Geschichte und Zukunft internationaler Friedhöfe

Ohlsdorf 2050 - Eine Tagung zur Friedhofsentwicklung

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Der Hauptfriedhof Ohlsdorf in Hamburg – fast 400 Hektar Gräber und Park. Quelle: http://www.geoportal-hamburg.de/Geoportal/geo-online

Die Friedhöfe in Deutschland leiden unter schwindenden Bestattungszahlen. Dabei haben sich die Sterbeziffern nicht wesentlich geändert. Etwa seit dem Jahr 2000 sterben jährlich zwischen zehn und elf Menschen auf 1000 Einwohner, durch den hohen Anteil älterer Menschen werden es tendenziell eher mehr.1 Die Ursache ist vielmehr in der Veränderung der Bestattungskultur zu suchen: Sie benötigt immer weniger und kleinere Grabstellen. So ist die Friedhofspflege kaum mehr über die Bestattungs- und Grabgebühren zu bestreiten, vielerorts sind die Friedhöfe inzwischen auf öffentliche Zuschüsse angewiesen.

Harte Fakten

Wer über den europaweit größten Friedhof, den 1877 weit außerhalb Hamburgs eröffneten und nach 1914 auf etwa doppelte Größe (400 ha) erweiterten Hauptfriedhof Ohlsdorf spaziert, dem wird das Problem deutlich vor Augen geführt: Viele Grabquartiere sind nur noch lückenhaft besetzt oder völlig leergeräumt. Seit 1989 gingen die aktiven Grabstellen um 31 Prozent zurück, die Belegung reduziert sich jährlich um zwei Prozent, so dass die Nettograbfläche nur noch elf Prozent beträgt. Durch vermehrte Urnenbeisetzungen (ca. 70–80 %) verringert sich der Flächenbedarf drastisch, entsprechend sinken die Gebühreneinnahmen. Massiver Instandsetzungsstau zeigt sich bei Grünflächen, Infrastruktur und Hochbauten. Seit 2013 ist Ohlsdorf geschütztes Gartendenkmal mit zahlreichen Baudenkmalen wie Mausoleen, Friedhofskapellen und -gärtnereien, Wassertürmen und mehreren tausend historischen Grabmonumenten.

Die für die Aufsicht über das Friedhofswesen zuständige Behörde für Umwelt und Energie hatte die Zeichen der Zeit erkannt. Zusammen mit den Hamburger Friedhöfen – Anstalt öffentlichen Rechts (HF-AöR) als Kooperationspartner hatte sie beim Bund den Projektantrag „Ohlsdorf 2050“ zur Förderung aus dem Programm Nationale Projekte des Städtebaus gestellt. Seit 2014 wird das Projekt aufgrund seiner Beispielhaftigkeit mit zwei Millionen Euro gefördert. Schon im vergangenen Jahr hatte die Behörde mit der Friedhofsverwaltung mehrere Workshops zur Strategieentwicklung für die nächsten 30 bis 40 Jahre veranstaltet. Der vorläufige Abschluss dieses öffentlichen Diskussionsprozesses war das Ende April von der Friedhofsverwaltung in Kooperation mit der Behörde für Umwelt und Energie und dem Denkmalschutzamt der Kulturbehörde organisierte Symposium mit rund 100 Teilnehmern.

Beispiele aus Berlin

Die beiden größten Städte Deutschlands unterscheiden sich in ihrer Friedhofsstruktur erheblich. Während sich in Hamburg rund 900 Hektar Friedhofsfläche auf 53 Friedhöfe verteilen, wobei 15 Friedhöfe auf gut 700 Hektar staatlich verwaltet werden und allein fast 500 Hektar auf Ohlsdorf und Öjendorf entfallen, bietet Berlin ein völlig anderes Bild. Zahlreiche kleinere Ruhestätten liegen im konzentrisch gewachsenen Stadtkörper eingestreut. So verteilen sich heute gut 1100 Hektar auf 220 Friedhöfe (davon 182 geöffnet), von denen 84 auf 578 Hektar staatlich verwaltet sind.2 Einige ältere wurden nach und nach in Grünanlagen umgewandelt.

