Der Comenius-Garten in Berlin-Neukölln

Gartenpädagogik im Böhmischen Dorf

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Gartenprofile Parks und Gärten
Zum Aspekt der Lehre und des Experimentierens gehören auch gebaute physikalische Versuchsanordnungen im Garten. Das "Auge Gottes" beschäftigt sich mit (Sonnen-)lichtstrahlen, ihrer Reflexion und Brechung. Foto: Thomas Herrgen

Seit jeher waren Menschen, Bevölkerungsgruppen oder Ethnien aus politischen, religiösen und vielen anderen Gründen gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Gerade auch in Deutschland sind Fluchtbewegungen durch Krieg, Teilung und als Folge von Terror durch eine große Zahl von Asylsuchenden ein Thema. Auch Johann Amos Comenius, Philosoph, Theologe und Pädagoge sowie Bischof der Unität der Böhmischen Brüder, musste vor rund 400 Jahren als verfolgter Protestant aus dem damaligen, katholischen Mähren flüchten. 1995 wurde in Berlin ein Garten nach ihm benannt.

Comenius ging zuerst nach Görlitz, Berlin und Holland, kehrte kurz nach Mähren zurück und musste dann 1628 mit seiner Familie das Land endgültig verlassen. Mit Tausenden anderer Vertriebener ging er nach Polen ins Exil. Andere mährische Glaubensflüchtlinge fanden im damaligen Preußen Zuflucht und bauten in ihrer neuen Heimat ein eigenes Bildungswesen auf. Comenius selbst war auch während seines Exils in der Lehre tätig und strebte eine umfassende, auf humanistischen Grundsätzen aufbauende Schulreform an. Er sah die Bildung, das Lernen der Kinder in den Schulen und darüber hinaus als den rettenden Weg schlechthin, damit die Menschheit "aus ihren verderblichen Irrtümern zurückfinde zu der Ordnung der Welt, wie Gott sie vorsehe". Zu diesem Konzept gehörte auch die Erfahrung mit allem Lebenden, mit Tieren, Pflanzen und Gärten.

Die Natur ist Vorbild, Forschungsobjekt und Lehrgegenstand. Sie muss begriffen, respektiert und in das allgemeine Denken integriert werden. Im 20. Jahrhundert kam so beispielsweise auch die Idee für Schulgärten auf, die verschiedene pädagogische Zwecke verfolgten. Vor einem Vierteljahrhundert entstand dann in Berlin aber die Idee für ein ganz anderes, unabhängiges Projekt mit philosophischem Hintergrund: Der "Comenius-Garten". Aus einer Schotterbrache wurde ein grünes Idyll, das Kinder nachmittags "von der Straße holen" wollte, damit sie außer Mathe, Englisch und Geschichte noch etwas anderes lernen können - wenn sie wollen.

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Der Aushangkasten an der Richardstraße hält einen Grundriss und Informationen über den Garten bereit, darunter auch ein "Stundenplan" mit den regelmäßigen und außerordentlichen Aktivitäten im Freien, zur Not auch in den Seminargebäuden. Foto: Thomas Herrgen
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Das grüne Idyll mit seinen Obstbäumen und der Langgraswiese wirkt geradezu ländlich, liegt aber mitten im hochverdichteten Berlin-Neukölln (links: Gartengründer und -leiter Henning Vierck). Foto: Thomas Herrgen
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Im Comenius-Garten gelten strikte Regeln, die zusammen mit den Kindern, die ihn hauptsächlich nutzen, erarbeitet wurden. Auch andere Besucher sollen sich unbedingt daran halten; was weitestgehend der Fall ist. Foto: Thomas Herrgen
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Der große böhmische Philosoph, Theologe und Pädagoge Johann Amos Comenius wurde als lebensgroße Bronzeskulptur im Garten verewigt. Das Kunstwerk war ein Geschenk der damaligen tschechoslowakischen Regierung zu Comenius\' 400. Geburtstag. Es wurde 1992 von Alexander Dubcek enthüllt. Foto: Thomas Herrgen

