Von der Notwendigkeit einer nichtmotorisierten Bewegungskultur

Raus aus dem Auto rein in die Stadt

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Fahrräder Landschaftsarchitektur
Ein Traceur (Parkour-Sportler) nimmt den „Weg“ zwischen zwei Mauern. Foto: Jan Casselmann

Die ursprüngliche Vorstellung von Mobilität im Stadtraum entspricht in vielerlei Hinsicht nicht mehr dem modernen Bewegungsverhalten. Als Landschaftsarchitekten sollten wir eigentlich Bewegungsspezialisten sein: Grünräume sind potentielle Bewegungsräume und wenn sich das Bewegungsverhalten der Menschen ändert, so ändern sich auch die Freiraumsysteme der Städte und die Erwartungshaltungen der Menschen an uns. Würden die Menschen häufiger die Kurzstrecken zu Fuß gehen, oder mit dem Fahrrad fahren, so wären sie wesentlich zeitsparender unterwegs und würden nebenbei einen Beitrag zur Erhaltung ihrer Gesundheit und zum Umweltschutz leisten.

Alternative Verkehrssysteme

Das Auto sollte als Fortbewegungs- und Transportmittel ursprünglich unterstützend wirken. Tatsächlich hat der Mensch sich jedoch zunehmend abhängig von motorisiertem Verkehr gemacht. Er nimmt eine umständliche Anfahrt zu Zielen im Nahbereich in Kauf, einmal angekommen sucht er verzweifelt nach Parkmöglichkeiten und riskiert Bußgeld, wenn er kapituliert und das Gefährt im Halteverbot abstellt. Das Verkehrssystem von heute dient weder der flexiblen Mobilität der Bevölkerung, noch der Ausbildung eines verträglichen Stadtklimas. Dabei gibt es bereits funktionelle Alternativen in der Stadtentwicklung. Warum denken auch selbst wir Landschaftsarchitekten das Fahrrad vom Straßenverkehrssystem her und nicht als sich bewegenden Bestandteil von Grünsystemen?

Das Fahrrad entwickelt sich in immer mehr Städten und Kulturen zum schnellen und günstigen Verkehrsmittel. Dies ist erprobt, denn interessanterweise hatte das Fahrrad bei uns bis zum Ende der 1950er Jahre und auch in anderen Kulturen (in China bis in die 1980er Jahre) diese Funktion. In wenigen Jahrzehnten dürfte es wieder so sein. Die autogerechte Stadt dürfte sich als kurzfristige Episode in der Geschichte des Städtebaues erweisen. Dies kann man in Ansätzen beispielsweise in Amsterdam oder Kopenhagen sehen.

Aber auch in Deutschlang lässt sich dies ablesen. So trägt Münster neben dem Titel "Lebenswerteste Stadt der Welt (2004)" auch den Titel der "Fahrradhauptstadt" Deutschlands. Münster verfügt über 4500 Kilometer ausgewiesener Radwege. Die Stadt rechnet offiziell mit über einer halben Million Rädern bei rund 300.000 Einwohnern (Stand 2012). Täglich sind hier mehr als 100.000 Menschen radelnder Weise unterwegs und nutzen das optimierte Streckennetz in den verkehrsberuhigten Bereichen, wie zum Beispiel die "Grüne Promenade". Dieser 4,5 Kilometer lange Ring rund um die Innenstadt diente ursprünglich der Stadtbefestigung. Die Promenade ist vollständig vom Autoverkehr befreit, von Grünflächen gesäumt und von einer durchlaufenden Allee mit etwa 2000 Bäumen eingefasst.

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Skateboarding an einem Spielplatz, unweit der Jahrhunderthalle in Bochum (2004). Foto: Ingo Naschold
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Unscheinbare Orte können für junge Athleten wichtige Trainingsstätten darstellen. Foto: Monavander Veen

Große Freiheit, kleine Welt

Das "Unterwegs sein" hat in der heutigen Zeit, besonders für viele Jugendliche und junge Erwachsene, einen hohen Stellenwert. Es geht darum, aus den alltäglichen Mustern der Straßenschneisen auszubrechen und auf urbane Entdeckungstouren zu gehen. Bewegung ist hierbei nicht mehr bloß das Mittel, um einen Ort zu erreichen - immer häufiger wird sie zum Selbstzweck der Aktivität, ja sie wird geradezu zum Kult. Die Bewegungskultur verändert sich und mit ihr der Bewegte. Dieses Begehren, der Wunsch nach Bewegungsfreiheit ohne Zwang, führt, angesichts der hohen Belastungen durch den Autoverkehr und der damit verbundenen zunehmenden Gefährdung für nicht motorisierte Verkehrsteilnehmer, auch zur Ausbildung neuer Demonstrationsformen. Besonders Radfahrer fordern ihre Rechte und verbinden sich in internationalen Protestbewegungen.