In einem einführenden Beitrag über „Innerstädtische Ruheräume – Denkmallandschaften in der Großstadt“ stellte Prof. Dr. Gabi Dolff-Bonekämper beispielhaft vier Friedhöfe vor.

Viele jüdische Friedhöfe wurden in der NS-Zeit zerstört, so auch der an der Großen Hamburger Straße, der als ältester jüdischer Begräbnisplatz Berlins 1671 angelegt und 1827 geschlossen, 1948 restituiert und als Grünfläche hergerichtet wurde. Die 2007/2009 vorgenommene denkmalgerechte Instandsetzung interpretierte den Grünraum mit einer bodendeckenden Efeupflanzung als großes Grab und Memoriallandschaft.3 An der Mauer angebrachte Grabsteine und der rekonstruierte Gedenkstein für den aufklärerischen Philosophen Moses Mendelssohn (1729–1786) verweisen auf die Geschichte.

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Berlin, Alter Garnisonsfriedhof – ein Museumspark in der Stadt. Foto: Gabi Dolff-Bohnekämper
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Der Jüdische Friedhof Alter Hamburger Straße, Berlins ältester jüdischer Friedhof. Foto: Gabi Dolff-Bohnekämper

Der 1706 gegründete und 1951 geschlossene Alte Garnisonsfriedhof in Berlin-Mitte wurde nach früheren Einebnungsplänen mit einem musealen Arrangement von 180 Grabmalen (von ehemals 489) als öffentliche Parkanlage gestaltet. Als Denkmalpark mit Bezügen zur preußischen Geschichte ist er auch ein Geheimtipp für Stadttouristen.

Auf dem ehemaligen Invalidenfriedhof, 1746 von Friedrich II. gegründet, stoßen preußische Militärgeschichte und der nachkriegszeitliche Ost-West-Konflikt aufeinander. Er diente Uwe Timm in seinem Roman „Halbschatten“, der vom Schicksal der dort als einzige Frau begrabenen Fliegerin Marga von Etzdorf handelt, als Ort, das ganze 20. Jahrhundert mit seinen Umbrüchen 1933, 1945 und 1989 ins Visier zu nehmen.4

Auf dem ehemaligen Grenzstreifen am Spandauer Schifffahrtskanal gelegen, ergaben sich nach dem Mauerfall bei der denkmalpflegerischen Instandsetzung angesichts der Lage und der schwergewichtigen Bedeutungsebenen manifeste Authentizitätsprobleme: Friedhofsdenkmal oder Mauerdenkmal? Erhaltene historische Grabanlagen hoher preußischer Militärs, Reste der Hinterlandmauer und rekonstruierte Grabmale im Todesstreifen versuchen darauf eine Antwort zu geben, die der bruchvollen Geschichte gerecht wird.

Im Unterschied zu den vorgenannten ist der Alte Sankt Matthäus Friedhof am Kulturforum noch in Betrieb. 1856 gegründet, beherbergt er Gräber zahlreicher bedeutender Vertreter des Berliner Bürgertums und des öffentlichen Lebens. Albert Speer wäre mit seiner Germania-Planung über diesen Prominentenfriedhof hinweggegangen. Noch heute stellt sich angesichts der verfügbaren Grabstellen neuen Begräbnissen die Frage: Neben wem will ich begraben sein? Wessen Grab kann ich als Pate übernehmen? So wird in Nachbarschaft der Familiengräber der Brüder Grimm auf Namenstafeln an einem historischen Grabdenkmal vieler AIDS-Opfer gedacht.

Aus den Narrativen der Berliner Friedhofshochkultur mit ihren den jeweiligen historischen Kontexten geschuldeten spezifischen Eigenarten lassen sich unterschiedliche Umgangsweisen ableiten, die allerdings vergleichbare Situationen voraussetzen.

