Die Brunnen und Wasserstellen von Sarajevo

Plädoyer für eine lebendige Kultur des frei fließenden Trinkwassers

von:
Brunnen
Sebilj-Brunnen bei Tag. Fotos: Dirk Manzke
Brunnen
Sebilj-Brunnen bei Nacht.

Ganz sicher: Keine Stadt entstand ohne den essenziell unausweichlichen Fühlkontakt zum fließenden Wasser. "Besonders viel verbrauchen wir Menschen, weil wir auf nahezu der ganzen Körperoberfläche Wasser verlieren. Am meisten geben wir beim Schwitzen ab." erläutert Josef H. Reichholf.1) Jede Standortwahl für eine Sesshaftwerdung ist mit einer Beziehung zum Wasser verbunden. Und auch, wenn das heute vielen urbanisierten Menschen nicht mehr gegenwärtig ist, dem Wasser entspringt alles Leben, alles Lebensfähige und Lebenswillige. Auch das Unsrige. Reichholf unterstreicht: "Wichtig bleibt ... der Zugang zum Wasser. Die Tiere brauchen Tränken, wie auch die Menschen hinreichend sauberes Wasser benötigen."2)

Elegante und oft auch erschütternde Bilder des Wassergebrauchs ziehen sich bis heute durch den europäischen Kulturraum. Flüsse und Wasserläufe, Seen und Teiche sind Quell- und Mündungsgravuren in der Landschaft. Diesen Gravuren verdankt die Idee der Stadt einen Teil ihrer Entstehungs-chance. Der Dichter Franz Fühmann zelebrierte in seinem Erkundungstext zu Budapest, 22 Tage oder die Hälfte des Lebens" einst den räumlichen "Zusammenstoß von Pannonien und Pußta: Kühlte der Fluss nicht, entspränge Feuer, so aber bildet sich die Stadt[.]"3) und berührt die über Jahrhunderte prägende Brennschärfe von das Leben feiernden Flüssen als Grunderfordernis menschlichen Besiedelns und Behausens. Auffangbecken, Lauf- und Ziehbrunnen sind dabei nur die kleinen, praktischen Lebensorte des Wasserzugangs.

In weniger urbanisierten Regionen sind diese Brunnen noch heute ergreifendes Sinnbild dörflicher und manchmal sogar städtischer Niederlassung. Brunnen waren und sind teilweise noch immer allgegenwärtige und zudem metaphorische Orte des Wassers und des Lebens. Während allerdings in vielen reichen Regionen des Kontinents die Brunnenanlagen zu Schauobjekten des Tourismus mit der Aufschrift "Kein Trinkwasser" verkommen, zeigt sich etwa der Balkan als eine der Regionen, die dem Wasser sinnlich spürbar nachgeht, um es mitten im öffentlichen Leben nicht nur anschaulich, sondern auch essenziell zu zelebrieren. Noch hat die lebensfeindliche Zäsur des globalen Wasserhandels diese Regionen nur unmerklich erreicht. Womöglich ist es eines der nachhallenden Indizien des Balkankrieges in den 1990er-Jahren und ein Zeichen des bis heute traumatisierten Sarajevo, das erleben musste, wie knapp Wasser werden kann, wenn eine Stadt von kriegerisch-feindlicher Gesinnung umschlossen und beinahe ausgetrocknet wird. Barbara Demick notiert mit ihrem Hintergrund einer Kriegsberichterstatterin aus Sarajevo: "In einer schwülen Periode des Sommers ohne einen Tropfen Leitungswasser zeigte mir Minka das System, ..., um alles sauber zu halten. Wenn einer ihrer Söhne ein Glas Wasser nicht ganz austrank, goss sie den Rest auf einen Schwamm und wischte damit den Küchentisch und die Arbeitsplatte ab. ...".4)

Bei der bis heute gegenüber einem dauerhaften Frieden eher skeptischen nunmehr überwiegend muslimischen Stadtbevölkerung lässt sich eine eher sparsame Nutzung des Wassers beobachten. Doch einige öffentlich zugängige Brunnen gibt es wieder, von denen man auch kostenlos trinken kann. So lässt sich in Sarajevo aus den Reflexen der Stadtbiografie ein neu auflebendes Indiz des alltäglichen Wasserumgangs erhoffen. Es sollte geschützt, gepflegt, aber insbesondere erst noch entfaltet werden.

