Technisches Interesse und Sehnsucht nach alten Zeiten lockt Besucher

Historische Mühlen beleben ihren Standort

von:
Mühlen Stadtentwicklung
„Johanna“ in Wilhelmsburg trägt den Namen der letzten Windmüllerin, die 1961 mit dem Mahlen aufgehört hat. Die Windmühle Johanna ist ein zweistöckiger, so genannter Galerieholländer, bei dem sich die obere, 26?Tonnen schwere Kappe dreht. Bei gutem Wind produziert die Mühle 70?PS. Foto: Darijana Hahn

Jeden ersten Sonntag im Monat hat der 15-jährige Julian nur ein Ziel. Er begibt sich in die benachbarte Windmühle, um ihre Flügel in Bewegung zu setzen. Dabei steigt er zuerst vier Stockwerke ganz nach oben in die Kappe, entnimmt dort die Mühlensicherung, den Kappenknecht, geht zwei Stockwerke runter nach draußen auf die Galerie, löst mit einem Tau die Bremse, um schließlich an der Kette zu ziehen, welche die Lamellen der Flügel schließt. Nun hat der Wind seine nötige Angriffsfläche, und die Flügel beginnen knarrend sich zu drehen. Nicht immer ist der Wind stark genug, um auch das Mahlwerk anzutreiben. "Doch dann greifen wir auf den Elektromotor zurück und führen so das Mahlen vor", sagt Julian, der nur einer von vielen Ehrenamtlichen ist, die die Windmühle "Johanna" in Hamburg-Wilhelmsburg betreiben und sie regelmäßig für Besucher öffnen.

Seit 1998 ist "Johanna" wieder funktionsfähig. Die 1875 errichtete und 1961 geschlossene Mühle verdankt ihr neues Leben dem Einsatz einer Handvoll unermüdlicher Wilhelmsburger. "Wir wurden nicht selten als Fantasten abgetan", erinnert sich Carsten Schmidt, der Erste Vorsitzende des 1992 gegründeten Wilhelmsburger Windmühlenvereins e. V. Die Hürden und die Kosten, die herunter gekommene und größtenteils ausgeräumte Mühle wieder zu restaurieren und in Gang zu setzen, schienen viel zu hoch. Doch mit dem 1995 ins Leben gerufenen, damals bundesweit einzigartigen Bürgerbeteiligungsverfahren in Wilhelmsburg wendete sich das Blatt. Mit Projektgeldern von über einer halben Million D-Mark konnten die notwendigen Arbeiten umgesetzt werden, um aus der verfallenen Mühle ein "Erlebnis-Mühlen-Museum und ein stadtteilbezogenes Veranstaltungs- und Informationszentrum" zu machen.

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Am Pfingstmontag 1999, dem traditionellen Mühlentag, war der historische Moment gekommen und die Flügel von Johanna drehten sich. Es war nicht nur für die Mühlenbegeisterten ein bewegender Anblick. Auch für alle Stadtteilaktiven war die Wiedergeburt der Mühle ein Symbol des Wilhelmsburger Aufbruches, "eines Aufbruches aus der und mit der eigenen Vergangenheit in eine selbstbestimmte Stadtteilzukunft", wie dies die Stadtplaner Dittmar Machule und Jens Usadel erinnern, die das Bürgerbeteiligungsverfahren durchgeführt hatten. Die Mühle war ein Sinnbild dafür, dass sich erstens Wilhelmsburger für ihren lange als benachteiligt geltenden Stadtteil engagieren und zweitens, dass Wilhelmsburg "doch viel besser als sein Ruf" sei.

