Selbstversorgung und genossenschaftlicher Bodenbesitz als Grundidee

Luft, Licht, Sonne - Gartenstädte der Lebensreform

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Eine Reihe schmaler Reihenhäuschen in einer baumlos engen Straße mit einem zarten Vorgartenstreifen. Eine zentrale Straße, die auf einen nach Lindenblüten duftenden zentralen Platz führt. Hier finden wir ein Restaurant, einen kleinen Laden, einen Seniorentreff, eine Schule sowie eine Kirche. Am kleineren, ebenfalls baumbestandenen Nachbarplatz stehen etwas größere Einfamilien-Reihenhäuser. Mehrstöckige Mietshäuserzeilen bilden den Rand der Siedlung. Zwischen den Häuserzeilen finden sich in großen grünen Gevierten die zusammenliegenden Gärten. Obschon eigentlich kleine Gärten bieten sie in ihrer Gesamtheit dem auf den Arbeitswegen hindurch wandernden Spaziergänger ein Gefühl von Sonne und Freiheit, Licht und Luft. Einige sind säuberlich gepflegt, neuerdings andere aber auch verwahrloste Gärten: abgestorbenen Obstbäume und allerlei Müll. Umso mehr erfreuen die in manchen Gärten hohen Obstbäume früherer Zeiten. Dazwischen wenige frisch angelegte Gemüsebeete. Anderswo gackern sogar Hühner.

Wir befinden uns in der Gartenstadt Staaken bei und heute in Berlin-Spandau. In ihrer Anlage vom Torbogen bis zum zentralen Platz mit den Reihenhausstreifen rings um die zwischen den Häuserzeilen liegenden Gärten, gleicht sie anderen Gartenstädten. Der bescheidene Zuschnitt der Häuser ähnelt denen der Vorläufersiedlung von 1893, Eden bei Oranienburg. Diese ursprünglich als vegetarische Obstbaukolonie gegründete Anlage wird daher vom Chronisten der Berliner Gartenstädte, Friedrich Wolff, als erste Gartenstadt verstanden.¹ Von ihrer Anlage her jedoch ähnelt die Gartenstadt Staaken den ersten Gartenstädten des Kaiserreichs, nämlich der Gartenstadt Hellerau bei Dresden sowie der Gartenstadt Rüppurr bei Karlsruhe. Diese wiederum waren vom Vorbild der Garden City Letchworth inspiriert, die ab 1903 nördlich von London angelegt worden war. Kurz vor dem ersten Weltkrieg waren die Intellektuellen, Sozialreformer und Frauenbewegten Europas begeistert von der Idee der Lebensreform: Licht, Luft, Sonne und Grün auch in den Städten, und auch für Arbeiterfamilien! Es entstanden erste vorbildliche Werkssiedlungen und in ganz Europa wurden ähnliche Gartenstädte geplant.² In Berlin entstanden ab 1910 die Gartenstädte Frohnau, die "Freie Scholle" bei Tegel, die Tuschkastensiedlung in Falkensee und die Heimstättensiedlung bei Erkner und viele andere mehr.

Die zentrale Idee war, raus aus den sonnenlosen Innenstädten und krisenbedrohten Arbeitern und ihren Familien, mager verdienenden kleinen Handwerkern und Beamten ein bescheidenes Wohnen im Grünen zu ermöglichen. Es war eine sogenannte Bewegung für "Lebensreform" entstanden, die gesundheitserhalten Lebensbedingen für alle forderte, also genügend Licht, Luft, Sonne und Auslauf im Grünen für jedermann.³ Es gab - so wie heute in ganz Afrika - noch kaum Kurzarbeits- oder Arbeitslosengeld und erst recht keine Sozialhilfe für allein stehende Mütter oder Witwen. Deshalb war beim Gartenstadt-Gedanken zentral die Möglichkeit der Selbstversorgung mit Gemüse aus dem eigenen Garten, wie unter anderem der Landschaftsplaner Leberecht Migge sie beschrieb.