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Brunnen
Wasserstelle an der Ecke Ulica Bistrik, Ulica Obala Isa-bega Ishakovi?a als städtischer Verweilort.

Ein Brunnen - Sinnbild der Stadt

Einem filigranen Mythos gleich gibt es viele Brunnen in Sarajevo. Als Sinnbild der Stadt bekannt ist ein kleineres Bauwerk mitten in der Stadt, das dem Wasser und insbesondere dem respektvollen Umgang mit Wasser gewidmet ist: der Sebilj Brunnen im alten Stadtteil Baš?aršija. Sebilj ist ein "arabischer Ausdruck für von Gönnern gestiftete öffentliche Brunnen". Diese befinden "sich nach der Tradition der ottomanischen Architektur ... an Wegkreuzungen oder Plätzen...".5)

Niemand wird Sarajevo verlassen, ohne diesen leicht mit mehreren achteckig umlaufenden Stufen aus dem grob gepflasterten Platz herausgehobenen Brunnen gesehen zu haben. Sein ungewöhnliches Äußeres lässt ihn zunächst weniger als Brunnen erscheinen. Er ist wie der Stufensockel achteckig gegliedert und gleicht einem geschlossenen hölzernen Kiosk, dessen Inneres kaum Einsicht gewährt, der aber alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Der neobyzantinische Brunnen mutet wie eine überkuppelte Quelle an, die es auf geheimnisvolle Weise achtsam zu verehren gilt.

Für den inspirierten Beobachter mag mit diesem Brunnen eine Welt noch nicht erzählter Märchen und Fabeln des mythisch verflossenen Orients mitschwingen. Für den Pragmatiker genügt der Kioskbrunnen als beglückend nutzbares Geschenk im Stadtraum. So ragt der orientalisch gestaltete Brunnen mit seinen beiden unscheinbaren Wasserläufen würdig in den Alltag des Beiläufigen und suggeriert osmanische Atmosphäre. Die kleine Kiosk-referenz mit seiner Kuppel, in dessen Innenwölbung sich manche vom Wassertrinken erfrischte Phantasie gern einen streng vermessenen Deckenhimmel vorstellen möge, ist Sinn- und Wahrzeichen zugleich. Der unbesetzte Kiosk verweist einerseits auf das kostenlose Angebot des Wassers, andererseits öffnet er den Blick für eine in Europa inzwischen weitestgehend verflossene Kultur. Das gleichsam sparsam fließende Wasser wird heute pausenlos abgefüllt und getrunken. Es ist Anlass, in Verbindung mit dem unbesetzten Kiosk gleichnishaft eine ganze Kultur der kleinen Händler und Lebensbewältiger zu feiern, die diese Trinkquelle umspülen.

Brunnen
Trockene Wasserstelle an einer Straßenkreuzung.
Brunnen
Nicht nutzbare Wasserstelle an der Allee zur Bosna-Quelle.
Brunnen
Wasserstelle an der Džamija Buzadži hadži-Hasanova-Moschee mit überdachtem Verweilbereich.
Brunnen
Wasserstelle an der ?ur?i?a Džamija-Moschee.
Brunnen
Das fließende Wasser formt den festen Stein.