Friedhofsgeschichte in der Aufklärung und darüber hinaus

Gert Kähler, Hamburger Publizist und Architekturkritiker, interpretierte den Friedhof in der geschichtlichen Entwicklung „Vom Kirchhof zum Friedhof im Zuge der Aufklärung und darüber hinaus“ als Ort des Übergangs. Ausgehend von Beobachtungen zeitgeistiger Bestattungskultur („Discount-Bestattungen online“) schlug er einen Bogen vom Mittelalter bis zur Gegenwart.

Das Mittelalter kannte für die armen Toten keine würdevollen Begräbnisse, dicht an dicht wurden sie um die Gotteshäuser verscharrt. Gottesnähe, das heißt, Nähe zum Kirchbau oder Altar musste gut bezahlt werden. So bildeten sich die gesellschaftlichen Rangunterschiede auch schon damals auf den Kirchhöfen ab. Die hygienischen Verhältnisse der Begräbnisplätze erforderten bald ihre Schließung und Verlegung außerhalb der Stadt.

Französische Revolution und Aufklärung sorgten für eine zunehmend säkulare Sichtweise von Tod und Begräbnis. Den als Gleiche angesehen Menschen entsprach das Reihengrab auf den „extra muros“ angelegten Friedhöfen. Es bestimmte ihre Struktur – was Begüterte nicht daran hinderte, sich gleich mehrere Grabstellen zu verschaffen und bildhauerisch aufwändig zu schmücken.

Mit dem Fall der Torsperre (in Hamburg 1861) wuchsen schnell die Vorstädte um die bald voll belegten Friedhöfe. Statt der Kirchen nahm sich der Staat des Begräbniswesens an – als Folge der städtischen
Bevölkerungsexplosion zurzeit der Industrialisierung. In der „malerischen Vereinigung von Architektur, Skulptur und Landschaftsgärtnerei“ sah der Schöpfer Ohlsdorfs, Wilhelm Cordes, die Lösung: den eigentlich schon viel früher mit der Aufklärung entstandenen englischen Landschaftsgarten.

Der Friedhof als Ort der Totenruhe, aber auch des Übergangs findet sich zahlreich dargestellt, in Hamburg sind es besonders Segelschiffe oder die WMF-Engel als Begleiter. Aber auch Symbolik von Ewigkeit und Kosmos ist zu finden in Pyramiden, Obelisken und Kuppeln der Mausoleen. Das Übergangsthema illustrierte Kähler auch an drei modernen und zeitgenössischen Beispielen.

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Aldo Rossi, Friedhof San Cataldo bei Modena – Friedhof als Totenstadt https://upload.wikimedia.org/wikipedia/ commons/0/0d/Cimitero_San_Cataldo.JPG

Der Südfriedhof in Stockholm von Gunnar Asplund, angelegt 1915 bis 1940, inszeniert den Weg des Menschen zurück zur Natur. Aldo Rossis Urnenfriedhof San Cataldo in Modena (begonnen 1971) versinnbildlicht ein Gegenstück: die von den Menschen verlassene Stadt. Und der Schöpfer der Tomba Brion (1970–78) in San Vito di Altimole, Carlo Scarpa, verstand seine komplexe Architektur als Pfad mit dem Element des Wassers, das seiner Heimatstadt entnommen ist: „Venedig – Inbegriff einer Stadt im Übergang“ – so Kähler.

Amsterdam Nieuwe Ooster – im Trend der Zeit

Eine weitere moderne Interpretation des Friedhofs findet sich auf Nieuwe Ooster in Amsterdam, über den Bart Brands (karres+brands Landschapsarchitecten/Hilversum) berichtete. Der von Leonard Springer entworfene Friedhof wurde 1894 eröffnet, 1915 nach Springers Plänen und 1928 nach einem Entwurf der öffentlichen Bauabteilung der Stadt Amsterdam erweitert. Mit 33 Hektar ist er einer der größten in den Niederlanden und seit 2003 nationales Denkmal.

