden. Dabei wird sich auf drei Punkte beschränkt.

Gedenkort Landschaftsarchitektur
Steht man direkt vor dem Körper, zeigt sich, dass es keine bloße Öffnung, sondern der Eingang zu einem Tunnel ist, der den Blick auf das Wasser freigibt.
Gedenkort Landschaftsarchitektur
Begegnet man einander im Tunnel, tritt man in den „personalen Raum“ des Anderen ein. Aufmerksam wird man auf das, was der Andere sagt und wie das Gesprochene im Tunnel klingt.

1. Wie etwas Unbestimmtes zu etwas Bestimmten wird

Es wurde bereits erwähnt, dass man beim Besteigen der Anhöhe zum Gedenkort eine Wand bemerkt, die sich vor einer weißen Wand abhebt. Die Wand kann abstoßend oder anziehend sein. Sie fällt in jedem Fall auf Grund des Farbkontrastes (hell/dunkel) und der Formkontrastes (hart/weich) auf. Mit jedem weiteren Schritt auf die Wand zu, geht sie einen immer mehr etwas an. Dabei ist bedenklich: Durch unsere Aufmerksamkeit wird aus einer mehr oder weniger unspezifischen Seite zu etwas, eine spezifische Richtung zu einer Wand. Man richtet seine körperliche Bewegung nicht nur an der Wand aus, sondern richtet sich auch geistig auf etwas ein. Was könnte einen hinter der Wand erwarten? Die körperlichen und die geistigen Bewegungen laufen allerdings nicht getrennt voneinander ab. Vielmehr werden diese beiden Bewegungen leiblich vollzogen. Schließlich werden nicht bestimmte kognitive Inhalte aus einer "Datenmenge" ausgewählt. Plausibler erscheint, dass sich ein "Erfahrungsfeld […] in Form von Brennpunkten, Rändern, Hintergründen" (Waldenfels 2006: S. 100f) auftut, die unsere leiblichen Handlungen beeinflussen. Die Richtung ist nicht bedeutungslos, sondern es ist ein Gehen-zu-etwas beziehungsweise ein Entfernen-von-etwas: Je nach Vorerfahrung ist es eine Bewegung zu einem Gedenkort für Walter Benjamin, zu einem Gedenkort für einen "irgendwie bekannten Menschen", oder auch nur eine Bewegung zu einer abstoßenden rostigen Wand und so weiter.

Entscheidend für das Erleben ist, dass die Anlage so ausgerichtet ist, dass man bei jedem Schritt auf etwas Neues aufmerksam wird: Zuerst wird eine Wand wahrgenommen, dann nicht mehr eine Wand, sondern ein Körper. Schließlich kein Körper mehr, sondern ein Eingang zu einem Tunnel mit einer Treppe und so weiter. Das heißt, dass die Wahrnehmung immer konkreter wird. Aus dem Unbestimmten (Wand), wird etwas Bestimmtes (Eingang zu einem Tunnel …). Wird das Bestimmte erkannt, wird Sinn gestiftet. Man könnte das als Umschlag von einem unbestimmten Feld zu einer bestimmten Welt bezeichnen. Auf dieses Phänomen hat Eduard Führ an verschiedenen Stellen mit Diskussionen von Untersuchungen von James J. Gibson und Ernst Mach hingewiesen (vgl. Führ 2004). Allgemein ausgedrückt: Nicht etwa wurde eine solche Situation aus den kognitiven Fähigkeiten des Menschen alleine konstruiert, sondern mit Hilfe der dinglichen Anlage leiblich situiert. Dieser Umschlag von einem unbestimmten Feld zu einer bestimmten Welt, gilt grundsätzlich für jede Wahrnehmung. Die Wahrnehmung des Gedenkorts wird unter anderem durch die Ausrichtung der Anlage so "gestört", dass der Umschlag vom Feld zur Welt deutlich gegliedert wahrgenommen wird.