In einigen Quellen wird das hölzerne Werk von 1891 dem in Sopron (Ungarn) geborenen kroatischen Architekten Josip Vancaš(1859-1932) zugeschrieben.6) Er konnte 1889 im frühgotischen Stil die Kathedrale Herz Jesu und 1914 im neogotischen Stil die Franziskanerkirche des Hl. Antonius von Padua in Sarajevo errichten 7) und zählt zu den baulich besonders präsenten Architekten seiner Zeit in Sarajevo. Er war "maßgeblich an der Entwicklung des 'bosnischen Stils' beteiligt..., in dem Elemente der 'traditionellen' Architektur mit ... anderen Stilrichtungen kombiniert wurden."8) Doch auch der in Sisak geborene und von der Donaumonarchie geprägte Architekt Alexander Vitek, auch Wittek (1852-1894) gilt als Entwerfer des kleinen, eleganten Wahrzeichens der Stadt. Ihm war es durch seinen Tod nicht vergönnt, das in neomaurischer Ornamentik entfaltete Vijecnica (Rathaus) von Sarajevo baulich abzuschließen. Ciril M. Ivekovi?(1864-1933) wird der Abschluss dieses Gebäudes im Jahre 1894 9), aber auch der Gesamtentwurf und die Errichtung des legendären Gebäudes zwischen 1893 und 1896 zugeschrieben.10) Das als integrierende Referenz der Donaumonarchen an die osmanisch geprägten Kulturformen dieser Region errichtete Vijecnica-Gebäude ist nach der Zerstörung von 1992 nun beglückend wieder erstanden. Als Wahrzeichen eines Neuanfangs aber steht es heute eher für eine zurückhaltende, ja skeptische Versöhnung zwischen den ehemaligen Kriegsparteien. Wolfgang Kaiser meinte dazu im Internet-Blog Bibliothekarisch.de: "Nationalismus, Kleinstaaterei und Fanatismus vergiften nach wie vor das Land und stehen einer wirklichen Einheit im Wege."11) Der Kioskbrunnen aber wurde von Architekten geschaffen, die Feingefühl und Ernsthaftigkeit für eine baulich respektvolle Referenz an die osmanische Kultur entwickelt hatten. Deren innerer Sinnzusammenhang ging jedoch mit den gewaltsamen Entwicklungen während des 20. Jahrhunderts fast völlig verloren. Geblieben ist der unveränderte Anlass des Brunnens, Quelle des Wassertrinkens zu sein.

Der so eindringliche Brunnen von Sarajevo scheint ein visuelles Idiom für Menschen zu sein, die sich mit der Stadt auseinandersetzen oder ihr emotional zugetan sind. So ließ sich im Balkan-Forum eine berührende Bemerkung des Users Dzeko lesen: "Bosnier in St Louis bauen den Sebilj-Brunnen aus Sarajevo nach. Bis zu 70.000 Bosnier leben in dieser Stadt. Den Grundstein wird Zeljko Komsic legen."12) Wenig später reagiert User Mayweather Jr.: "Das ist mittlerweile schon ein Wahrzeichen für Bosnier geworden... In Tuzla und vielen anderen bosnischen Städten haben sie auch schon einen gebaut." User Ramsi Hartmann meint: "In Novi Pazar natürlich auch." Die Stadt liegt im Nordwesten Serbiens und gilt "als kulturelles und wirtschaftliches Zentrum der Region und der in Serbien lebenden Muslime, von denen sich manche ,muslimische Serben' andere als ,Sandžaklis' und wieder andere als ,Bosniaken' verstehen."13) Will man den Schreibern folgen, wird der für Sarajevo im 19. Jahrhundert entworfene Brunnen mit seiner wohl nicht ganz fassbaren, historisierenden Aura gegenwärtig zum seriell gebauten Ausdruck einer verbindenden Identifikation und Übereinkunft. Dieser Ort des fließenden Wassers, des wohligen Reinigens und des erfrischenden Trinkens ist nicht mehr nur Sinnbild rituell-körperlichen Gegenwärtigseins im Alltag des städtischen Zusammenlebens. Als kulturelle Reaktion des Menschen auf das unumgängliche Erfordernis des Wassers ist der Brunnen auch Ort einer Sehnsucht nach Gemeinschaft. Nur das wie selbstverständlich fließende, elementare Wasser könnte darin die Frage der nationalen Herkunft einer räumlichen Bildidee als inzwischen unnötig und überkommen herausstellen. In Sarajevo ist Trinkwasser noch für alle kostenlos im öffentlichen Raum verfügbar. Darin sollte heute seine herauszuhebende Botschaft gesucht werden.

