Introvertiertes Militärgebiet wird Schauplatz der Moderne

Nowaja Gollandija - ein neuer Stadtteil für St. Petersburg

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Überblick über die Insel Neu Holland. Foto: A. Savin, Wikimedia Commons, gemeinfrei

Es ist Sommer in der Stadt, das Wetter gibt sein Bestes mit über 30 Grad Celsius, das Leben findet außerhalb der aufgeheizten Wohnungen in der dichten, rechtwinkeligen Innenstadt statt. Kinder spielen auf großzügigen, gut unterhaltenen Rasenflächen mit frischem Grün und sauberer Pflegekante. Hier sitzen verteilt auf bunten Stühlen am Rand der blühenden Staudenbeete einige Senioren und lesen amüsiert Sorokins "Zuckerkreml". Smarte Angestellte örtlicher Büros verbringen ihre lunchtime mit ihren Kollegen in gut besuchten Biergärten und Restaurants mit gehobenen Speisen und Preisen. Es ist kaum ein Platz frei. Auf einer räumlich abgetrennten Teilfläche probieren sich Mädchen lachend beim Inlineskaten aus, während die Jungs auf den neuen Holzbänken und Podesten herumlungern und das muntere Treiben möglichst lässig beobachten und alles um sie herum als Teil ihrer Selbstinszenierung empfinden. Dabei übten hier vor wenigen Wochen noch die zukünftigen Eisprinzessinnen und -prinzen auf einer temporären 2000 Quadratmeter großen Eisbahn für die nächsten Winterspiele.

All dies passiert in der nördlichsten Millionenstadt der Welt: St. Petersburg - die Einheimischen nennen ihre Stadt liebevoll Piter - hat seit diesem Sommer einen neuen Stadtteil in seinem Kopf. Denn "Piter ist der Kopf, und Moskau ist das Herz", heißt es in Russland. Oder anders ausgedrückt: Moskau ist eine Stadt der Objekte und Sankt Petersburg eine Stadt der Räume. Während in Moskau die mittelalterliche Struktur einer radialen Entwicklung trotz der geschichtlichen Architekturentwicklung als sowjetische Idealstadt bis heute wirkt, die Stadt sehr flexibel ist, jede neuartige Struktur organisch einwachsen zu lassen, fällt in Piter, der durch Gründerwillen gerasterten Reißbrettstadt, alles Außergewöhnliche oder Herausragende wie zum Beispiel der neue Lachta-Tower der Gasprom-Zentrale am Finnischen Meerbusen sofort auf.¹

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Zum perfekten Dreiklang des Lebens gehören gutes Essen, kalte Getränke und ziemlich beste Freunde. Der Rest kann warten – bis die Mittagspause vorbei ist und die work-life-balance durch die berufliche Tätigkeit wieder ausgeglichen werden muss. Foto: Imago Images

Die Moderne bereitet Petersburg immer etwas mehr Kopfschmerzen als anderswo. Die dreieckige, künstliche Insel Nowaja Gollandija - Neu Holland - gibt es zwar etwa schon seit der Stadtgründung im Jahr 1703 durch Peter den Großen. Das im Jahr 1717 durch Kanalbauten entstandene Eiland war aber für fast 300 Jahre durch seine militärische Introvertiertheit dem Blick und der Nutzung der Öffentlichkeit entzogen. Das gesamte Ensemble war aus Sicherheitsgründen mit einer hohen Backsteinmauer umgeben, da die Wasserflächen im Winter alle zufrieren, und erlebte dennoch jeden Meilenstein der Stadtgeschichte.

Ein Rückblick im Zeitraffer

Peter der Große benötigte einen Flottenstützpunkt für die Manifestierung seiner Macht in der Ostsee, für und später nach dem Sieg über Schweden. Nachdem der spätere Zar Ende des 17. Jahrhunderts eine Europatour unternommen hatte, und dabei auch das Schiffszimmermannshandwerk in den Niederlanden erlernte, ließ er eine Admiralität an den Ufern der Newa bauen. Wie in Zaandam, einem Vorort Amsterdams, wo er in einem bis heute erhaltenen Häuschen auf der dreieckigen Insel Het Eiland arbeitete und lebte, errichtete er mit dem früh erworbenen Wissen unweit der Admiralität eine fortschrittliche Werft. Gollandija steht denn auch bis heute im Russischen synonym für die Begriffe Admiralität und Werft. Diese war äußerst gut logistisch und technisch aufgestellt und ließ mehr Kriegsschiffe zu Wasser als andernorts zu dieser Zeit.