Wie in den Kleingärten galt daher nach ihrer Etablierung qua Gesetz in der frühen Weimarer Republik, also nach November-Revolution und Kriegsende 1918 ein "Gemüseanbau-Gebot". Zumindest in den 1920er-Jahren in den vom Staat geförderten Gartenstadt-Siedlungen, wie etwa der Gartenstadt Neu-Tempelhof gegenüber dem heutigen Tempelhofer Feld. Die kleinen Anbauten, die an den Häusern heute noch auffallen, waren als Schuppen für die Gartengeräte oder als Stall für Hühner, Kaninchen oder sogar Ziegen gedacht. Einige Obstbäume waren daher trotz bescheidenem Zuschnitt der Gartengrundstücke Pflicht. Gärten waren also zentral in diesen Siedlungen und nicht nur, wie heutige neuere Veröffentlichungen suggerieren mögen, nur schmückendes Beiwerk.4

Um die Grundstücke, auf denen die Häuser standen, vor Preistreiberei durch Verkauf zu bewahren, war das zweite Hauptprinzip der idealen Gartenstadt die genossenschaftliche Verfasstheit. Besonders wichtig war der gemeinsame Besitz von Grund und Boden, wofür der Berliner Arzt und Publizist Franz Oppenheimer sich in Wort und Tat einsetzte.5 In der Regel besaß die Gartenstadtgenossenschaft den Boden und die Häuser und die Mitgliedsgenossen mieteten ihr Haus oder ihre Wohnung von der Genossenschaft. Die genossenschaftliche Verfasstheit hielt sich in vielen Fällen, wie in der Obstbaukolonie Eden, in Karlsruhe-Rüppurr, in der "Freien Scholle" und auch in der Gartenstadt Staaken.6 Daher sind in Gartenstädten wie Staaken die Mietpreise für die Alteingesessenen bis heute sehr günstig. Überall dort, wo das Wohnen bezahlbar blieb, in Gartenstädten und ähnlichen Reform-Siedlungen der 1920er-Jahre, ist die soziale Bindung ans Quartier stark, viele Familien wohnen dort in der dritten Generation.

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Lebensformer und andere Sozialisten

Die Gartenstadtidee kam bereits im frühen 19. Jahrhundert auf, als zunehmend mehr Arbeiter mit ihren ganzen Familien in unwirtlichen von Holz- und Steinkohle schwarz geräucherten Fabrik-Vierteln leben mussten.7 Der Berliner Architekt Julius Posener, Professor an der Technischen Universität, vertritt die Auffassung, dass die Gartenstadtidee um 1869 entstand, als vor den Toren New Yorks auf Long Island eine neue Siedlung geplant wurde. Sie wurde nach den Vorbildern Chicago und Christ Church (in Neuseeland) als "Gartenstadt" konzipiert.8 Die Idee selbst ist natürlich älter. Beispielsweise wurde die Stadt Philadelphia in Pennsylvania vom deutschstämmigen Quäkerprediger William Penn 1681 als Gartenstadt als eine "Gemeinde der Gleichen" mit gleichgroßen Gartengrundstücken für alle gegründet. Übrigens mit gutem Erfolg. 1786 war die Stadt die reichste Stadt der USA, so dass die Unabhängigkeitserklärung hier verlesen wurde.

Im 19. Jahrhundert jedoch als vom Land vertriebene Kleinbauern in den Bergwerken und den daneben entstehenden Industrien verelendeten, hatten unter anderem Bettina von Arnim 1843 mit ihrem "Dies Buch gehört dem König" wie auch Friedrich Engels 1845 auf das elendige Hausen ". . . der arbeitenden Klassen. . . " in Preußen wie in England hingewiesen. Daraufhin begannen einige Industrielle in England, Frankreich wie auch im Kaiserreich mit einem menschenfreundlicheren Werkwohnungsbau, wo Licht, Sonne und Betätigung im Haus-Garten zu den bescheidenen Wohnungen dazu gehörten. Vor allem für die Frauen der Arbeiter und ihre Kinder war diese Siedlungsform ein großer Gewinn. Sie kamen an die frische Luft und so auch ins Gespräch mit den Nachbarinnen.