Ein Garten im Böhmischen Dorf

Das sind doch "Böhmische Dörfer", mag manch ein Berliner in den späten 1980er-Jahren gedacht haben, als die Idee für einen öffentlichen Garten aufkam, der Kinder und Jugendliche nach der Schule beschäftigen wollte. Pflanzen, säen, beim Wachsen und Gedeihen zusehen, ernten, essen und alles beobachten, aufschreiben, zeichnen. Im Garten arbeiten war das Eine, sich darin aufhalten, auch Hausaufgaben und Experimente machen, soziale Kontakte entwickeln und pflegen, das war die andere Idee dahinter. Philosoph und Gartengründer Henning Vierck, der die Anlage noch heute leitet und betreut, wollte etwas gegen Kriminalität, Gewalt und sozialen Zerfall in Neukölln tun. Der Berliner Bezirk war (und ist) von Arbeitslosigkeit, Immigration aus mehr als 150 Nationen und einer hohen Bebauungsdichte geprägt: Reichlich Nährboden für soziale Spannungen. Inhaltlich ging es deshalb darum, Kinder nachmittags mit dem Gärtnern, auch mit Physik und Experimenten zu beschäftigen. Sie sollten auf andere Ideen kommen, soziales Miteinander und generell etwas Zusätzliches fürs Leben lernen. Insofern war es von Beginn an auch als ein pädagogisches Projekt angelegt.

Comenius als Namensgeber

Als ideeller Überbau kam der Name Comenius hinzu. Der Philosoph, Theologe und Pädagoge Johann Amos Comenius (1592 bis 1670) aus Mähren, das heute Teil von Tschechien ist, wurde geistiger Vater des Projekts. Seine Lehren, Schriften und Vorstellungen über Erziehung, Bildung und Wissensvermittlung waren zu seiner Zeit extrem fortschrittlich, gar revolutionär. Als Protestant war er, wie viele seiner Landsleute, von den katholischen Habsburgern in Böhmen und Mähren verfolgt worden und hatte seine Heimat verlassen müssen. Viele andere Protestanten, die in Preußen aufgenommen wurden, durften am Rand von Berlin "Böhmische Dörfer" bauen, damals Teil von Rixdorf, ab 1920 dann zum Berliner Bezirk Neukölln gehörend. Seit den 1960er-Jahren setzte sich die Einwanderungsgeschichte im Bezirk mit den so genannten "Gastarbeitern" fort und in der Gegenwart mit vielen Geflüchteten aus Krisengebieten der Welt, unter anderem aus dem Nahen Osten.

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Die Unterrichtssprache zu Zeiten von Comenius war in der Regel Latein. Im Garten erinnert die "Lateinschule" mit Schrifttafeln an der Mauer daran; der Bereich wird heute aber auch selbst für den Freiluftunterricht genutzt. Foto: Thomas Herrgen
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Bei schönem, zumindest trockenem Wetter werden Klappsitze auch schon mal zu „Lehrstühlen“. Hausaufgaben können gemacht oder Entdecktes aus dem Garten kann hier besprochen, aufgearbeitet und verstanden werden. Foto: Thomas Herrgen

Vom Entwurf zur Ausführung

Von der Idee 1987 bis zur Einweihung 1995 vergingen viele, auch historisch bedeutende Jahre, in denen etwa die Wiedervereinigung lag. Als Ort fand sich das Grundstück einer ehemaligen Mietskaserne des frühen 20. Jahrhunderts, die fünf klassische Berliner Hinterhöfe hatte. Sie galt als "Arbeiter-Schlafburg", stand leer, war irreparabel und wurde 1971 abgerissen. Für die etwa 1,2 Hektar große Brache entwickelten die Berliner Landschaftsarchitekten Cornelia Müller und Jan Wehberg einen Plan, der auf dem größten Teil der Fläche einen Garten vorsah. Langwierige Genehmigungen, die Finanzierung und der eigentliche Bau folgten über mehrere Jahre hinweg, sodass der Comenius-Garten dann im Juni 1995 eingeweiht werden konnte. Schirmherren des Projekts sind die jeweiligen Bürgermeister von Prag und Berlin. Zu seinem 400. Geburtstag 1992 hatte die damalige tschechoslowakische Regierung ein großes Bronzedenkmal von Comenius gestiftet, das von Alexander Dubcek enthüllt wurde. Es fand seinen Platz an exponierter Stelle im neuen Garten. Innerhalb der fertigen Anlage gelten von Beginn an strikte Regeln und die Gestaltung folgt einerseits komplizierten Prinzipien und andererseits einem logischen Ablauf.