Wenn man am Eingang des Tunnels steht und der Blick durch den Tunnel auf das Wasser fällt, ist etwas schemenhaft am Ende des Tunnels zu erkennen. Unter bestimmten Sonnenverhältnissen wird eine Glasscheibe ersichtlich, auf der ein Text zu stehen scheint. Damit wird man erneut auf etwas aufmerksam, das einen zu einer Handlung motiviert oder auch abstößt. Es ist eine abwechslungsreiche Abfolge von Situationen, in der man auf etwas aufmerksam wird. Diese Situationen zeigen sich aber nicht in einem Moment total, sondern sie werden sukzessiv "entblättert". Es gibt "einen ständigen Aufschub" von Situationen, auf die man aufmerksam wird. Ein Aufschub ist "gelebte Geduld, die sich [irgendwann, SF] überraschen lässt", so Bernard Waldenfels (Waldenfels 2006: S. 102).

Gedenkort Landschaftsarchitektur
Masaccios Fresko Trinità aus dem 15. Jahrhundert (Basilica di Santa Maria Novella, Florenz): Der Betrachter wird Teil des Werkes, indem er sich in eine bestimmte Position stellt, um die perspektivische Wirkung vollends zu sehen. http://upload.wikimedia.org/wikipedia/ commons/3/3c/Masaccio_-_Trinity_-_ WGA14208.jpg (15.05.2014)
Gedenkort Landschaftsarchitektur
Das Vertraute zeigt sich als etwas Neues. Ab einem bestimmten Moment, befindet man sich nicht mehr in einem Tunnel, sondern in einer Art Graben. Der Blick geht auf das Wasser, die Bucht, die gegenüberliegenden Hänge, das Meer.
Gedenkort Landschaftsarchitektur
Der Blick aus dem Tunnel Richtung Eingang: Man sieht nur den Himmel.

2. Wie aus dem Betrachter ein Teilnehmer wird

Wenn man am Eingang des Tunnels steht, wird der Blick auf das Wasser erst dann frei, wenn man eine bestimmte Position einnimmt. Diese muss man gewiss nicht einnehmen. Man wird aber dazu angeregt, da es etwas zu sehen gibt. Ein ähnliches Phänomen findet man in zahlreichen Werken der Bildenden Kunst, zuerst vielleicht auf Masaccios Fresko Trinità aus dem 15. Jahrhundert. Auch hier muss eine bestimmte Position im Raum eingenommen werden, um die perspektivische Wirkung zu erfahren. So etwas gibt es zum Beispiel auch in der Literatur. Roman Ingarden hat auf "Unbestimmtheitsstellen" in einem literarischen Werk hingewiesen: Die Literatur kann unbestimmte Stellen aufweisen, die der Leser gedanklich füllen muss, um einen Sinn zu konstituieren (vgl. Ingarden 1972). Der Gedenkort hingegen provoziert zur Bewegung, um einen als Gegenleistung mit dem sinnlichen Genuss zu "beschenken". Man ist hier also nicht nur Betrachter, sondern auch Teilnehmer.

Aufmerksamkeit wird spätestens dann gefordert, wenn sich eine Person in dem Tunnel befindet. Möchte man an dieser Person vorbei, wird man in den personalen Raum dieser Person "eintauchen" müssen. Edward T. Hall hat unterschiedliche konturlose Bereiche ("reaction bubbles") um den Menschen herum unterschieden (vgl. Hall 1966): So ist der Raum für einen Partner kleiner, für eine fremde Person größer. Aufmerksamkeiten haben demgemäß auch immer etwas "mit der Rücksicht, dem Respekt, mit dem regard, dem Auf-der-Hut-Sein, […]" gegenüber Dingen und Menschen zu tun, so Bernhard Waldenfels. (Waldenfels 2006: S. 103).

Wenn ein Beispiel gewählt wird, bei dem die Anwesenheit einer zweiten Person eine besondere Rolle spielt, wird leicht ersichtlich, dass weitere Aufmerksamkeiten erfahrbar werden können, die zum Beispiel durch eine Stimme einer anderen Person stimuliert werden. Und zwar in zweierlei Weise: Man kann zwar Günther Figal zustimmen, wenn er sagt, dass wir eine Stimme gewöhnlicher Weise "weniger als Stimme hören, sondern vielmehr auf das achten, was sie artikuliert" (Figal 2010: S. 204). In dem Tunnel ist es aber so, dass man auch aufmerksam ist, was für ein Klang sich beim Erheben der Stimme ergibt. Diese Aufmerksamkeit changiert also zwischen Inhalt des Gesagten und Klang der Stimme.