1898 fasste der englische Genossenschaftssozialist und Parlaments-Stenograph Edward Howard den damaligen Diskurs in einem Buch zusammen: "Tomorrow. A peaceful path to real reform." Bekannt wurde es erst ab der dritten Auflage 1902 unter dem neuen Titel "Garten-Cities of Tomorrow". Nun wurde es auch übersetzt und erschien hierzulande unter dem Titel: "Gartenstädte in Sicht". Angeregt durch den Sozialisten und "Art und Craft"-Vertreter William Morris9 plädierte Howard für völlig selbstständige Siedlungen auf kommunalem Grund und Boden. Sie sollten mit allen notwendigen Versorgungseinrichtungen versehen sein einschließlich Handwerk und Industrie - umgeben von den notwenigen landwirtschaftlichen Betrieben. Denkbar war die Angliederung an eine Großstadt mittels Bahnverbindung. Er kannte die bereits existierenden Vorbilder. Darunter war die vegetarische Siedlungsgenossenschaft Eden bei Oranienburg. Deren Gründergruppe wollte es Erwerbslosen und wenig verdienenden Handwerkern ermöglichen, sich durch Subsistenzwirtschaft und auf Verkauf gerichteten Gartenbau zu ernähren. Eden existiert noch heute, weil am genossenschaftlichen Besitz von Grund und Boden nicht gerührt wurde.

Anfänge

1902 wurde die Deutsche Gartenstadt Gesellschaft gegründet und zwar durch zeitweilig in Friedrichshagen resp. später am Wannsee zusammenwohnende Dichter und Anarchisten vom Friedrichshagener Dichterkreis beziehungsweise der neuen Gemeinschaft. Dazu gehörten die Brüderpaare Bernhard und Paul Kampffmeyer (1862-1946 beziehungsweise 1864-1945), Heinrich und Julius Hart (1855-1906; 1859-1930) aber auch Gustav Landauer, Erich Mühsam und andere.10 1908 tat sich die Gartenstadt Gesellschaft mit der "Gesellschaft für Bodenreform" zusammen, die bereits 1888 entstanden war. Ein Aufruf an die Industriellen Berlins, Gartenstädte zu ermöglichen, blieb folgenlos.

Daraufhin schrieb die Gesellschaft zur Förderung der Gartenstadt-Idee 1910 einen Wettbewerb "Groß-Berlin" aus, der Berlin von einem Ring von Gartenstädten umgeben sollte, was dann tatsächlich im Lauf der Jahre auch Realität wurde. Frohnau war eine der ersten Gartenstädte, die in Berlin ab 1910 tatsächlich gebaut wurde. Sie wurde ermöglicht durch die gemeinnützige Terraingesellschaft des Fürsten Donnersmarck.¹¹ Weil jedoch ohne öffentliche Förderung erbaut, wurde sie de facto eine Siedlung des Mittelstandes, wenn auch mit bis heute ökologisch überzeugend bedacht angelegten Grünanlagen. Frohnau wurde also im eigentlichen Sinne insofern nicht zur Garten-Stadt, da hier kein gemeinsamer Bodenbesitz angestrebt wurde. Vielmehr verkaufte die Berliner Terrain-Gesellschaft das Land an die jeweiligen Bauherren.

1912 beauftragte die "Berliner Bau- und Wohnungsgenossenschaft von 1892 eG" der Gartenstadtgesellschaft Bruno Taut, die Gebäude für eine Gartenstadt in Bohnsdorf zu entwerfen, der heutigen Tuschkastensiedlung Falkensee. Diese Gartenstadtidee inspirierte in den 1920er-Jahren viele sozialpolitisch aktive Stadtverwaltungen zu ähnlichen Projekten, wie in Berlin etwa die Hufeisen-Siedlung in Britz. Viele wurden jedoch - wie die Hufeisensiedlung - nach 1989 privatisiert und sollten seither nach Aussagen einer Maklerin zahlungskräftigen "Ingenieuren und Zahnärzten" vorbehalten sein.¹²

