Artenreiche Vegetationsausstattung in gebrauchsfähigen Straßenräumen

Gehwegränder - mehr als nur Abstandsgrün

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Gehwege Stadtentwicklung
Abb. 1: Freiraumsituation mit scherrasenartig entwickeltem "Abstandsgrün" im Bereich des Baumstreifens hin zur Fahrbahn und potentieller Saumsituation entlang des Zauns. Foto: Sebastian Hobmeier

Der Grundstein ist das Substrat

Im hoch verdichteten städtischen Straßenraum wird der Vegetation wenig Platz eingeräumt. Meist verhindern Anlage und Pflege des geringen vegetationsfähigen Flächenanteils, dass sich ästhetisch ansprechende, artenreiche und nutzungsangepasste Vegetation entwickeln kann. Die Rede ist hier im Wesentlichen von Rest- und Randflächen zwischen Gehweg und daran angrenzenden Nutzungen, wie der Fahrbahn und der Bebauung (Fassade) oder der Grundstückseinfassung (Zaun, Mauer, Hecke).

Das überwiegend von städtischer und kommunaler Grünpflege und Grünplanung praktizierte und aus vegetationskundlicher und freiraumplanerischer Sicht diskussionswürdige Vorgehen in diesen Freiraumsituationen, führt zu einer reduzierten Grünausstattung, vergleichsweise hohem Pflegeaufwand, überflüssiger Biomasse und zusätzlich zu einer schlechten Nutzbarkeit des Straßenraums. Eine zentrale Rolle spielen dabei das verwendete Substrat, die Wahl der Vegetationsausstattung sowie Zeitpunkt und Häufigkeit der Pflege, genauer der Mahd. Im Folgenden soll die verbesserungswürdige Situation dargestellt und eine alternative Vorgehensweise aufgezeigt werden, mit deren Hilfe vorhandene Potenziale für eine ansprechende Vegetationsausstattung im urbanen Straßenraum ausgeschöpft und zugleich Nutzungsverbesserungen für Menschen im öffentlichen Freiraum geschaffen werden können.

Der Grundstein für die künftige Art der Vegetation wird mit der Wahl des Substrats¹ gelegt. Bei Vegetationsstandorten im öffentlichen Straßenraum handelt es sich stets um hochgradig baulich veränderte und gestörte Standorte, die folglich über keinen gewachsenen Bodenaufbau verfügen. Der Standort wird vielmehr durch das verwendete Füllmaterial beeinflusst, da mit den Baumaßnahmen bodenverändernde Maßnahmen größeren Umfangs oder ein Bodenaustausch beziehungsweise Neueinbau einhergehen. Diese Begebenheit sollte als Chance genutzt werden, um ein Substrat zu verwenden, das zum einen der Zielvegetation und zum anderen der Nutzung zuträglich ist (vgl. Bellin-Harder 2009).

Beide Ziele ergänzen sich, wenn die geplante Vegetation auf mageren, mineralischen, skelettreichen Substraten gedeihen kann. Diese Substrate sind aufgrund ihrer Eigenschaften - am wichtigsten sind an dieser Stelle Verdichtbarkeit sowie die Trag- und Drainfähigkeit - sehr gut begehbar, ohne dabei strukturell Schaden zu nehmen. Gleichzeitig bieten diese mageren Rohbodensubstrate auch aufgrund ihres Feinkornanteils einen optimalen Wuchsort für blütenreiche Pflanzenarten.

Dieser Gedanke ist nicht neu. Er geht im Kern auf die Theorie der Kasseler Schule zurück, die gebrauchsfähige Freiräume entwickeln wollte, in welchen sich das Grün dem Nutzungsdruck entsprechend auf begehbaren und vegetationsfähigen Oberflächen ausbreiten sollte. Dazu wurden Einbau und Begrünung mineralischer Rohbodensubstrate durch Ansaat sowie deren Pflege und Stabilisierung durch Nutzung praktisch erprobt und untersucht (vgl. AG Freiraum und Vegetation 1985; 1986; 1988; 1993; 1994). Das schloss auch die Herstellung und Pflege von Baumstreifen aus Kalkschotter im Straßenraum mit ein (vgl. ebd. 1985; 1994).