Sarajevo - eine Welt öffentlicher Trinkbrunnen

Zum Ende des ersten Weltkrieges und beim anschließenden Zusammenbruch des osmanischen Reiches will man noch 156 Brunnen in der Stadt registriert haben. Sie alle "waren von wohlhabenden Bürgern gestiftet worden und meist aus Stein mit Verzierungen und einer Inschrift...."14) Die Stiftung eines Brunnens "mit kostenlosem sauberem Wasser für das Volk galt nach nahöstlicher Mentalität als besonders verdienstvolle Wohltat".15) Zu den Tragödien Sarajevos gehört auch das Verschwinden dieser einst ausgeprägten Welt der Brunnen. Wer sich konzentriert auf die Suche begibt, wird zwar ganz sicher fündig werden, doch das Ergebnis betrübt eher. Die Entwicklungen nach dem Ende der Osmanen waren ihrer hinterlassenen Kultur und somit auch den Trinkstellen als Teil europäischer Geschichte wenig gesonnen.

Wer sich vom Stadtteil Baš?aršija die Ulica Logavina hinauf bis in die nördlichen Höhen der Stadt zum Stadtteil Hrastovi begibt, der kann schnell auf verbliebene Wasserstellen treffen. Zunächst erreicht man nach wenigen Schritten in der Nähe der Džamija Buzadži hadži Hasanova-Moschee einen Brunnen, der zu einem überdachten Ort des Begegnens und Verweilens ausgebaut wurde. Dort ist die alte Schlichtheit der steinernen Wasserbecken belebt worden. Würden die respektlosen Autoeigentümer die gekonnt ausgewählte Wasserstelle nicht ignorant zuparken, man wäre beglückt, solch einen sinnlich gehaltvollen Ort gefunden zu haben. Er könnte zu einem Geheimtipp für Menschen votieren, die sich dem Trubel der Innenstadt entziehen wollen, um in nächster Nähe von der Stille im Abseits umschlossen zu werden. Auch hier kann es gelingen, dass man unvermutet einen Menschen kennenlernt oder dass Einheimischer und Fremder einander begegnen.

In einem solchen Moment der Stille vermag der aufmerksam wahrnehmende Erkunder nun einem weiteren, begeisternden Phänomen nachspüren. In Richtung Ulica ?emerlina meint man, einen weiteren Brunnen zu vernehmen. Wen die Neugierde treibt, der trifft in etwa 60 Meter Entfernung wieder auf eine Wasserstelle. In der steinernen Umschließung der ?ur?i?a Džamija-Moschee ist zum offenen Raum hin wieder so ein Brunnen eingelassen und vitalisiert den Straßenraum. Das steinerne Wasserbecken wirkt grob und robust zugleich, während das fließende Wasser den Ort mit seiner transparenten Materialität wundersam verfeinert und zum Klingen bringt. Festigkeit und Flüssigkeit finden zueinander, ergänzen sich. Ja das fließende Wasser formt im kaum endenden konstanten Fluss den harten Stein.

Mit diesen Erkundungen wird der Gedanke vom Sebilj handfester. Einerseits verkörpert er einen orientalischen Brunnen, der "meist in die Außenwand einer Moschee eingebaut wurde. Die Bauform entspricht einem türkischen Çes?me...".16) Wo Stätten der Religion sind, dort finden sich zugleich Quellen des elementarsten Bedarfs zum Reinigen und Trinken. Einerseits ein kluges städtebauliches Orientierungskonstrukt, das dem Wort "lebensnah" tatsächlich entspricht, wenngleich es religiöse Orte sind, die hier Anker setzen, andererseits aber steht Sebilj für einen "öffentliche(n) Brunnen in Form eines Kiosks".17) Damit ist das sinnliche Wahrzeichen der Stadt in seiner Eigenständigkeit herausgehoben und gewürdigt.

Brunnen
Blick vom Laubengang in den Hof mit Wasserstelle.
Brunnen
Wasserstelle unter einer schattigen Birke.
Brunnen
Die Wasserstelle im Hof.