Diese Privatisierungen heute widersprechen der Idee der Bodenreform, die für die Vision der Gartenstadt zentral waren. Die damals verfochtene Idee der Gartenstadt war eher eine soziale Einrichtung und entsprach heutigen humanökologische Ideen, als dass sie rein als eine besondere Architekturform verstanden werden kann. Die damals sogenannte "Bodenfrage" hatte sich im Verlauf des 19. Jahrhundert als zentral herausgestellt. Immer wieder hatten Autoren auf die Notwendigkeit von Bodenreformen hingewiesen, seit den 1850er-Jahren hatten im Kaiserreich Autoren wie Heinrich Gossen oder Theodor Stamm zur "Bodenfrage" publiziert. Die 1880 vom Arzt Stamm gegründete "Landliga" wurde 1886 Opfer der Sozialistengesetze, jenes Ausnahmerechts unter Bismarck, das auch bürgerliche Reformbestrebungen traf. An der Bodenfrage rühren zu wollen, war in den Augen der Behörden "Kommunismusverdächtig". Zwei Jahre später, 1888, wurde von einem ehemaligen Fabrikanten, Michal Flürschein, ein "Bund für Bodenbesitzreform" neu gegründet. In seiner Zeitschrift "Freiland" plädierte er - wie seine Vorgänger - für eine Verstaatlichung allen Bodens, da er das Privateigentum an Boden als Ursache aller Wirtschaftskrisen begriff. Der Staat sollte das Land verpachten. Den Wertzuwachs eines Stück Grund und Bodens würde der Pachtzins zeigen; er sollte als Steuer gezahlt werden.

Genossenschaften

Bei Howard war das wichtigste Prinzip der Gartenstadt der genossenschaftliche resp. kommunale Bodenbesitz. Infolge der zunehmenden und bedrängenden Wohnungsnot mit Krankheitsfolgen wie Ruhr, Cholera und Tuberkulose wusste man, dass man ein ungesundes Hochtreiben der Wohnungs- und Bau-Preise nur durch kommunalen oder genossenschaftlichen Bodenbesitz verhindern konnte. Die Fläche einer Gartenstadt sollte also nach den Ideen von Howard resp. der Berliner Gartenstadt-Gesellschaft nicht Privateigentümern, sondern der Gemeinschaft aller Bürger gehören. Damit sollte Bodenspekulation verhindert werden, die in nahezu allen Großstädten zu unerträglich hohen Mieten geführt hatte. Das erschwerte das Einrichten der Gartenstädte allerdings, weil nun neben dem passend großen Grundstück zugleich Geldgeber gefunden werden mussten, die Kapital für den Erwerb des Bodens vorschießen konnten. Die zukünftigen Gartenstadtbewohner sollten dann für ihre Grundstücke eine Pacht an den Treuhänder zahlen, der somit im Verlauf von etwa zwei Jahrzehnten seinen Vorschuss zurückbekommen konnte.

Bis heute sind die sozial erfolgreichen Gartenstädte Genossenschaften oder liegen auf staatlichem resp. kommunalem Land. Sowohl die Obstbaukolonie Eden, heute Teil Oranienburgs, die Siedlung "Freie Scholle" in Tegel oder die Gartenstadt Staaken sind bis heute Genossenschaften. Die Schöneberger Lindenhof Siedlung wurde in der NS-Zeit 1941 einer größeren Genossenschaft zugeführt und gehört heute zur GeWoSüd.¹³ Die Siedlung Lindenthal in Marzahn-Hellersdorf wurde 1919 von der "Genossenschaft für Kolonisation e.G.m.b.H." gegründet. Sie wurde während der NS-Herrschaft dem "Reichsbund für Kleingärtner und Kleinsiedler" angegliedert und erfuhr im Wendeprozess nach 1989 die Auflösung durch überhöhte Ablösesummen von "Alteigentümern" und die Bodenpolitik der Treuhand resp. BVVG.14 Die Gartenstadt-Siedlung Lentzeallee wurde als Gartenstadt-Siedlung - ähnlich angelegt wie die Gartenstadt Staaken - von der Preußischen Finanzbehörde 1919 errichtet. Wie auch in anderen Gartenstädten hatten die in den Mietswohnungen der Umgebung Wohnenden das Recht, durch die Gärten zu spazieren. Die Siedlung verlor ihren Genossenschaftsstatus nach der Wende und wurde vom Bezirk Wilmersdorf privatisiert und verkauft. Der ehedem sehr preiswerte Wohnraum verschwand. Der starke soziale Zusammenhalt in der Siedlung löste sich auf. Die freie Durchwegung bzw. der Fußweg für die Anwohner verschwand.