Die Verwendung magerer, mineralischer Substrate ist auch in der zeitgenössischen Pflanzenverwendung nicht neu, sondern wird in der Staudenverwendung seit längerem propagiert und ist im Hinblick auf Ansaaten mit heimischen Arten trocken-warmer Standorte im Zuge der modernen Naturgartenbewegung geradezu en vogue. Dabei besitzen die verwendeten Ansaat-Substrate jedoch einen, wenn auch geringen, organischen Anteil (vgl. Witt 2012). Ein weiterer Unterschied zwischen dem Ansatz der Kasseler Schule und aktuellen Akteuren, wie der modernen Naturgartenbewegung, ist, dass die Kasseler Schule die Verwendung der mineralischen Substrate vor allem auch aus Nutzungsgründen und nicht nur aus vegetationstechnischen und pflegeextensivierenden Gründen ins Spiel brachte. Die freiraumplanerische und nutzungsorientierte Perspektive stand bei ihr im Vordergrund.

Im Grunde lassen sich in Form des mineralischen Substrats gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: es wird ein magerer Standort für blütenreiche Vegetationsbestände geschaffen, der zugleich begehbar ist und somit dem Freiraum und der Nutzung nicht entzogen wird. Zudem sind diese Flächen unversiegelt und übernehmen somit auch in Zeiten klimawandelbedingt zunehmender Starkregenereignisse eine wichtige Pufferfunktion im hochgradig versiegelten urbanen Raum. Der Belagsunterschied zum angrenzenden versiegelten Teil des Gehwegs oder der Fahrbahn schafft zudem eine optische Zonierung des Freiraums.

Dem Vorwurf mangelnder Nachhaltigkeit bezüglich des Substrateinbaus kann damit entgegnet werden, dass die behandelten Standorte, wie oben erwähnt, ohnehin mit neuem Füllmaterial ausgestattet werden. Bei der Wahl des Substrats sollte dann darauf geachtet werden, dass regionale Materialien Verwendung finden, um Transportwege zu verkürzen. In Deutschland handelt es sich dabei, je nach Region, vor allem um Kalk-, Basalt-, Sandstein- oder Granitschotter.

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Abb. 2: Lesbare Nutzungspuren: der Gehweg ist zu klein dimensioniert, weswegen Nutzer:innen in den u. a. dafür vorgesehenen, aus Kalkschotter bestehenden Baumstreifen ausweichen. Zu erkennen ist die höhere Nutzungsintensität an der fehlenden Vegetationsdecke, die sich in den weniger stark genutzten Bereichen besser ausbilden kann. Foto: Sebastian Hobmeier
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Abb. 3: Skelettreiches mineralisches Substrat, in diesem Fall Kalkschotter, das mager, begehbar und vegetationsfähig ist. Foto: Sebastian Hobmeier
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Abb. 4: Blütenreiche und hagere Kalkmagerrasen dienten schon der Kasseler Schule als Quelle der Artenauswahl für Ansaaten. Foto: Sebastian Hobmeier

Ansaat mit Arten trocken-warmer Standorte

Die eingebauten Substrate werden durch eine Ansaat mit standortangepassten Arten begrünt. Im vegetationskundlichen Sinn entsprechen die städtischen Randsituationen standörtlich den wärmeliebenden Säumen², die ebenfalls an Rändern unterschiedlicher Nutzungen an trocken-warmen Standorten entstehen. Einen Hinweis auf diesen Zusammenhang geben auch spontane Vorkommen dieser Arten in entsprechenden urbanen Kontexten.