Wasserstellen - umbaut zum Wohnen

Gesteigert wird die zunächst beiläufige Erfahrung der Anwesenheit von fließendem Trinkwasser so mitten in der Stadt noch für den, der die Ulica Glodina weiterläuft. Man trifft dort auf ein betroffen machendes Hofhaus patriarchalischer Prägung. Als Museum der osmanischen Epoche hergerichtet, ist es noch immer räumlich nachvollziehbar und erlebbar. "Das Haus kam ihm fremd vor, dabei merkte er gut, dass es in seiner Art vollendet war. Ein geheimnisvoll ordnender Sinn hatte sehr Verschiedenes zu einer Einheit gefügt. ... Überall dämpften Teppiche den Lärm, die Stille des Hauses wurde durch die plätschernden Wasser noch stiller."18) Stellvertretend für die alte Eleganz archaischer Hausformen und sich verbergender Zurückgezogenheit möge dieses Zitat das Essenzielle und Verbindende innereuropäischer Kulturen veranschaulichen. Lion Feuchtwanger beschreibt hier ein Haus in Toledo. Es stellt sich aber auch ein Bezug zu den verbliebenen, historisch grundierten Häusern in Sarajevo her. Schweigsam und leise lässt sich durch das ergreifende Haus gehen. Dabei eröffnet sich nach und nach ein subtiler Balanceakt zwischen Haus und Freiraum, zwischen Hof, Platz und Garten, bei dem Innen- und Außenraum untrennbar verknüpft sind. Die ausgewogene Balance einst zentrierter Räume der Männlichkeit und flankierender Räume der Weiblichkeit versammeln sich in einem bis in alle Lebensgewohnheiten durchdringenden Grundriss von Zusammengehörigkeit und Abhängigkeit. Und dieser bündelt sich schließlich um zwei äußerst schlichte, steinerne Wasserstellen. Wieder sorgt ein hauchdünner Wasserstrahl für die Leichtigkeit der gesamten Atmosphäre und die Entzündung der Stille.

Wer sich hier zwischen Raum und Zeit stellt, um schließlich seine mitgebrachten Gewohnheiten und Voreingenommenheiten, seine Auffassungen und Positionen einmal zurückzustellen, der dürfte ahnen, wie frei das fließende Wasser ist. Es scheint plötzlich als das eigentliche Gerüst des Gebäudes und der Stadt auf und wird zum elementarsten Grundbaustein der Stadt - sichtbar, spürbar, fühlsam. Seine gläsern anmutende Unendlichkeit, sein auf ewig zerrinnendes Dasein, ja seine Fähigkeit, sich im Kreislauf immer wieder selbst zu reinigen, sich geradezu selbst erfrischend zu beleben, gibt dem Wasser einen Sinn, den nur wir Menschen zu benennen vermögen: Es ist der Sinn, unserem eigenen Dasein einen Sinn zu verleihen. Wie wertvoll wäre diese Erkenntnis gerade hier in Sarajevo so mitten im hoffentlich nachnationalen Europa.

Brunnen
Panorama-Blick auf Sarajevo.
Brunnen
Das Wahrzeichen des Sebilj-Brunnen auf einem der T-Shirts.

Wasserstellen - auch Sinnzeichen betrübender Abwendung

Aber unser Aufstieg geht weiter. Die Ulica Vrbanjuša folgend findet sich bald vor einem der zahlreichen Friedhöfe, dem Groblje Budakovi?i, unter einer Birke wieder eine Wasserstelle. Auch sie ist als ein Ort der Ankunft und Einkehr angelegt. Allerdings liegt dieser motiviert gestaltete Ort inzwischen im Abseits. Im Sinne der alten Standortidee befindet sich diese Wasserstelle heute nicht nur an einer Wegkreuzung, sondern vor allem an einer Straßenkreuzung. Die stark befahrene und somit staubige Straße zerstört den sensiblen Ort, überlärmt seine erhoffte Stille und nimmt ihm die noch erkennbare Aura. Inzwischen läuft sogar das Wasser hier nicht mehr, Müll häuft sich und der Verfall droht sich durchzusetzen. Der anfänglich würdig angelegte Ort versinkt in Zeiten eigenbezogener Vergesslichkeit. Der Feinmaßstab geht verloren und wertvolle Erlebnisse von Stadt geraten aus dem Blick.