3. Wie das Vertraute neu erscheint

In dieser Gegend erscheint einem Wasser, Felsen und Vegetation gewöhnlich, sodass es einem nicht mehr bewusst auffällt. Am Gedenkort wird nicht etwas Außergewöhnliches gezeigt, das Aufmerksamkeit auf sich zieht. Stattdessen wird das Vertraute (Steine, Felsen, Vegetation und so weiter) so gezeigt, dass es neu erscheint: Mittels der Seitenwände des Grabens wird der Blick auf das Wasser und die Bucht gelenkt. In anderer Richtung, die Treppe aufsteigend, ist eine ganze Weile lediglich der Himmel zu sehen. Der Gedenkort macht also etwas anschaulich, das normalerweise nicht beachtet wird, da es einem vertraut ist.

Aufmerksamkeits-Situationen bereichern das Erleben im Freiraum

Was zeigen diese Beispiele? Indem ein Teil der Anlage daraufhin analysiert wurde, was und wie etwas aufmerksam machen kann, wurde ersichtlich, dass der Gedenkort so strukturiert ist, dass zahlreiche Aufmerksamkeits-Situationen provoziert werden, die das Erleben des Freiraums bereichern können. Es kann dabei nie genug betont werden, dass beispielsweise Absichten oder Stimmungen des Menschen ebenso eine Voraussetzung dafür sind, ob etwas auffällt. "Die schönsten Kirschen können mich kalt lassen, wenn ich mir gerade den Magen an zu vielen Pflaumen verdorben habe", gibt Lenelis Kruse zu bedenken (Kruse 2012: S. 11). Achim Hahn hat im Rahmen der jüngsten Atmosphären-Diskussion zu Recht zu bedenken gegeben, dass Atmosphären nicht mit absoluter Gewissheit so hergestellt werden können, wie sich das der Entwerfer gedacht hat, sondern auch maßgeblich von der Stimmung des Menschen abhängen (vgl. Hahn 2012: S. 126). Dennoch kann das nicht darüber hinwegtäuschen, dass man auf Kirschen erst dann aufmerksam wird, wenn sie dinglich wahrnehmbar sind. Und nicht nur das: Indem die Kirschen einen mit ihrem Tiefrot "ansprechen", indem die Kirschen nicht zu warm und nicht zu kalt gelagert wurden, indem sich die Kirschen im hantierenden Umfeld eines Menschen zum Beispiel beim Arbeiten am Schreibtisch befinden […], indem es also eine bestimmte Ordnung mit dem Menschen und den Dingen gibt, wird man mit hoher Wahrscheinlichkeit provoziert, sich eine Kirsche in den Mund zu stecken. Die These lautet also: Aufmerksamkeits-Situationen können zwar nicht hergestellt, aber durch die Strukturierung der dinglichen Gestalt des Werkes provoziert werden. Und genau diese Art der Strukturierung kann im Entwurf bedacht werden.

Gedenkort Landschaftsarchitektur
Paul Klees Gemälde Angelus Novus (1920, Aquarellierte Zeichnung, 31,8 x 24,2 Zentimeter) war in Benjamins Besitz. Es diente ihm auch als Denkbild. http://katilifox.files.wordpress.com/2 011/04/1190051611_angelusnovus.jpg

Aufmerksamkeits-Situationen und Bedeutung

Aufmerksamkeits-Situationen können das Erleben bereichern. Dieses Erleben schließt aber nicht die Bedeutung (Zeichenhaftigkeit) der Landschaftsarchitektur aus. Wenn man sich darauf einlässt und Hintergrundwissen besitzt, könnte der Gedenk-ort durch das Erleben zum Beispiel durchaus als räumliche Antwort auf das Passagen-Werk von Benjamin gedeutet werden: Insbesondere in den 1930er-Jahren be-schäftigte sich Benjamin, zu dieser Zeit im Exil in Paris, mit Fragen zur Geschichtsphilosophie, die er in einem Werk zusammenfassen wollte, das heute als Passagen-Werk bezeichnet wird. Das Werk wurde nicht fertiggestellt. Es liegen lediglich Fragmente vor. Das Werk ist insofern ungewöhnlich, da es wahrscheinlich keinen zusammenhängenden Text in deskriptiv-argumentativer Form gegeben hätte. Es wäre womöglich eine Art Collage aus fremden Zitaten, eigenen Interpretationen sowie historischen und aktuellen Reflexionen geworden. Als Leser hätte man sich wie ein Flaneur in der Stadt, der durch Passagen wandert, durch das Passagen-Werk "bewegen" müssen.