Es kann als eine frühe Form der Industriespionage angesehen werden, dass Peter der Große sich vor Ort abschaute, wie die Holländer Windmühlenkraft mit Sägewerken verbanden und somit 30-mal schneller Schiffe bauen konnten als die gesamte internationale Konkurrenz des 17. Jahrhunderts. Die einheitlichen Gebäudefassaden in niederländischem Backsteinbarock von Vallin de la Mothe wirken bis heute im Kontrast zum italienisch-französischen barocken Gesamtbild der Stadt als eine gewisse Reminiszenz an seine holländischen Erfahrungen.

Die erhaltenen Gebäude zeugen noch aus einer Zeit, wo der in die neue Hauptstadt ziehende Adel und Kaufleute per Dekret von 1762 gezwungen wurden, Natursteinmaterial für Fundamentarbeiten, Ufermauern und Straßenbau in diese Sumpfgegend mitzubringen. Von 1765 stammt denn auch die erste große Projektierung des Architekten Savva Tschewakinskij für Neu Holland. Ab 1773 folgen erste Waren- und Lagerhäuser, ein großer Rundbau wird 1779 fertiggestellt, 1782 das Balkensystem der großen, 23 Meter hohen, Werfttore instandgesetzt, durch die der Stapellauf auf die Newa erfolgte. Balken für den Schiffbau wurden hier nach einer neuartigen, angelupften Methode für die weitere Verarbeitung getrocknet. Ab 1828 wird ein Marinegefängnis für 500 Insassen projektiert und 1830 nach neuesten Erkenntnissen aus europäischen Vollzugsanstalten fertiggestellt. 1847 kommen ein Lagergebäude und eine Gießerei hinzu, die Konstruktion erfolgte durch den Militär-Ingenieur Michail Pasypkin.

Nun nimmt die Entwicklungsgeschichte Fahrt auf: Im Jahr 1890 werden Gebäude eines militärischen Fleischlagers in ein neues Laborgebäude umgewandelt, wo nun rauchfreies Schießpulver entwickelt werden soll. 1892 wird ein sogenanntes Wassertank-Gebäude eröffnet, in dem das Strömungsverhalten von maßstabsgetreuen Schiffsmodellen getestet wird. Schiffbau wird nun wissenschaftlich-analytisch durchgeführt. Der bekannte Schiffsbauer Alexey Krylow entwickelt hier die ersten russischen Unterseeboote. 1915 nimmt auf dem Gelände die leistungsstärkste Rundfunkstation Russlands ihren Dienst auf, 1917 nutzt Wladimir Lenin diese für neuartige Radioübertragungen während der Revolution. Während des 2. Weltkrieges wird die Bausubstanz stark beschädigt, danach versinkt die Insel im Tiefschlaf des städtebaulichen Gedächtnisses. Die von der Marine ungenutzten Gebäude rotten vor sich hin. Erste Ideen, die Insel in ein kulturelles Zentrum umzuwandeln, werden bereits 1977 durch den Architekten Veniamin Fabritsky formuliert, aber erst nach 1990 kommt langsam Bewegung in den Schlaf. Nach Abzug des Militärs verfallen weitere Teilbereiche zusehends und die offenen Flächen wuchern zu.

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Auf der großen zentralen Rasenfläche ist genug Platz für verschiedenste Aktivitäten. Für Kinder steht das Event zum Drachensteigenlassen immer fest im Kalender. Foto: Imago Images
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Wie ein nicht fertiggestellter Schiffsbau steht die Fregatte Petr und Pavel mächtig und erhaben auf dem Kinderspielplatz. Hier kann jedes Kind zum Kapitän aufsteigen und durch Fernrohre weit voraus schauen. Foto: Imago Images

Im Zeitraum von 2000 bis 2005 werden der große Wassertank und weitere Bestandsgebäude sehr plötzlich abgerissen, nachdem die Eigentums- und Nutzungsrechte der Insel neu vergeben wurden. Die seit 2004 zuständige Administration von St. Petersburg beabsichtigt in der Folge auf der ungefähr 2,2 Hektar großen Insel einen zentralen Kunstraum für freischaffende Künstler anzubieten, der auch den historischen Baumbestand mit zirka 200 Altbäumen, größtenteils Eichen und Weiden sowie eine überkommene Lindenallee umfasst.