Windmühle Johanna ist Vertreterin eines Teiles der Elbinsel Wilhelmsburg, der bis heute ländlich geblieben ist, und sich damit deutlich absetzt von den Hochhaussiedlungen, die es in Wilhelmsburg in unterschiedlichen Varianten gibt. ",Das ist Wilhelmsburg?'" fragen uns viele Besucher, die das erste Mal kommen", sagt Gerhard Wendt, einer der rund 150 Ehrenamtlichen im Windmühlenverein. "Wir machen sehr viel für den Stadtteil", so Wendt, dem vor allem die Führungen für Schulklassen am Herzen liegen. Sehr beliebt ist aber auch der offene Betrieb jeden ersten Sonntag im Monat, zu dem Einheimische als auch Auswärtige, Rocker wie Kinder und Senioren kommen. Nicht nur, dass die Mühle sehr gut besucht wird, erfreut den Verein. Vielmehr macht es ihn stolz, dass die Mühle zum positiven Wahrzeichen für Wilhelmsburg geworden ist und dass sie ihren festen Platz im Stadtteil bekommen hat. Was sich nicht zuletzt daran zeigt, dass die nahe gelegene Bushaltestelle in "Wilhelmsburger Mühle" umbenannt wurde, und dass im nahe gelegenen Neubaugebiet die Straßen mühlenspezifisch heißen, wie beispielsweise Möhlsteenpadd.

Die Mühle in Berlin-Alt-Marzahn

So, wie "Johanna" manch einen Wilhelmsburg-Neuling überraschen mag, so bringt auch die Mühle in Berlin-Marzahn viele Besucher immer wieder zum Staunen. In dem für seine Plattenbauten bekannten Bezirk an Berlins Stadtrand steht wie von ungefähr eine Mühle, die den ländlichen Charme des kleinen Dorfkernes von Alt-Marzahn mit seiner Kirche und seinem Kopfsteinpflaster unterstreicht. Die Pläne für den Wiederaufbau einer Mühle an diesem Standort reichen in DDR-Zeiten zurück, als die Plattenbausiedlung Anfang der 80er-Jahre im Bau war. Der verbliebene alte Dorfkern sollte als Agrar- und Handwerksmuseum genutzt werden, wozu auch die Mühle gehört hätte. Nachdem eine Mühle in Luckow bei Angermünde 1989 bereits vom Berliner Magistrat gekauft worden war, sorgte die Wende bei den Luckowern indes dafür, dass sie ihre Mühle lieber selbst behalten wollten. Und so kam es, dass 1994 die jetzige Mühle nach historischen Vorbildern neu erbaut wurde.

Anders als ursprünglich geplant, handelt es sich bei der Marzahner Mühle nicht um eine so genannte Holländermühle - nur der oberster Teil, die Kappe, dreht sich - sondern um eine Bockwindmühle, die auf einem Bock aufgebracht ist und sich mit dem gesamten Baukörper dreht. "Erstens waren die Vorgängermühlen in Marzahn auch Bockwindmühlen und zweitens erfordern Bockwindmühlen nur ein Drittel der Aufwendungen für eine Holländermühle", erklärt Jürgen Wolf die Mühlenmodelländerung. Wolf ist seit Anbeginn der Müller in Marzahn und wohnt auch ganz nach Müllermanier in unmittelbarer Nähe seiner Mühle. "Ich bin 24 Stunden für die Mühle da", sagt der 52-jährige Wolf und bemerkt mit einem Augenzwinkern, so wie alle anderen Mühlenengagierten, dass er im Grunde genommen mit seiner Mühle verheiratet sei.

Wolf ist es ein besonderes Anliegen, dass die Mühle mehr ist als nur ein Symbol. "Ein Wahrzeichen muss gelebt werden", sagt er und betont, dass jede Mühle eine Funktion brauche und am besten unternehmerisch geführt werde. Wolf mahlt in seiner Mühle nicht nur eine Tonne Roggenmehl im Monat, das er unter anderem an die Vollkornbäckerei der Tempelhofer Ufa-Fabrik verkauft. Vor allem versteht er sich als Bildungseinrichtung. Selbst in einer Mühle in Sachsen aufgewachsen und bereits als Kind "den Mühlenbesen geschwungen", will er seine Begeisterung für die "älteste und friedlichste Maschine der Menschheit" weiter geben. Als einziger von einer öffentlichen Verwaltung angestellter Windmüller führt er Schülerinnen und Schüler in die Kunst des Mahlens ein.