Auf dem "Lebensweg" - Gartenrundgang

Der lang gezogene Garten erstreckt sich als parkartiges Band in Ost-West-Richtung. Er ist vollständig von Zäunen, Mauern oder Gebäuden umgeben. Am öffentlichen Haupteingang Richardstraße 35 befindet sich ein Schaukasten mit Informationen und einem aktuellen "Stundenplan" für die laufende Woche.

Mittels elektronischem Türöffner lässt sich die Pforte per Knopfdruck aufschlagen (Hunde verboten!) und der Rundgang beginnt am "Auge Gottes", ein gepflastertes Dreieck mit physikalischen Geräten wie Teleskop, Mikroskop oder Spiegel für Erfahrungen mit Sehen, Licht- und Reflexion. Es folgt die "Lateinschul" mit der "Schola ludus" (Schule als Spiel). Eine Holzbühne dient hier zum Unterricht im Freien und die benachbarte Bronzeskulptur von Comenius, das Geschenk der damaligen Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik (CSFR) von 1992, erinnert an den Schulreformer und Namensgeber Comenius.

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Dass die Natur auch Heilkräfte hat und Pflanzen mit entsprechenden Inhaltsstoffen hervorbringt ist im Arzneigärtlein zu erleben. Blätter, Blüten oder Wurzeln werden zu Ölen, Essenzen und Extrakten, die bei den verschiedensten Leiden helfen; ganz ohne künstliche Chemie. Foto: Thomas Herrgen
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Im Spätsommer kontrastieren Sonnenblumen im Bereich mit Nutzpflanzen zur Bebauung im Hintergrund. Foto: Thomas Herrgen

Im nachfolgenden "Seelenparadies" lädt eine oktogonale Holzlaube zum Ausruhen ein. Es schließen sich ein "Arzneigärtlein" und der "Irrgarten" mit dem "Mosaischen Becken" an, ein kreisrunder Wasserfilm, der den Himmel spiegelt.

Der westliche Gartenbereich wird vom "Weltenmeer", einem organisch geformten Teich mit Bachlauf besetzt. Dazu gehören auch der Wiesenteppich, ein Rosenhain und das gekrümmte, sich verjüngende Veilchenbeet, das eine optische Tiefe vortäuscht. Weitere Bereiche und Gebäude, die für Besucher/Touristen nicht öffentlich zugänglich sind unter anderem das Seminar, eine Werkstatt und das Gewächshaus. Andere Gartenbereiche schließen sich im Süden an.

Zum Naschen und Lernen - Bepflanzung

Die Artenzusammensetzung der Anlage wurde so ausgewählt, dass die Erfahrung mit der Pflanze, den Blüten und Früchten im Mittelpunkt steht. Kinder, die die Herkunft von Nahrungsmitteln oft nur aus dem Supermarkt kennen sollen hier lernen, wie Essbares entsteht, in Abhängigkeit von Jahreszeiten und Wetter. Obstbäume entlang der Ost-West-Achse, darunter viele Apfelsorten, Birnen und Kirschen bilden das Rückgrat. Hinzu kommen Walnuss (Juglans regia), Eberesche (Sorbus aucuparia), Quitte (Cydonia oblonga), Rosmarinweide (Salix rosmarinifolia), Hainbuche (Carpinus betulus) und Rot-/Weißdorn (Crathaegus spec.) als Hecke, alle Beerenarten Europas, dreißig Rosensorten, Wild- und Heilkräuter, im Sommer auch Sonnenblumen und Gemüse. Die vielgestaltige Vegetation im Sinne der Biodiversität lockt etliche Insekten, wie Bienen und Libellen an, nicht zuletzt haben sich im Teich Molche angesiedelt. Für Besucherinnen und Besucher ist der Garten zu allen Jahreszeiten eine Attraktion, vom Frühling mit der Obstbaumblüte bis zum Herbst mit den Früchten und bunten Blättern. Auch die ehemalige Bezirksbürgermeisterin Franziska Giffey ging gelegentlich, vorzugsweise im Frühling und soweit es ihre Zeit zuließ in den Comenius-Garten, um dort "auszuruhen und aufzutanken".