Um neuere Entwicklungen zu steuern und den Zusammenhang der drei die Grundstruktur bestimmenden historischen Schichten zu wahren, wurde 2005 ein Masterplan beauftragt. Ausgehend von dem Gedanken, dass Friedhöfe immer ein Spiegelbild der Gesellschaft sind und somit dem gesellschaftlich-kulturellen Wandel unterliegen, bedurfte es einer Leitidee, in der sich die Menschen beim Abschiednehmen, Bestatten und Erinnern wiederfinden können. Mit dem zunehmend multikulturellen Bild der Gesellschaft steigt das Bedürfnis, auf die unterschiedlichen Bestattungskulturen auch im Friedhofsdesign eingehen zu können.

Leitbild der ältesten und kulturhistorisch wertvollsten Zone war die weitestgehende Erhaltung und Wiederherstellung des ursprünglichen Charakters von Springers Entwurf. Der Bereich der ersten Erweiterung richtete sich zwar auch gegen Springers Ideen, bot aber zugleich Raum für neue Entwicklungen.

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Masterplan Friedhof Nieuwe Ooster Amsterdam: im oberen Viertel die letzte Erweiterung im neuen Design. Foto: karres+brands Hilversum
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Friedhof Nieuwe Ooster Amsterdam: Die Streifen bedeuten unterschiedliche Bestattungsformen, u.?a. auch ein Kolumbarium. Foto: karres+brands Hilversum
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Gräber im Rasen: Beauchief Abbey in Sheffield/GB. Foto: Jan Woudstra
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Bolton Percy: ein Friedhof als Garten. Foto: Jan Woudstra
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Commonwealth War Graves Cemetery, Berlin: Rasen als Identitäts- und Erkennungsmerkmal. Foto: Jan Woudstra

Der dritte, kulturhistorisch weniger bedeutende Abschnitt gestattete in weiten Bereichen eine neue Gestaltung. Sie bietet mit ihrem Streifen-Design ganz unterschiedliche Quartiere mit sehr individuellen Möglichkeiten der Bestattung. Tulpen-, Gras-, Wasser-, Birkengärten und weitere Themenfelder sowie ein langgestrecktes Kolumbarium erfüllen individuelle Wünsche. „Alles ist möglich, aber nicht alles überall“ ist das Leitmotiv dieser differenzierten Planung, die auch einen nach Mekka ausgerichteten Teil für islamische Begräbnisse enthält. Dieser selbstbewusste und gesellschaftlich reflektierte Entwurf könnte durchaus eine Anregung für unsere Friedhofsprobleme bieten.

Das Jenseits britischer Friedhöfe

„The Afterlife of British Cemeteries“ – also das Nachleben britischer Friedhöfe (afterlife bedeutet auch das „Jenseits“), besprach Stadt+Grün 112017 25 Jan Woudstra, Universität Sheffield, in zahlreichen Beispielen. Viele Friedhöfe wurden aus Kapazitätsgründen geschlossen, weil zahlreiche Familien ihre Begräbnisplätze im Voraus kauften, ohne sie dann zu nutzen. Sinkende Einnahmen hatten schlechte Pflege zu Folge. Aus dieser Entwicklung ergaben sich mehrere Trends.

Der Rasenfriedhof entspricht wohl am ehesten dem, was man gemeinhin von englischen Begräbnisplätzen erwartet. Doch bis weit ins 19. Jahrhundert war der Kirchhof – auch dort das Symbol der Oberklasse – eher ein überwucherter Landgarten. Erst im 20. Jahrhundert geriet der Rasen zur nationalen Ordnungsvorstellung und auf den Soldatenfriedhöfen des Commonwealth zu einem wichtigen Teil britischer Identität. Heute wird Rasen auch auf ehemaligen Grabfeldern an den Klosterruinen des 16. Jahrhunderts gepflegt.