Gartenstadt-Siedlungen, die niemals Genossenschaften waren, wie die Gartenstadt Neu-Tempelhof, sind seit der Wende Opfer gewinnerheischenden Hausverkaufs geworden. Jene Arbeitslosen und Kriegsversehrten, für die sie ab 1919 staatlich subventioniert erbaut worden war, hätten heute hier keine Chance mehr.15 Die angenehme Wohnform: schmale Straßen, große Gartenareale und niedrige Reihenhäuser machte sie heute zur Siedlung für "Besserverdienende". Das Sperren der meisten Wirtschaftswege hindert die Bewohner von den die Siedlungen umrandenden Geschosswohnungen von dem Spazieren durch die Gärten. Den Gewinn einer vorbildlichen sozialpolitischen Anlage hat heute allein die kleine Gruppe der heutigen Bewohner oder ihrer Erben. Ursprünglich jedoch sollten die Gärten der Gartenstädte, wie es für die Kleingartenkolonien bis heute gilt, für die umliegenden Bewohner zu Erholungszwecken benutzbare Grünflächen sein.

Denkmalschutz

Dort, wo die Genossenschaften (oder der kommunale Bodenbesitz) erhalten blieben, kann der soziale Zusammenhang durch einen übertriebenen Denkmalschutz unterminiert werden. Das Weitergeben von Wohnungen wird durch Denkmalschutzauflagen erschwert. Im Rahmen des Denkmalschutzes verlangen Klauseln im Mietvertrag beispielsweise in der Gartenstadt Staaken den Rückbau aller Eigeneinbauten bei Auszug. Das bringt vor allem Ältere in Bedrängnis. Beispielsweise kann eine Seniorin mit der für Frauen typischen Durchschnittsrente von 700 Euro die Siedlung kaum mehr zu Lebzeiten verlassen, wie der mir aus berufenen Kreisen aus der Gartenstadt berichtet wurde.16 So wurde von einer alten Dame seitens der Geschäftsführung der Genossenschaft die Auflage des kompletten Rückbaus aller von ihr (und ihrem Mann) vorgenommenen Einbauten verlangt. Sogar notwendige "Einbauten" wie das Unterputzlegen von Leitungen oder die Modernisierung von Bädern sollten zurückgebaut werden. Die danach zudem anstehende Renovierung nach heutigem Stand sollte sie auch noch zahlen. Während in Staaken Alteingesessene noch 400 Euro Miete für ihre Wohnung von circa 70 Quadratmeter Wohnfläche zahlen, müssten die Neuen mit bereits 700 Euro rechnen.17 Das bringt vor allem Ältere in Bedrängnis, wenn sie ausziehen wollen, um etwa zu ihren Kindern zu ziehen. Hier wird das architektonische Erbe dem Erbe des sozialen Gedankens gegenüber bevorzugt. Von Gartenstadt kann in so einem Fall nicht mehr gesprochen werden. Schon gar nicht dann, wenn die Haushälften und Wohnungen bei Neuvermietung unbedacht an Familien vermietet werden, die für die Bestellung des Gartens keine Zeit haben.