Lehre und Kooperationen

Sehr viele Familien aus der direkten Nachbarschaft mit schätzungsweise 1000 Kindern, die oft über keinen eigenen Garten verfügen, nutzen die Anlage bei freiem Eintritt. Für Jugendliche, vorwiegend aus Migrantenfamilien ist er zum festen Treffpunkt im Kiez geworden.

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Jeder Gartenbereich hat eine Funktion oder bestimmte Zuordnung. Im "Seelenparadies" können die Gartenkinder und Besucher einmal "die Seele baumeln" lassen, im Pavillon ausruhen, oder sich ins Gras legen und den Himmel anschauen. Foto: Thomas Herrgen
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Manche Wiesenbereiche wie hier am "Weltenmeer" (Teich) werden nur selten gemäht und sollen nicht betreten werden, andere (im Anschnitt Personengruppe links) werden kurz gehalten und ihre Nutzung ist ausdrücklich erlaubt. Foto: Thomas Herrgen
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Ein naturnaher Teich symbolisiert das „Weltenmeer“, das hier über eine leicht bogige Brücke aus Stahl und Holz gequert werden kann. Foto: Thomas Herrgen

Im Sommer und Herbst ist täglich um 17.00 Uhr Ernte. Dann wird gemeinsam gepflückt, gesammelt und sofort genascht. Die jungen Gartenfans haben sich unter der Regie des Gartenleiters ein Reglement erarbeitet, das mit seltenen Ausnahmen eingehalten wird. So sind beispielsweise Hunde nicht erlaubt, weshalb die Gartenpforte immer geschlossen bleiben muss. So können Mütter ihre Kleinkinder auf den Wiesenbereichen spielen lassen. Umliegende Kinderläden und Schulklassen kümmern sich, auch im Sinne von Lehrzwecken um die Beete des Irrgartens. Interessierte Besucher können sich bei geführten Spaziergängen über Idee und Gestaltung der Anlage informieren. Das Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte arbeitet und forscht mit den Kindern des Comenius-Gartens zusammen. Ergebnis war bisher etwa eine Ausstellung zur "Wunderforschung", die 2008 im Berliner Museum für Naturkunde gezeigt wurde.

Henning Vierck achtet, notfalls auch mit gebotener Strenge darauf, dass alles in Ordnung bleibt, kein Müll weggeworfen und die Langgraswiese nicht betreten wird. Der Comenius-Garten ist ein wahrer Lehrgarten, der reich bepflanzt und schön gestaltet ist. Er lädt auch Erwachsene zum Ruhefinden und fürs Lernen ein. Nach nunmehr 23 Jahren in Betrieb ist er üppig eingewachsen. Seit 2015 gesellen sich auch immer mehr Flüchtlingskinder unter die Wissbegierigen und so wird die Comenius-Idee vom Lernen der Heranwachsenden in ihrer Exilheimat hier zur Realität.

Weitere Informationen

Adresse: Comenius-Garten, Richardstraße 35, 12043 Berlin
Träger: Förderkreis Böhmisches Dorf in Berlin-Neukölln e. V., Comenius-Garten
Geöffnet: 0 bis 24 Uhr an 7 Tagen/Woche (Bitte Gartenregeln im Aushang vor Ort beachten und respektieren!)
Eintritt: frei (Führungen sind nach vorheriger Vereinbarung möglich.)
Tel.: 0 30/6 86 61 06 - Hr. Vierck

Anmerkungen/Links

www.comenius-garten.de(mit Gartenplan, Hintergründen, usw.)

www.luetzow7.com(Lützow 7 C.Müller J.Wehberg, Garten- und Landschaftsarchitekten; Planung)

www.berlin.de/ba-neukoelln/ueber-den-bezirk/sehenswertes/artikel.104687.php(Seite des Bezirksamts Neukölln über den Comenius-Garten)

www.youtube.com/watch, Bericht ca.11 min. über den Comenius-Garten)

www.neukoellner.net/tag/henning-vierck/ (Porträt des Gartenleiters Henning Vierck)

Dipl.-Ing.(FH) Thomas Herrgen
Autor

Landschaftsarchitekt

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