Zudem sind Saumarten an tageszeitlich vorübergehende Schattenbedingungen angepasst, was am Mauer- oder Fassadenfuß oder dem idealerweise zwischen Fahrbahn und Gehweg vorhandenen Baumstreifen ein Standortvorteil und eine notwendige Standortanpassung sein kann. Die Gesellschaften der thermo- und mesophilen Säume bieten ein blütenreiches sowie insekten- und vogelfreundliches Sortiment an heimischen Arten. Sie können ebenso Bestandteil der Saatgutmischung sein wie weitere heimische und nichtheimische Arten trocken-warmer Standorte. Nichtheimische Arten können Lücken der Blühphasen heimischer Arten füllen oder den Blühaspekt im Jahresverlauf verlängern. Für eine schnelle Begrünung und eine hohe Dynamik ist die Verwendung unterschiedlicher Lebensformen notwendig. Neben Annuellen (einjährige Arten), Biennen (zweijährige Arten) und Hemikryptophyten/Stauden (mehrjährige Arten) können auch Chamaephyten (Halbsträucher) Verwendung finden.

Gebrauchsspuren: Selektion durch Nutzung

Nach der Ansaat findet eine Selektion der Arten durch die kleinklimatischen Bedingungen und die Nutzung der Fläche statt. Das Prinzip der Selektion und Stabilisierung der Vegetation durch Nutzung, wurde von der Kasseler Schule auf den städtischen Freiraum übertragen (vgl. AG Freiraum und Vegetation 1993). An Stellen großen mechanischen Einflusses, wie zum Beispiel Tritt, wird sich die Vegetation kaum bis gar nicht ausbilden können. An anderen Stellen, die weniger bis gar nicht betreten oder genutzt werden, kann sich die Vegetation dem geringeren Nutzungsdruck entsprechend besser entwickeln und höher aufwachsen. Dabei reagiert die Vegetation im Idealfall dynamisch auf Nutzungsänderungen. Verringert sich die Nutzung eines Flächenanteils, kann durch Arten in der Samenbank des Bodens und durch Eintragung von Samen aus den umliegenden, besser entwickelten Bereichen der Vegetationsfläche, der Vegetationsaufwuchs dynamisch auf die Verringerung des Nutzungsdrucks reagieren und einen entsprechend höheren und diverseren Bestand ausbilden. Dieses dynamische, nutzungsbedingte Entwicklungsmodell wird auch als "Zieharmonikasukzession" (Tüxen 1970; AG Freiraum und Vegetation 1993) bezeichnet. Der Begriff veranschaulicht das dynamische Wechselspiel des Vordringens und Zurückweichens der Vegetation in Abhängigkeit des Nutzungseinflusses, wobei mit abnehmender Nutzungsintensität eine Zunahme der Vegetationshöhe und der Lebensformen einhergeht. Ein Nebenprodukt dieses Prinzips ist, dass Nutzungsspuren im Freiraum anhand der Beschaffenheit der Vegetation sehr gut lesbar werden (vgl. AG Freiraum und Vegetation 1996).

Aus aktuellem Anlass: der gebrauchsfähige Freiraum für alle

In Zeiten der Covid-19-Pandemie und des damit verbundenen Abstandsgebots, ist es zudem sehr nutzer*innen- oder besser menschenfreundlich, wenn die angelegten Freiräume das Einhalten der Abstände auch ermöglichen. Die Gehwege selbst sind diesbezüglich in den meisten Fällen zu gering dimensioniert. Das Ausweichen in den oftmals schlecht begehbaren und als Hundeklo fungierenden Abstands-Grünstreifen zwischen Gehweg und daran angrenzenden Nutzungen wird entweder nur umständlich und widerspenstig oder gar nicht praktiziert. Ein begehbares mineralisches Substrat, das nicht durch nitrophile, üppig wachsende städtische Scherrasen überwuchert wird, wie es in den meisten dieser Streifen der Fall ist - dazu später mehr - sondern standortbedingt durch blütenreichen, aber hageren Bewuchs geprägt wird, hat auch hier Vorteile. Es kann zudem bei Niederschlag und Nässe leichter betreten werden, es kommuniziert grundsätzlich eine Betretbarkeit und außerdem lassen sich ungeliebte Hinterlassenschaften, wie Hundekot, deutlich besser erkennen und umgehen.