Die Vorraussetzung aber, das etwas gedeutet werden kann, ist die dingliche Gestalt der Landschaftsarchitektur. Hierbei ist es nicht egal, wie sie gestaltet ist. Die Landschaftsarchitektur Passagen in Portbou zeigt, dass differenzierte Aufmerksamkeits-Situationen provoziert werden können, die das Erleben bereichern. Im Erleben, nicht nur im Betrachten, ist es dann möglich, etwas zu imaginieren. Dafür ist übrigens Benjamins eigenes Denken ein gutes Beispiel. Benjamin besaß das Gemälde Angelus Novus (1920) von Paul Klee. Dargestellt ist ein Engel mit aufgespannten Flügeln, aufgerissenen Augen und einem weit geöffneten Mund. Benjamin spricht dem Engel die Fähigkeit zu, in einzelnen Ereignissen der Gegenwart eine sich anbahnende Katastrophe zu sehen (Zeit des Nationalsozialismus). Der Engel könne aber nicht eingreifen, denn der "Sturm treibt ihn [den Engel, SF] unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst." Benjamin weiter: "Das was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm" (Benjamin 1974 [1940]: S. 698).

Benjamins Nachdenken über eine Frage, die erst einmal nichts mit dem Bild zu tun hat, findet im Bild seinen Ausgang und wirkt dadurch auf sein Denken zurück. Das Bild ist ein Denkbild. Damit es zu einem Denkbild werden kann, muss es allerdings ein Bild geben, das dinglich ist. Deshalb schreibt Benjamin schlicht: "Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt." Der Gedenkort Passagen könnte ebenso Ausgang für das Denken sein - er könnte auch ein Denkbild, ein Denkort, sein. Er gedenkt nicht direkt an Benjamin, er gibt aber zu denken. Wenn der Ort wirklich zu denken gibt, schafft er das, was er als Denkort leisten kann: Benjamin zu gedenken.

Anmerkung

¹ Die Beschriftung der Glasplatte lautet: "Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten. Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht. Walter Benjamin, G. S. I, 1241".

Literatur

Benjamin, Walter (1974): Über den Begriff der Geschichte [1940]. In: Tiedemann, Rolf/Hermmann Schweppenhäuser, (Hgg.): Walter Benjamin. Gesammelte Schriften. Band I, 2. Frankfurt am Main, S. 691-704.

Figal, Günter (2010): Erscheinungsdinge. Ästhetik als Phänomenologie. Tübingen.

Führ, Eduard (2004): Ja, kann man denn Räume überhaupt bauen? In: Wolkenkuckucksheim | Cloud-Cuckoo-Land | ????????? ?????, Jg. 9, Heft 16. http://www.cloud-cuckoo.net/openarchive/wolke/deu/Themen/041/Fuehr/fuehr.htm (15.05.2014).

Gibson, James J. (1973): Die Wahrnehmung der visuellen Welt [1950]. Weinheim.

Hahn, Achim (2012): Über die Machbarkeit von Atmosphären in der Umgangswelt. In: Ausdruck und Gebrauch, 10. Jg., Heft 11, S. 108-127.

Ingarden, Roman (1972): Das literarische Kunstwerk. Mit einem Anhang von den Funktionen der Sprache im Theater-schauspiel. 4. Aufl. Tübingen.

Kruse, Lenelis (2012): Kann man Stimmung planen? Zur Phänomenologie und Psychologie gestimmter Räume. In: Ausdruck und Gebrauch, 10. Jg., Heft 11, 8-31.

Mach, Ernst (2008): Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen [1886]. 6. Auflage. Jena.

Waldenfels, Bernard (2006): Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Frankfurt am Main.

Dipl.-Ing. (FH) Sebastian Feldhusen
Autor

Hochschule Osnabrück und Technische Universität Berlin

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