An der Ulica Sedrenik zur Abzweigung in die Ulici Alije Nametka, genau an der Grenze zwischen den Stadtteilen Hrastovi und Sedrenik, treffen wir auf einen der wohl schönsten Höhenorte Sarajevos. Die Wasserstelle hatten wir im letzten Jahr schon einmal besucht und ihr einen kleinen Pflanzgarten geschenkt.19) Und siehe da, tatsächlich gibt sich der Ort aufgeräumt. Ein verlassener Kiosk thront nun in Nähe der Mülltonnen, nicht etwa mit der steinernen Sitzstelle korrespondierend. Um die plätschernde Wasserstelle stehen einige Fahrzeuge. In ihnen sitzen bei bestem Wetter junge Leute hinter verschlossenen Autoglasscheiben, als könnten sie im offenen Raum nicht unter sich sein. Dem weithin sichtbaren Panorama der Stadt kehren sie erstaunlicherweise den Rücken zu und sind mit sich selbst beschäftigt. Immer wieder stoppt ein Fahrzeug vor der Wasserstelle, jemand steigt eilig aus, füllt schnell seine mitgebrachte Plastikflasche und verschwindet ohne Blickkontakt. Der Ort wird pragmatisch genutzt, angenommen ist er in seiner reizvollen Ausstrahlung deshalb noch lange nicht. Der Aufenthaltswert dieser städtischen Hochterrasse verfällt. Die in ihm verborgene Identifikation ist noch nicht geweckt. Auch unsere kleine Intervention vom letzten Jahr half wenig, obwohl wir so viel Hilfe aus der Nachbarschaft bekamen. Nur ein paar unserer Pflanzen vom letzten Jahr entdecke ich noch in den zerfallenden Pflanztrogen. Der Ort wirkt weiterhin in der Nervosität des gegenwärtigen Alltags verloren. Trotzdem: Wir nutzen den Ort kurzweilig. Mit ihm vergeht eine gute Verweilstunde und mit dem Weitergehen sind dann all unsere Wasserflaschen wieder kostenlos gefüllt.

Es finden sich noch einige Wasserstellen in dieser verschwiegen anmutenden, abseitigen Umgebung über den pulsierenden Tallagen der Stadt. Sie alle folgen der alten Lagelogik an Wegkreuzungen und Moscheen. Je mehr man sich allerdings von der Osmanen- und Kaiserstadt entfernt, desto weniger scheinen diese Trink- und Begegnungsorte auf Dauer haltbar. Wo sich die Stadt in die Berge zu verflüchtigen scheint, wo Stille und Zurückgezogenheit die Atmosphäre prägen müssten, dort setzen sich gleichzeitig Privatheit und technische Aufrüstung durch, indem sie alte, soziale Gewohnheiten verdrängen. Parzelle und Haus werden als sich nach innen abgrenzende Privatheit gelebt, ohne Interesse am öffentlichen Raum zu entwickeln und der Wasserhahn macht die Quelle überflüssig, die da vorm Haus noch fließt. Ein offenes Alltagsleben mit dem fließenden und kostenlosen Trinkwasser der Brunnen scheint also auch hier abzuklingen?