Des Weiteren erschweren die "Abstandsgrün-Scherrasen" das Erreichen des Gehwegs im Zuge des Ein- oder Aussteigens aus einem Fahrzeug oder das Überqueren der Straße. Zu diesem Punkt sollte bedacht werden, dass nicht alle Menschen uneingeschränkt mobil und körperlich fit sind. Gerade für diese Personen sind unsere Straßenfreiräume oftmals eher schlecht nutzbar. Die Rede ist hier nicht von normgerechten barrierefreien Freiräumen, sondern von nutzer*innenfreundlichen Freiraumstrukturen, die niemanden ausgrenzen.

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Abb. 5: Gehweg mit potentieller Saumsituation entlang einer grundstückseinfassenden Mauer und scherrasenartig entwickelter Begrünung des Baumstreifens. Foto: Sebastian Hobmeier
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Abb. 6: Spontan auftretende thermophile Saumarten an den Nutzungsrändern eines Gehwegs in Nordhausen, Thüringen. Foto: Sebastian Hobmeier

Der Status quo: der Nutzung entzogenes, hochproduktives Abstandsgrün

Statt der begehbaren und gleichzeitig vegetationsfähigen, mageren Flächen, finden im städtischen Straßenraum an solchen Stellen meist Substrate mit organischem Anteil Verwendung. Der organische Anteil variiert dabei von sehr hoch bei reinem Oberboden bis sehr gering bei strukturstabilen Substraten mit Grobbodenanteilen, deren Korngrößenzusammensetzung eine mechanische Verdichtung ermöglicht. Substrate mit organischem Anteil bringen mehrere Nachteile gegenüber mineralischen Rohbodensubstraten mit sich.

Je höher der organische Anteil und der Nährstoffgehalt des Substrats - im bereits nährstoffreichen städtischen Milieu - von Beginn an sind, desto optimaler sind die Wuchsbedingungen für Arten der spontanen nitrophilen Stadtvegetation. Diese nitrophilen Arten sind weniger blüten- und farbenreich und aufgrund ihrer grob erscheinenden Physiognomie oftmals weniger ästhetisch ansprechend als Arten magerer Standorte. Vor allem sind sie hochwüchsig und bilden sehr viel Biomasse, wodurch sie mit hoher Wahrscheinlichkeit Nutzung behindern. Hinzu kommt ein kaum vorhandener Winteraspekt, da die umfangreich vorhandene Biomasse im Laufe des Winters eher unansehnlich abgebaut wird. Nichtsdestotrotz besäßen Arten nitrophiler Säume einen ökologischen Mehrwert, da viele nitrophile Arten, gerade auch die Brennnessel, Lebensraum und Nahrung nicht nur für Insekten, sondern auch für manche Vogelarten bieten (vgl. Berthold 2018). Dieser Mehrwert wird jedoch in intensiv genutzten städtischen Freiräumen durch zu häufige Mahd und falsche Pflegezeitpunkte eliminiert.

Zudem erfolgt nach Einbau des Substrats - auch auf den skelettreicheren Substraten mit sehr geringem organischen Anteil - meist eine Gräseransaat. Diese Gräseransaat zeigt zum einen, dass es eigentlich nur um schnelle Begrünung und weniger um Artenvielfalt, Nutzung und Ästhetik geht. Zum anderen hat sie langfristige Folgen für die Weiterentwicklung der Vegetation, da die eingesäten Gräser das Artenspektrum für eine weitere spontane Besiedlung dieser Standorte noch stärker auf konkurrenzstarke nitrophile Arten beschränken.

Im schlechtesten Fall erfolgt der Rückschnitt der Vegetation dann als Mulchmahd, wobei das auf der Fläche verbleibende Schnittgut den Nährstoffgehalt weiter anreichert. Das Ergebnis sind gräserdominierte, kurzgeschorene, städtische Scherrasen, die in den genannten Freiraumsituationen im Alltag weder gut nutzbar und begehbar noch ästhetisch ansprechend sind. Zudem müssen diese Flächen mehrmals im Jahr gemäht werden und erzeugen aufgrund der hohen Produktivität des Standorts eine Unmenge an Biomasse, die zum Großteil als Abfallprodukt behandelt werden muss.