Mit Hilfe von Handmühlen lernen die Kinder im Team so zusammenzuarbeiten "wie meine Maschinen in der Mühle", sagt Wolf und erzählt, dass viele der Schüler am Ende gar nicht gehen wollen, wenn sie dann ihre Haferkekse gebacken haben. Besonders angetan hat es ihnen die Maschine, bei der sie sehen, dass eine "Mühle vom Fallen lebt", wie dies Wolf erklärt. Mit gezielter Motorik müssen sie dabei den Förderkreislauf des Getreides in Gang setzen. Zunächst muss es mal nach oben gebracht werden und dann heißt es mit Feingefühl darauf zu achten, dass es gleichmäßig fällt. "Das will gelernt sein, den Riemen entsprechend zu bewegen", sagt Wolf, dem dabei deutlich anzumerken ist, mit wie viel Freude es ihn erfüllt, die Kinder für die Mühle und das Handwerk des Mahlens zu begeistern.

Über die Hälfte der 600 Führungen im Jahr sind für Schulklassen. Insgesamt sind es pro Jahr 12.000 Besucher, denen Wolf eine der ältesten Techniken der Menschheit erklärt. Und es sind um die 30 Paare pro Jahr, die sich seit 1997 in der Marzahner Mühle trauen lassen.

Diese Möglichkeit gibt es auch in Wilhelmsburg, wo Carsten Schmidt die Trauungen durchführt. Für sein Engagement für die Mühle "Johanna" und damit für den Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg wurde Schmidt vor gut einem Jahr vom Bundespräsident mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

Schmidt hat in den vergangenen Jahren nicht nur Beharrlichkeit im Umgang mit den verschiedensten Bedenkenträgern erwiesen. Er hat vor allem ein anderes Verhältnis zum Brot entwickelt. Zusammen mit seinen Mitstreitern hatte er das Glück, von der 95-jährigen Johanna in die Kunst des Mahlens eingeführt zu werden. Johanna Sievers war bis 1961 die letzte Müllerin der Wilhelmsburger Mühle, der sie schließlich 1998 ihren Namen gegeben hat. Die betagte Dame kroch nun mit den Herren durch die Mühle, wie das Gerhard Wendt immer noch ganz andächtig erinnert. Sie zeigte, wie die Säcke durch die Sackluke nach oben gezogen werden, wie das Getreide in den Trichter des Mahlganges geschüttet wird und wie der Müller schließlich achtsam sein muss, wie das Getreide von den zwei Mahlsteinen - zwischen dem festverankerten Bodenstein und dem sich bewegenden Läuferstein zermahlen wird. Wird das Mehl zu grob, muss der Müller den Läuferstein senken. Aber nicht zu sehr, denn dann wird das Mehl zu heiß und wertvolle Bestandteile gehen dabei verloren.

Und die Müller müssen stets ein Gefühl für den Wind haben. Für einen gelungenen Mahlgang braucht es gleichmäßigen Wind. Ist dieser zu stark, müssen die Lamellen der Flügel entsprechend reguliert werden.

Die Mühlen in Hamburg-Wilhelmsburg und Berlin-Marzahn sind nur zwei Beispiele von rund 1400 historischen Mühlen in Deutschland, von denen sich die meisten in ländlicher Umgebung befinden - abgesehen von der Britzer Mühle in Berlin-Neukölln, der Mühle im Schlosspark von Sanssouci in Potsdam und der Mühle am Wall in Bremen. Diese mit hohem ehrenamtlichem Einsatz betriebenen Mühlen - Wind - als auch Wassermühlen - sind die Restanten, die von mehr als 18.000 Mühlen Ende des 19. Jahrhunderts übrig geblieben sind. Nach einem ersten "Mühlensterben" durch die Dampfkraft Ende des 19. Jahrhunderts, setzte das zweite "Mühlensterben" ein, als das 1957 verabschiedete Mühlengesetz kleine Mühlen zugunsten weniger Großbetriebe stilllegen legen ließ.