Während des 19. Jahrhunderts war die Verwandlung überflüssiger Grabstätten in öffentliche Gärten eine bedeutende Bewegung. So wurde zum Beispiel Bunhill Fields in London mit Spazierwegen und Sitzbänken versehen, die in erster Linie zum Wohle der Armen gedacht waren, einige bedeutende Grabdenkmäler wurden erhalten. Wegen der schon früh einsetzenden Beschwerden über tote Bäume und den Mangel an Blumen wurde 1882 die Metropolitan Public Gardens Association5 gegründet, die sich für die Erhaltung von geschlossenen Friedhöfen als Erholungsplätze engagiert und sich um die große Mehrheit von über 130 Begräbnisplätzen in London kümmert. Die Umwandlung der Friedhöfe in öffentliche Gärten baute auf dem Konzept des Gartenfriedhofs des 19. Jahrhunderts auf.

In seinem Buch Necropolis Glasguensis (Glasgow, 1831) propagierte John Strang dieses Konzept und als Prototyp für eine britische Friedhofsreform den Friedhof Père Lachaise in Paris. Der 1832 in Glasgow in einem Steinbruch angelegte und auch für Erholungszwecke gedachte Friedhof wurde unter seiner Regie zum Vorbild für das General Cemetery Movement, kommerzielle Unternehmen für Beerdigungen außerhalb der Kirche von England. Den Schwierigkeiten bei der Unterhaltung privat betriebener Friedhöfe begegnete man wie in Sheffield durch Ankauf und teilweise Umwandlung in einen Erholungspark. Aus Protesten gegen die Räumung von Grabsteinen entstand ein Freundeskreis, der zum Nationalen Verband der Friedhofsfreunde (1986) anwuchs.6 Gefördert vom Heritage Lottery Fund pflegt er Friedhöfe mit einem Kern bezahlten Personals, unterstützt von Freiwilligen, mit dem Ziel eines Gleichgewichts zwischen den Belangen von Erholung, Naturschutz und Kulturerbe.

So folgt das Nachleben britischer Friedhöfe im Wesentlichen vier Trends: als Rasenfriedhof, als öffentlicher Garten, eine Bewegung aus den 1860er-Jahren, und als öffentlicher Park, ein Trend der 1970er-Jahre. Und schließlich werden diese Landschaften zunehmend als „Wildnis“ betrachtet, von den malerisch gestalteten Friedhöfen des frühen 19. Jahrhunderts bis hin zu den von Initiativen betreuten Wildlebensräumen, wo Begräbnisse in naturhaften Umgebungen als Reaktion auf die standardisierte Bestattungspraxis, deprimierend monotone Friedhöfe und deren unzureichende Pflege mehr und mehr nachgefragt werden. So war unter kulturhistorisch-denkmalpflegerischen Gesichtspunkten dieser Bericht eher ernüchternd.

Wandel von Trauer und Erinnerung

Über „Virtualität und Animalität – Grenzgebiete der Sepulkralkultur“ referierte Matthias Meitzler von der Universität Passau über die Ergebnisse empirisch-soziologischer Forschung. Mit den komplementären
Trends von Individualisierung und Pluralisierung lösen sich die Erscheinungsformen öffentlich vorgetragener Trauer zunehmend von hergebrachten Riten. Individuelle Bedürfnisse vermehren die Formen selbstbestimmter Todesbewältigung. Der Wunsch nach der gemeinsamen Bestattung von Mensch und Heimtier – Hund, Katze & Co. als Lebensabschnittspartner – gehört ebenso dazu wie die webbasierte Trauer.

Wie sie einerseits den Zug zur Individualisierung bestärkt, so tritt sie andererseits zunehmend als Massenphänomen auf. Die Kondolenz erschöpft sich nicht mehr in analogen Medien von Blumen, Karten und Büchern, das Internet ermöglicht die ständige Vernetzung der Trauernden und bietet neue Formen des Andenkens. Der Friedhof ist nicht mehr alleiniger Trauerort. Statt dort Blumen abzulegen, klickt man sich in einen YouTube-Kanal.