Bei genauerem Hinsehen entwächst Sarajevo noch immer ein eigener, subtiler, sehnsüchtiger Traum, der sich in Märchen, Fabeln, Oden und Legenden fortsetzen möge. Sarajevo ist aber auch die Stadt des Talflüsschens Miljacka, die ausgedehnte Stadt kleiner, unscheinbarer Parkanlagen, geheimnisvoller Friedhöfe und der winzigen, oft unscheinbar über die Stadt verteilten Wasserstellen. Diesen Wasserstellen, denen kostenlos öffentliches Trinkwasser zu entnehmen noch immer möglich ist, schließlich ein neues Leben zurückzugeben, sie zu erwecken für einen künftigen Alltag mitten in der Stadt, das wäre ein sensibler und ernsthafter Akt der Aufmerksamkeit. Damit ließe sich eine Überlegung abheben: Sarajevo muss seine vielschichtige und gegenwärtige Identität erst noch finden. Herbert Gebert stellt fest: "... die Kirchenglocken der Katholiken und Serbisch-Orthodoxen verkünden in Sarajevo zu verschiedenen Zeiten die Mitternacht; der Sahat-Turm der Beg-Moschee läutet wiederum nach einem anderen Stundenplan. Die Juden besitzen überhaupt keine Uhr...."20) Unter diesem ausgesprochen vielschichtigen Grundklängen der Stadt lebt Sarajevo mit seinen Erinnerungen und Erfahrungen, die "voller Ungereimtheiten und Ungenauigkeiten"22) stecken. Der Analyst Steven Oluic meint dazu: "Die Fähigkeit Bosniens, Extremismen und einem radikalen Islam zu widerstehen, hängt stark von einem kontinuierlichen Engagement des Westens in dieser Region ab".22) Wäre die Förderung eines dauerhaften, öffentlichen Zugangs zum fließenden Wasser und die Sicherung entsprechender Orte eine Anregung, sich hier erfahrbar zu engagieren?

Anmerkungen

¹ Reichholf, Josef H.: Warum die Menschen sesshaft wurden. Frankfurt a. Main 2008, S. 209.

² Ebenda: S. 211.

³ Fühmann, Franz: 22 Tage oder die Hälfte des Lebens. Rostock 1999, S. 21.

4 Demick, Barbara: Die Rosen von Sarajevo. München 2012, S.157.

5 Neidhardt, Tatjana: Sarajewo im Lauf der Zeit. Sarajewo 2007, S. 100.

6 de.wikipedia.org/wiki/Sebilj (Zugriff: 24. 5. 2015).

7 komm-entdecke-bosnien.info/destinacija_55_11_katholizismus_de (Zugriff: 26. 5. 2015).

8 Sundhaussen, Holm: Sarajevo. Die Geschichte einer Stadt. Wien 2004, S. 226/227.

9 derstandard.at/1388650692314/Altes-Rathaus-in-neuem-Glanz (Zugriff: 27. 5. 2015).

10 www.biographien.ac.at/oebl_3/48.pdf (Zugriff: 27.5.2015).

11 bibliothekarisch.de/blog/2012/01/07/aus-aktuellem-anlass-die-schliessung-der-nationalbibliothek-von-bosnien-herzegowina-wurde-gestern-vollzogen/ (Zugriff: 30. 5. 2015).

12 www.balkanforum.info/members/dzeko/, Bosnier in St Louis bauen den Sarajevo Sebilj Brunnen nach. Erstellt von Dzeko, 29. 9. 2013, 15.22 Uhr, (Zugriff: 11. 5. 2015).

13 de.wikipedia.org/wiki/Novi_Pazar, (Zugriff: 11. 5. 2015; 11.59 Uhr).

14 Ples?nik, Marko: Sarajevo. Berlin 2013, S. 81.

15 de.wikipedia.org/wiki/Deutscher_Brunnen_%28Istanbul%29, (Zugriff: 30. 5. 2015).

16 de.wikipedia.org/wiki/Sebilj, (Zugriff: 25. 5. 2015).

17 Sundhaussen, Holm: Sarajevo. Die Geschichte einer Stadt. Wien 2004; S. 376.

19 vgl. Stadt und Grün 12/2014, S. 49 bis 54.

20 Gebert, Herbert: www.wieser-verlag.com/buch/terra-bosna/, (Zugriff: 31. 5. 2015).

21 Sundhaussen, Holm: Sarajevo. Die Geschichte einer Stadt. Wien 2004, S. 232.

22 www.dw.de/sarajevos-angst-vor-dem-dschihad/a-18330141 vom 20.3.2015, (Zugriff: 26. 5. 2015).

Autor

Professor für Städtebau und Freiraumplanung

Hochschule Osnabrück

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