Aus den genannten Gründen besiedelt diese Vegetationsform einen Großteil urbaner Standorte und trägt somit ganzheitlich betrachtet wenig zu einer hohen Diversität im Stadtgebiet bei.

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Abb. 7: Nach einer Baumaßnahme eingebauter Oberboden entlang eines Gehwegs in Kassel. Foto: Sebastian Hobmeier
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Nach einer Baumaßnahme eingebautes strukturstabiles Substrat mit geringem organischem Anteil (Auskunft Sachgebiet Straßenplanung der Stadt Kassel) das mittels Gräseransaat begrünt wurde. Foto: Sebastian Hobmeier
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Abb. 9: Gerade im Bereich von Baumneupflanzungen treten durch Störung und den Einbau nährstoffreichen Substrats nitrophile Arten der urbanen Stadtvegetation auf, wie hier Urtica dioica. Foto: Sebastian Hobmeier

Mineralische Substrate: begehbar, vegetationsfähig, pflegeextensiv

Die mageren und begehbaren Vegetationsstandorte können mit einem geringeren Pflegeaufwand unterhalten werden als die mehrmals im Jahr gemähten Abstandsgrün-Scherrasen. Ein bodennaher Rückschnitt sollte vor dem Winter oder besser vor Beginn des Frühjahrs erfolgen, da die winterlichen Vegetationsstrukturen mit ihren abgestorbenen Pflanzenteilen und Samenständen gestalterisch als Zieraspekt genutzt werden können. Zudem bieten sie Insekten und deren Folgegeneration eine Überwinterungsmöglichkeit sowie Winter-Nahrung für die Tierwelt, vor allem für Vögel (vgl. Berthold 2018). Neben dem flächigen Rückschnitt sollte ein kosmetischer Pflegegang im Jahresverlauf ausreichend sein, um die Attraktivität der Vegetationsbestände zu gewährleisten.

Etwaige, leider unumgängliche, Müllsammelmaßnahmen sind hier nicht berücksichtigt, da diese unabhängig von der Vegetationsform notwendig sind. Um die Magerkeit zu erhalten, sind Schnittgut und Laubstreu aus der Fläche zu entfernen, da so dem Nährstoffeintrag im Rahmen des Biomasseabbaus und der Ausbildung einer organischen, humosen Schicht entgegengewirkt wird. Bleiben diese Maßnahme aus, wird sich die magere und begehbare Fläche mit den Jahren in Richtung Scherrasenfläche entwickeln, wie es bestehende Beispiele aus Kassel zeigen. Denn hier finden sich diverse Beispiele für die Anwendung von Kalkschotterdecken im Straßenraum. Doch entweder wurden neuere Anlagen nicht mit einer Ansaat versehen oder es wurden, bis auf sehr wenige Ausnahmen, die alten Beispiele der Kasseler Schule im Laufe der Jahre durch die zuständige Stelle nicht mehr fachgerecht gepflegt.

Wissenstransfer

An dieser Stelle ist es auch wichtig, die Anwohner*innen bezüglich der Vegetationsform und des mageren Substrats, das in Form der Schotterdecken zu Tage tritt, zu informieren und weiterzubilden. Das führt zum einen zu mehr Akzeptanz und zum anderen bewirkt dieser Wissenstransfer, dass die Schotterdecken als vegetationsfähige Flächen erkannt werden. Ein verbreitetes Phänomen ist, dass Anwohner*innen, wohl im Glauben der Vegetation etwas Gutes zu tun oder um auf einfachem Weg Blumenerde zu entsorgen, organisches Material auf (mageren) Vegetationsflächen verteilen. Davon ist die grundsätzlich begrüßenswerte, da diversitätsfördernde Aneignung, Bepflanzung und Pflege von Baumscheiben durch Anwohner*innen zu unterscheiden.