Hier machen unsozial streng formulierte Denkmalschutz-Auflagen die kleinen Wohnungen für Arbeiter, Arbeitslose oder Rentnerinnen unerschwinglich. Der Denkmalschutz widerspricht damit den lebensreformerischen Ideen aus der heraus die Gartenstädte einmal entstanden sind. Auch die Gartenstadt Staaken wurde als sozialpolitische Reformsiedlung ins Leben gerufen, wie sie der Berliner Gartenstadt-Bewegung entsprach und wie wir aus den Memoiren Franz Oppenheimers wissen.18

Generell wurde Wohnbaugenossenschaften 1990 durch Gesetzesänderung auf Bundesebene ihre Gemeinnützigkeit abgesprochen. Die Genossenschaften der Gartenstadt Staaken wie auch etwa die der "Freien Scholle" bei Tegel (heute Reinickendorf) sind dennoch bewusst bei ihren alten Statuten geblieben.19 In Staaken sieht man sich weiterhin dem sozialen IdeaI verpflichtet, welches am Anfang des letzten Jahrhunderts mit diesen Siedlungen Wohnraum für die Arbeiter schaffen wollte. Heute ist die Genossenschaft als soziale Institution durch die neoliberale Gesetzgebung dermaßen gefährdet, dass sie in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen worden ist.20

Allerdings scheint die Professionalisierung der Geschäftsführung nicht unproblematisch. Sie führt dazu, dass Externe über die Geschicke der Gemeinschaft zu bestimmen haben, denen die sozialen Verhältnisse der Bewohnerschaft nicht bekannt sind. Geschäftsführer haben in der Regel ein ökonomisches Studium hinter sich, nicht jedoch eines der Soziologie, Geschichte, Sozialpolitik oder der Geografie /Umweltwissenschaften. Im Internet erscheint beispielsweise die Gartenstadt Staaken heute als reines Baudenkmal. Von den sozial denkenden Ideengebern und ideellen Gründern wie Franz Oppenheimer und Staatssekretär Clemens von Delbrück (1856-1921)²¹ ist nichts zu lesen. Wurde Oppenheimer vergessen, weil er jüdisch war? Warum wird die kritische Rezeption der Architektur der Gartenstadt Staaken als zum Teil als mittelalterliche Idylle, die frühe NSDAP-Mitgliedschaft des Architekten Paul Schmitthenner nicht erwähnt? ²² Erfolgte der Interneteintrag ausschließlich zur Erklärung des Denkmalschutzes resp. weitere Bautätigkeit in der Gartenstadt?²³

Ist es nicht viel sinnvoller, heute an die sozialen Ideale jener Zeiten und ihre Vertreter zu erinnern, anstatt heute etwas arg einseitig, ausschließlich an die Architekten, die doch ohne den Einsatz der Gartenstadt-Idealisten und-Aktivisten doch weder in Falkensee noch in Staaken zum Zuge gekommen wären?

Literatur

ANMERKUNGEN

¹ Für die kritische Lektüre des Artikels danke ich dem Berliner Architekten Norbert Rheinlaender. Friedrich Wolff, Gartenstädte in und um Berlin, Berlin: Baßmann Verlag 2016.

² Karl Kiem, Die Gartenstadt Staaken (1914-1917), Reihe Die Bauwerke und Kunstdenkmäler von Berlin, Berlin: Gebr. Mann Verlag 1997.

³ Vgl. dazu u. a. die verschiedenen Darstellungen in Diethard Kerbs, Jürgen Reulecke, Hrsg., Handbuch der Reformbewegungen, Wuppertal: Hammer Verlag 1998.

4 Das gilt sogar für das kenntnisreiche Buch von Friedrich Wolff, a.a.O.

5 Franz Oppenheimer, Die Siedlungsgenossenschaft. Versuch einer positiven Überwindung des Kommunismus durch Lösung des Genossenschaftsproblems und der Agrarfrage. Leipzig: Duncker & Humblot 1896; Franz Oppenheimer, Die soziale Bedeutung der Genossenschaft (1899) in: ders., Wege zur Gemeinschaft, Gesammelte Reden und Aufsätze, Bd.1, München: Max Huber 1927, S. 61-89.

6 In Staaken gehörte der Boden ursprünglich dem preußischen Staat, wurde bei Auflösung Preußens den Bewohnern als genossenschaftliches Besitz in Erbpacht angetragen.