2006 wird für den Wiederaufbau von Neu Holland ein Architekturwettbewerb ausgelobt, den das Büro Sir Norman Forster gewinnt. Infotafeln preisen bereits eine "Insel für Geschäft und Freizeit" mit einer ganz gewöhnlichen Shoppingmall an. Schon im Jahr 2009 aber kommt die Planung - vermutlich im Kontext der weltweiten Finanzkrise - zum Erliegen und das Projekt wird gestoppt.

Von der Stadt wird im Dezember 2010 ein neuer Wettbewerb für ein Entwicklungskonzept ausgelobt, den die Investmentgesellschaft Millhouse LLC des vermögenden Roman Abramowitsch gewinnt. Mit im Boot: die Iris-Stiftung, die unter der Leitung seiner Lebenspartnerin Darya Schukowa das wieder berühmte Busdepot von Konstantin Melnikow aus dem Jahre 1927 in Moskau restaurieren ließ und dort seitdem die erfolgreiche "Garage" als ein anerkanntes Zentrum für internationale Kunst betreibt.

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Die ornamentalen Staudenbeete bieten die Möglichkeit, sich an Blühstauden zu erfreuen. Foto: Jörg-Ulrich Forner
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Die weitläufige Anlage bietet auch Mobiliar an, um den Ort in kleinen Gruppen zu genießen. Foto: Jörg-Ulrich Forner
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Die Staudenplanung sieht auch Gräser für die Herbstzeit vor. Altbäume wurden integriert. Foto: Jörg-Ulrich Forner

Schon 2011 wird die Insel erstmals wieder zaghaft für die Öffentlichkeit geöffnet und durch die Iris-Stiftung in Kooperation mit der Londoner Architecture Foundation ein Gutachterverfahren und dann ein architektonischer Ideenwettbewerb ausgeschrieben, um für Neu Holland mögliche Wege in die moderne Zukunft auszuleuchten.

Sehr medienwirksam, zumindest in Russland, wird die obere Liga der Architekturgranden mit Chipperfield, Lacaton/Vassal, MVRDV und OMA zur Teilnahme geladen. Die "russische Quote" wird durch zwei einheimische Büros, unter anderem Studio44 aus St. Petersburg gebracht. Keine Jury, sondern ein "Beratergremium" aus englischen und russischen Kunstkritikern empfiehlt der Ausloberin schließlich den Entwurfsbeitrag des New Yorker Büros WORKac für diesen speziellen geschichtsträchtigen Ort in Verbindung mit einem Kulturzentrum.² Doch dieser Gestaltungsvorschlag wird 2013 für einen stärker dem Freiraum zugewandten Entwurf beiseite gelegt, der gleichfalls Kraft aus den immer erfolgreicheren, jährlich stattfindenden Sommerprogrammen zog.

Erste Teilbauabschnitte werden für die Architektur im Mai 2013 eröffnet. Zu dieser Saisoneröffnung kommen nahezu 120.000 neugierige Besucher auf die Insel, die das unglaubliche Interesse an diesem neuen-alten unbekannten Ort ablesbar machen. Das Saisonfinale mit einem großen Abschlussevent bleibt im Kopf.

Im Jahr 2014 dann legt das Büro West 8 ein Konzept zur Revitalisierung des Gesamtkomplexes vor, das vom St. Petersburger Investitionsausschuss und dem Rat für die Erhaltung des Kulturerbes genehmigt wird. In dem Masterplan sind verschiedene Freirauminterventionen vorgesehen. Die planerische timeline des niederländischen Büros bestimmt für die Revitalisierung der Insel insgesamt vier Phasen (2016, 2019, 2021 und 2025).

So entsteht in der ersten Phase ein großzügiger Kinderspielplatz mit einem übergroßen Schiffsrumpf der Fregatte Petr und Pavel. Diese einzigartige Kletterkonstruktion zieht alle Kinder sofort in ihren Bann, sobald sie das phantasievolle Holzbauwerk vom Eingangsbereich aus sehen. Auch die Bepflanzung mit aufwendigen ornamenthaften Staudenflächen ist ein wesentlicher Aspekt, der die überraschten Besucher im Innern der Anlage erwartet.