Potenziale und Zeitgeist nutzen

Das vorhandene Potenzial von vegetationsfähigen Randflächen im Straßenraum wird aktuell immer noch zu wenig genutzt. Diese Flächen erscheinen als lästiges Abstandsgrün zwischen Gehweg und angrenzenden Nutzungen, das aufgrund hoher Mahd-Intervalle Kosten verursacht. In seiner aktuellen Ausprägung entzieht dieses Grün meist nutzbaren Freiraum beziehungsweise verringert dessen Gebrauchsfähigkeit im Alltag. Die stetig zunehmende und mittlerweile sehr breite gesellschaftliche Akzeptanz für "wildere" Vegetation im Siedlungsraum sollten von der Grünplanung genutzt und als Anlass genommen werden, um in ihrem Charakter "wildere", seltener gepflegte, aber dafür nutzbare, ästhetisch ansprechende und diverse Vegetationsausstattung in städtischen Freiräumen zu etablieren. Die ohnehin vorhandenen oder zwangsweise anfallenden vegetationsfähigen Rest- und Randflächen im Straßenraum entsprechend anzulegen und zu pflegen, wäre ein erster Schritt.

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Abb. 10: Viele urbane Rand- und Restflächen sind blütenarme, hochproduktive Standorte, deren Biomasse nicht genutzt werden kann. Foto: Sebastian Hobmeier
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Abb. 11: Ein Beispiel für gut gemeinte, aber kontraproduktive meliorative Maßnahmen: auf einer mageren Vegetationsfläche wird die vor 1-2 Jahren erfolgte Ansaat mit Esparsette durch die Ausbringung organischen Materials von Anwohnern „aufgedüngt“. Foto: Sebastian Hobmeier

Literatur

  • AG Freiraum und Vegetation (Hg.) (1985): Über den Umgang mit Bäumen - oder: praktisch-handwerkliche Erfahrungen zur Technik des Bäumepflanzens. Notizbuch 1 der Kasseler Schule. Kassel.
  • AG Freiraum und Vegetation (Hg.) (1986): Krautern mit Unkraut oder: Gärtnerische Erfahrungen mit der spontanen Vegetation. Notizbuch 2 der Kasseler Schule. Kassel.
  • AG Freiraum und Vegetation (Hg.) (1988): Träume von Säumen/Kasseler Kalkschotterdecken. Notizbuch 7 der Kasseler Schule. Kassel.
  • AG Freiraum und Vegetation (Hg.) (1993): Gut gesät. Notizbuch 29 der Kasseler Schule. Kassel.
  • AG Freiraum und Vegetation (Hg.) (1994): Pflege-Fälle. Notizbuch 34 der Kasseler Schule. Kassel.
  • AG Freiraum und Vegetation (Hg.) (1996): Hard-Ware. Und andere Texte von Gerhard Hard. Notizbuch 18 der Kasseler Schule. 2. Auflage, Kassel.
  • Bellin-Harder, Florian (2009): Nachhaltige Vegetationsausstattung in der Freiraumplanung. In: Eisel, Ulrich/Körner, Stefan/Wiersbinski, Norbert (Hg.): Landschaft in einer Kultur der Nachhaltigkeit. Naturschutz als politisches Handeln. Band III. Kassel, 173-192.
  • Berthold, Peter (2018): Unsere Vögel. Warum wir sie brauchen und wie wir sie schützen können. 2. Auflage, Berlin.
  • Sachgebiet Straßenplanung der Stadt Kassel, E-Mail-Auskunft vom 19.05.2021
  • Tüxen, Reinhold (1970): Pflanzensoziologie als synthetische Wissenschaft. Wageningen.
  • Witt, Reinhard (2012): Der unkrautfreie Garten. 3. Auflage, München.

Anmerkungen

¹ In diesem Abschnitt spiegeln sich auch Beiträge der von Florian Bellin-Harder am Fachgebiet Landschaftsbau, -management und Vegetationsentwicklung/Universität Kassel eingeführten Substrat- und Rohbodendebatte wider.

² Ansaaten und Pflanzungen mit Arten des thermophilen Saums im urbanen Kontext bilden ein zentrales Standbein der Forschung am Fachgebiet Landschaftsbau, -management und Vegetationsentwicklung an der Universität Kassel.

M.Sc. Sebastian Hobmeier
Autor

Uni Kassel, FG Landschaftsbau, Landschaftsmanagement und Vegetationsentwicklung

Universität Kassel

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