Nachdem die Mühlen ihrer Grundfunktion beraubt und ihrem Schicksal als vermietetem Gewerbeobjekt oder Feuerlöschübung anheim gestellt worden waren, gab es früh vereinzelte Bemühungen, die Mühlen zu retten. Vor allem ab den 1980er-Jahren erwachte verstärktes Interesse, das sich nicht zuletzt in der Gründung der Deutschen Gesellschaft für Mühlenkunde und Mühlenerhaltung 1987 im ostwestfälischen Mühlenkreis Minden-Lübbecke widerspiegelte. Als Dachverband der rund 1400 dort verzeichneten Mühlen hat die Gesellschaft 1994 angeregt, immer am Pfingstmontag den bundesweiten Mühlentag auszurichten. Doch die meisten Mühlen haben ohnehin das ganze Jahr über "Mühlentage", indem sie zu festgelegten Zeiten offen stehen und die Besucher einladen. Einfach so oder zu bestimmten Anlässen. Einige Mühlen bieten sogar Kurse für zukünftige Windmüller an, wie zum Beispiel im Verein Historische Mühlen im Selfkant, in der westlichsten Gemeinde Deutschlands in Nordrhein-Westfalen oder aber in Berlin in der Britzer Mühle. Dabei lernen die angehenden "Diplom-Windmüller" nicht nur alles über die Mühle und wie sie täglich in Schuss gehalten werden muss. Sie bekommen vor allem ein Gefühl für das Mahlen und dafür, dass "die Mahlsteine singen müssen", das heißt in idealer Weise aufeinander reiben.

Dass die Mühlen, insbesondere die Windmühlen, nicht nur als Symbol auf Mehlpackungen und allerlei anderen Lebensmitteln dienen, sondern auch in echt immer beliebter werden, verwundert Experten kaum. "Die Mühle ist ein imposantes Bauwerk", sagt der Erste Vorsitzende der Deutschen Mühlengesellschaft, Friedrich Rohlfing. Beim Anblick der Mühle würde den Menschen klar, wie elementar wichtig Mühlen für die Menschen waren und sind. Ganz abgesehen davon, dass von ihnen eine mystische Anziehungskraft ausginge, vielfach literarisch verarbeitet. Und was man heute so gut wie kaum noch sieht, die Produktion unserer Nahrung, würde man in der Mühle direkt sehen, riechen und hören. Nicht zuletzt würde einen die Mühle mit ihrer nachvollziehbaren Technik zurück in alte Zeiten versetzen.

Diese Sehnsucht nach alten Zeiten und nach dem vermeintlich idyllischen Landleben ist für den Kulturwissenschaftler Gunther Hirschfelder einer der Gründe, warum heutzutage Menschen Mühlen mögen. Und er betont den großen Anteil der Mühlen an unserem kulturhistorischen Erbe. Nicht umsonst sei "Müller" nach "Schmid" der zweithäufigste Nachname in Deutschland. Auch die gängige Redewendung "Wer zuerst kommt, mahlt zuerst" ist ohne die Mühlen nicht zu denken. Was heute ein Spruch ist, war im Mittelalter ein im Sachsenspiegel festgehaltenes Recht, das besagte, dass auch Adlige an der Mühle keinen Vorzug bekamen, sondern dass der Reihe nach bedient, das heißt, der Sack Getreide vermahlen wurde.

Neben dem Bedürfnis "sich historisch zu verorten" sieht der Stadtsoziologe Dieter Läpple indes auch Zukunftspotenzial in den traditionellen Mühlen. So könnte ihnen eine Nischenfunktion zukommen in einer bewussteren Nahrungseinstellung. Denn es gehe nicht mehr um die traditionelle Nahrungssicherheit, sondern vor allem um "nutrition", um den Nährwert. Und Läpple erinnert daran, dass Mühlen auch immer Energielieferanten waren. Versuche, in den Windmühlen den Wind nicht nur zum Mahlen zu gebrauchen, sondern auch Strom herzustellen gab und gibt es immer wieder. Wie weit die Technik in den jeweiligen Mühlen gediehen ist, lässt sich am besten vor Ort überprüfen. Denn die Mühlen und ihre Betreiber freuen sich über Besucher und grüßen sie in Manier der Müller mit "Glück zu!"


Weitere Informationen unter:

www.muehlen-dgm-ev.de

www.windmuehle-johanna.de

www.marzahner-muehle.de

www.riepenburger-muehle.de

www.britzer-muellerverein.de

www.muehlenverein-selfkant.de

Dipl.-Ing. Darijana Hahn
Autorin

Kulturwissenschaftlerin

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