In ähnliche Richtung zielte der Vortrag von Dr. Thorsten Benkel, Universität Passau, der mit Matthias Meitzler seit langem zusammenarbeitet7, unter dem nietzschianisch angehauchten Titel „Die Geburt der Anfechtung aus dem Geiste der Reglementierung8 – zur Ambivalenz der selbstbestimmten Trauer“. Gegen die Expertenkultur segmentierter Todesverwaltung – Bestattungsunternehmen, Krematorien, Eventagenturen – macht sich eine Selbstreglementierung bis hin zu auch illegalen Praktiken breit wie etwa die Aufbewahrung der Asche zuhause. Im Rekurs auf Georg Simmel9 sieht Benkel darin eine Widerspiegelung der städtischen Individualisierung als Folge der Flucht aus der Determiniertheit des Landlebens.

Individualisierung als europaweites Phänomen äußert sich zum Beispiel in den zunehmenden Single-Haushalten, denen die kollektive Ordnungskraft verloren gegangen ist. Das geht an den Friedhöfen nicht vorbei. 70 Prozent der Neubestattungen fallen aus dem traditionellen Rahmen, auf den Grabsteinen ersetzen Leidenschaften die früher üblichen Berufsbezeichnungen, nicht zuletzt auch aufgrund brüchiger Berufsbiografien. „Die Trauer wird bunter – Trauerkultur wird unberechenbar“ – so ein Kernsatz Benkels.

Gegen die Ökonomie der Friedhöfe steht die Autonomie der Trauernden. Die Formen der individualisierten Trauer reichen vom Foto auf dem Grabstein (was in südlichen Ländern eher Standard ist) oder Körper- Repräsentationen bis hin zur Synthetisierung des Fortlebens aus vergangenen Lebenszeugnissen im Internet. Der positivistische Befund der beiden Vorträge, seine gesellschaftlichen, kulturellen und moralischen Konsequenzen blieben leider unhinterfragt und die Frage nach kritischen Gegenstimmen aus hergebrachten Institutionen der Trauerkultur unbeantwortet.

Ohlsdorf 2050: Wohin?

Vor dem Hintergrund dieser Trends referierte Dirk Christiansen (bgmr Landschaftsarchitekten, Berlin) die in Kooperation mit der Gartenarchitektin Katrin Lesser (Berlin) ausgearbeitete „Nachhaltigkeitsstrategie Ohlsdorf 2050“, (siehe auch S+G 11/2016, S. 19ff.).

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Friedhof Ohlsdorf: Räumliches Entwicklungskonzept Szenario 2: zwei intensiv genutzte Friedhofsteile, verbunden durch einen extensiven Friedhofspark. Foto: bgmr Landschaftsarchitekten Berlin
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Die Kapelle 3 auf dem Friedhof Ohlsdorf: eine passende Nutzung wird gesucht. Foto: Hamburger Friedhöfe AöR

Aufgabe war es, Modelle für eine angepasste, nachhaltige Pflege und für deren dauerhafte Finanzierbarkeit zu entwickeln. Die Belange des Friedhofsbetriebes, des Denkmalschutzes und der Natur-entwicklung waren bestimmende Parameter; die gleichzeitige Stärkung der kulturellen und gesellschaftlichen Basis des Ohlsdorfer Friedhofs sowie die Wahrung und Weiterentwicklung der Trauer- und Begräbniskultur wurden als wichtige Nebenziele genannt. Der Friedhof bietet schon heute Raum für informelle Nutzungen wie Joggen, Walking, Radfahren, Geocaching; natur-, geschichts- und kunsthistorisch ausgerichtete Rundgänge und Naturerlebnisangebote unterschiedlicher Akteure sind bereits etabliert. Dies alles floss unter Berücksichtigung eines internationalen Vergleichs von 21 weltweit bekannten Friedhöfen in eine komplexe Potenzialanalyse ein.