7 Vgl. Max Mechow, Frohnau - Die Berliner Gartenstadt, Berlin: Stapp Verlag 1985, S. 15.

8 Vgl. Julius Posener, Aufsätze und Vorträge 1931-1980 Wiesbaden: Vieweg + Teubner Verlag 1981.

9 "Art and Craft" wollte zurück zum wirklichen Handwerk als Kunsthandwerk und war eine europaweite Bewegung, die so manchen Künstler ernährte. Ihre Erzeugnisse wurden in der Bundesrepublik bis in die 1980er-Jahre in sogenannten "Dürerhäusern" verkauft.

10 Siehe Richard Faber, Christine Holste (Hrsg.), Kreise - Gruppen - Bünde. Zur Soziologie moderner Intellektuellenassoziationen. Würzburg: Königshausen & Neumann 2000.

¹¹ Hinter der Berliner Terrain-Centrale steckte Guido Graf Henckel Fürst v. Donnersmarck, vgl. dazu insb. Max Mechow, Frohnau. . . , a.a.O.

¹² Information von einer wohnungsuchenden Berlinerin, die jedoch nicht genannt werden möchte.

¹³ Berliner Geschichtswerkstatt, Hrsg., "Das war 'ne ganz geschlossene Gesellschaft hier". Der Lindenhof: Eine Genossenschafts-Siedlung in der Großstadt. Berlin: Dirk Nishen Verlag 1987.

14 Theodoris Ioannidis, Wohnen und Zusammenleben in den europäischen Metropolregionen Athen und Berlin, Baden-Baden: Tectom 2017, S. 242 und passim.

15 Vgl. dazu u. a. Elisabeth Meyer-Renschhausen, Urban Gardening in Berlin, Berlin: Bebra Verlag 2016.

16 Informationen vom langjährigen Vorsitzenden Klaus Lehmann, den die Autorin mehrfach in Staaken traf.

17 Stand 2016. Information von Klaus Lehmann.

18 Franz Oppenheimer, Erlebtes, Erstrebtes, Erreichtes, 1931 Neuaufl. 1964; Vgl. dazu auch Elisabeth Meyer-Renschhausen, Vom Dritten Weg nach Eden: Franz Oppenheimer (1864-1942), in: Ästhetik & Kommunikation, Heft 85/86, 23.Jg. Mai 1994, S. 168-174 sowie Claus Bernet: Bürgerlich-intellektuelle Netzwerkstrukturen innerhalb von Baugenossenschaften: Berliner Gründer Franz Oppenheimer, Julius Post und Heinrich Albrecht. In: Genossenschaftsgründer und Genossenschaftsgründerinnen und ihre Ideen: Beiträge zur 2. Tagung zur Genossenschaftsgeschichte am 2. und 3. November 2007 im Warburg-Haus in Hamburg. Norderstedt 2011, S. 117-134.

19 Information, die die Autorin bei ihren mehrfachen Besuchen in den Siedlungen hierhielt, u. a. von Lehmann.

20 Anderseits wurde im Verlauf gerade auch der Berliner Geschichte deutlich, dass (Wohnbau-) Genossenschaften, die zu groß geworden sind, den sozialen Auftrag, aus dem heraus sie einmal gegründet worden sind, geneigt sind, zu vergessen.

²¹ Delbrück war ein sozial denkender Konservativer: vgl. Ritter, Gerhard A., "Delbrück, Clemens von" in: Neue Deutsche Biographie 3 (1957), S. 575 f., URL: www.deutsche-biographie.de/pnd116057866.html , letzter Zugriff 31.3.2020.

²² Etwa in den Vorlesungen des Berliner Professors für Religionswissenschaften Klaus Heinrich an der Freien Universität in den 1990er-Jahren. Paul Schmitthenner trat 1933 der NSDAP bei wurde zugleich in Berlin mit zahlreichen Ämter bedacht und galt - bevor er sich vom NS abwandte - zeitweilig "als erster Baumeister des nationalsozialistischen Staates" (https://de.wikipedia.org/wiki/Paul_Schmitthenner_%28Architekt%29, letzter Zugriff 1.4.2020).

²³ de.wikipedia.org/wiki/Gartenstadt_Staaken, letzter Zugriff 31.3.2020

Dr. Elisabeth Meyer-Renschhausen
Autorin

Freie Journalistin, Berlin

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