Diese Elemente sind Teile des im Jahr 2016 feierlich eröffneten Parks im Kern der historischen Monumente. Weitere neue Attraktionen sind lokal gestaltete Temporärbauten wie Bühne, Galerie und Besucherinformationszentrum der Architekten Sergey Bukin und Lyubov Leontieva. Von den sanierten Altbauten sind das runde Militärgefängnis, eine Schmiede und das Marineoffizierscasino mit neuen Funktionen wie einem Restaurant, Boutiquen, Buchshops, Übungsstudios und Cafés ebenfalls nach Abschluss der zweiten Phase seit diesem Jahr für Besucher geöffnet.

Sobald bis 2025 alle Renovierungsarbeiten an den Architekturdenkmälern abgeschlossen sind, stehen den Petersburgern und ihren Besuchern dann alle noch vorhandenen historischen Lagergebäude sowie ca. 3,7 Hektar städtischer Freiraum in der Nähe des Laborplatzes und des Kryukov-Kanals zur Verfügung.

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An sehr kühlen Regentagen bleiben die mobilen Stühle frei, dicke Wassertropfen rollen von den Blättern des Frauenmantels. Die dahinter liegende, geschmackvoll zum Grill-Restaurant umgebaute Alte Schmiede dient dann als gemütlicher Treffpunkt und wird abends zum Club. Foto: Jörg-Ulrich Forner
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Von der Terrasse der Alten Schmiede hat man einen Blick über die üppigen Staudenbeete zum Kinderspielplatz hinüber. Im Hintergrund warten die historischen Lagergebäude beiderseits des Vallin-de-la-Mothe-Werfttores auf deren Sanierung in den verbleibenden zwei Sanierungsphasen bis 2025. Foto: Jörg-Ulrich Forner

Neu Holland stellt dann eine "Stadt in der Stadt" dar. Die Insel ist Ort für eine Vielzahl an neuen Programmen und Funktionen, die Büroräume, Kulturbereiche, Ausstellungsräume, Restaurants und kleine bis mittelgroße Einzelhandelszonen umfassen werden. Die geschichtlichen Bauwerke liegen bereits jetzt alle auf einem frischen grünen Rasenteppich, der durch wassergebundene Wege, Wasserflächen und ornamentale Staudenrabatten in großzügige Teilbereiche untergliedert wird. Das ganze Jahr über werden hier Veranstaltungen angeboten, darunter Open-air-Musik, Kinderfeste, Vorträge, kleine Bühnenstücke und viele temporäre Kunstinstallationen. Die Iris-Stiftung unterstützt dabei örtliche Künstler und internationale Ausstellungsprojekte.

Über die gesamte Stadtgeschichte wurde dieser besondere künstliche Ort von den führenden Architekten, Ingenieuren und kreativen Köpfen jeder Epoche geprägt, die Neu Holland den Ruf als Insel der Erfinder und Wissenschaftler einbrachten.

Daran schließt sich nun ein neuer Lebensabschnitt der Insel an. Dabei ist es einerseits das Ziel, die gebauten Architekturen und Industriedenkmäler als bekannte Elemente des Stadtbildes zu sanieren als auch ein neues Angebot für die urbane Lebensqualität zu entwickeln, die diesen Stadtteil in einen lebendigen, multifunktionalen Stadtbaustein verwandelt. Hier sind neben vielen Büros und Ladenstandorten auch die meisten intellektuellen und öffentlichen Einrichtungen zu finden, die für kreative Köpfe international attraktiv sind und den Petersburgern neue Gestaltungsperspektiven bieten. Der lange Prozess um die Rekonstruktion der Insel Neu Holland stellt wie die Wettbewerbe zur Erweiterung des Mariinski-Theaters wichtige Meilensteine beim Brechen des Moderne-Tabus in der Stadtentwicklung St. Petersburgs dar.

Anmerkungen

¹ Vgl. auch Frolow, Wladimir, Sankt Petersburg versus Moskau, in: StadtBauwelt 36, 2011.

² Vgl. auch Kil, Wolfgang, Abramowitschs Neu Holland. Urbanisierung eines ehemaligen Militärgeländes in St. Petersburg, in: StadtBauwelt 36, 2011.

Prof. Dr.-Ing. Jörg-Ulrich Forner
Autor

Beuth Hochschule für Technik Berlin, FG Bautechnik, Bauabwicklung und Projektmanagement

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