Aus vier nach unterschiedlichen Entwicklungslinien gebildeten Szenarien der künftigen Friedhofslandschaft wurde schließlich das geeignetste zur Weiterbearbeitung ausgesucht. In einem Prozess ständiger Nachjustierung sollen mit konkreten Maßnahmen die noch gegebenen Unschärfen nach und nach beseitigt werden. Das präferierte Szenario berücksichtigt vor allem friedhofshistorische und damit denkmalpflegerische Aspekte, insbesondere die Unterscheidbarkeit der beiden Anlagenteile von Wilhelm Cordes (ab 1877) und Otto Linne (Gartendirektor 1917–1933). Sie verbindet ein Friedhofspark, extensiv genutzte Flächen binden die intensiven Flächen an den Rändern ein. Entsprechende Transformationskonzepte sollen die schrittweise Umsetzung in den gewünschten Landschaftstyp sicherstellen. Langfristige und zeitlich gestufte sektorale Maßnahmenkonzepte für den Naturhaushalt, die garten- und landschaftsarchitektonische Anpassung und die Gartendenkmalpflege, die Mobilität und Erschließung, für die Verwaltung, die Bürgerkooperation sowie ein Vorschlag zur Prozessorganisation vervollständigen die sehr komplex erscheinende Strategie, die einen Entwicklungskorridor zwischen 2030 und 2050 beschreibt, mit Meilensteinen, die eine Korrektur erlauben oder auch erzwingen.

Kapellen mit neuer Nutzung?

Die Zukunft der Friedhofskapellen ist ein wichtiger Bestandteil des Konzeptes. Einige der zwölf existierenden werden nicht mehr traditionell genutzt und stehen neuen Ideen als „Kraftzentren“ offen – Werkstätten für Geschichte, Kultur, Natur, Umweltbildung oder anderes.

Nach einem Bericht der Diplomrestauratorin Inka Hansen über Befunduntersuchungen an vier Gebäuden wurde dies in einem Rundgang zu drei Kapellen vorgeführt. Ein eigens für den kleinen Kuppelbau der Kapelle 3 komponiertes Tonkunstwerk macht den Friedhof zu einem Ort besonders sensibilisierter auditiver Wahrnehmung. Nach Verlassen des Raums stellte sich das intendierte Phänomen wie von selbst ein: wir hören den Friedhof sehr viel deutlicher: sei es der Wohlklang der Vögel oder auch störende Autos.

Kapelle 1, ein Neubau aus den 1960er-Jahren, ist den Vögeln und Fledermäusen gewidmet. Zehn ausgewählte Vogelarten, darunter besonders seltene wie Uhu und Mittelspecht, wurden mit der Zahl
ihrer Brutpaare kartiert. Die lebenden Bewohner von Ohlsdorf wurden so adressiert und ergaben einen neuen interessanten Layer für den Friedhof. Für den großen Raum von Kapelle 6, den laute Rockmusik
erfüllte, gäbe es Interessenten für eine Nutzung als Kita. Das will den Menschen, die im Umfeld sich um Gräber ihrer Angehörigen kümmern, gut vermittelt sein. Ökonomisch tragfähige Nachnutzungen – idealerweise kulturelle – zu finden, wird nicht leicht sein. Sie kosten Geld auf Dauer. Aber ein Gartendenkmal wie Ohlsdorf könnte eine solche kulturelle Unterstützung gut gebrauchen.

Anmerkungen

¹ Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) 2017.

² www.berlin.de/senuvk/umwelt/stadtgruen/friedhoefe_begraebnisstaetten/de/daten_fakten/index.shtml

³ Gartenarchitekten Jacobs+Hübinger.

4 Uwe Timm: Halbschatten. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008.

5 www.mpga.org.uk

6 www.cemeteryfriends.com

7 www.friedhofssoziologie.de

8 Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig 1872.

9 Vgl. Georg Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben. Dresden 1903.

Autor

Architekt, Stadtplaner, Denkmalpfleger

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