Im Jahr 1992 kam erstmals eine Gruppe von Fahrradfahrern in San Francisco zusammen, um gemeinsam und ohne hierarchische Ordnung im geschlossenen Verband durch die Stadt zu fahren, den gesamten Straßenraum für sich zu beanspruchen und somit auf die Verkehrssituation hinzuweisen und für die Rechte der nicht motorisierten Teilnehmer im Straßenverkehr zu demonstrieren. Die "Critical Mass" (engl., dt. Kritische Masse) kommt seither regelmäßig mit zunehmender Teilnehmerzahl rund um den Erdball in Großstädten zusammen.

Auch der Rest der nicht motorisierten Bevölkerung setzt sich zunehmend für alternative Nutzungen in den, von ruhendem und aktivem Automobilverkehr geprägten, Stadträumen ein und demonstriert seine Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Verkehrssituation. Beim so genannten "Park(ing)-Day", einer Projekt-idee, die sich der Strategien des "Tactical Urbanism" bedient, werden Parkstreifen und -plätze in einer temporären Intervention für mehrere Stunden durch Anwohner oder Gastronomen besetzt und mit Rollrasen und Campingmöbeln zeitweise als Grünanlagen ausgestattet. Die Initiative wurde 2005 in San Francisco von einer Gruppe namens REBAR ergriffen, die sich aus Designern, Aktivisten und Anwohnern formierte und einen einzelnen Parkplatz am Straßenrand zeitweise als Rasenfläche mit Sitzgelegenheit und schattenspendendem Gehölz umgestaltete. Der Park(ing)-Day findet seither immer am 3. Freitag im September statt. Bereits im Jahr 2007 hatte sich ein Netzwerk von Gruppen gebildet, welches in 27 Städten auf der ganzen Welt insgesamt 180 "Parks" installierte.

Weltweit engagieren sich Menschen in Städteplanerischen Prozessen zunehmend für eine nachhaltige Auseinandersetzung mit den verbliebenen Elementen der "Ressource Grün".

Angesichts der latenten finanziellen und personellen Einsparungssituation der kommunalen Grünflächenverwaltungen in Deutschland ergeben sich aus den Forderungen und dem erkennbaren Potential auch neue Argumente für den Bestand und die zeitgemäße Weiterentwicklung des städtischen Grüns als kollektives und individuelles Nutzungs- und Bewegungssystem.

Bisher wird in der Planung das Stadtgrün in erster Linie mit der Funktion Naherholung in Verbindung gebracht oder gar als "Begleiterscheinung" der Verkehrsplanung mit Kompensationsfunktion behandelt. Komischerweise gilt das Stadtgrün als "freiwillige" Kommunalleistung, während der motorisierte Verkehr eine "Pflichtleistung" darstellt. Schlaglöcher sind wichtiger als Bäume.

Man kann das Stadtgrün aber auch als Bewegungssystem sehen, als tatsächliche oder potenzielle Alternative zu dem Autoverkehrssystem. Es gehört wenig Prophetie dazu, dass sich das Zeitalter des Privatautos seinem Ende nähert. Hier sind in den nächsten Jahren weltweit Alternativen gesucht. Städte wie Kopenhagen mit seinen Fahrradstraßen, Amsterdam oder Münster weisen einen fahrradbezogenen Weg. Es gibt aber auch pragmatische Alternativen, welche die traditionellen Stadtgrünsysteme, die in vielen Städten vorhanden sind, als eigenes nichtmotorisiertes Bewegungssystem stärker nutzen. Seit Jahrzehnten findet man beispielsweise in Singapur eine grüne Achse, die die schmale Insel mittig durchströmt. Versuchen wir für die Zukunft einmal die urbanen Grünsysteme als alternative Verkehrssysteme zu denken.

Die Grünflächen folgen oft der radialen und linearen Stadtentwicklung und spannen sich im Idealfall, wie beispielsweise in Hamburg, über den gesamten Stadtraum. Der Mensch hat sich als Läufer entwickelt und nicht als Autofahrer. Nicht das Auto ist die urbane Selbstverständlichkeit, sondern das Nicht-Auto. Fahrradstraßen in oder an Parks und Gärten und im Straßenverkehrsgrün so zu entwickeln, dass ein zügiges Vorankommen, weitestgehend unabhängig von der Ampelschaltung und den Emissionen des Autoverkehrs gewährleistet ist, das würde die Motivation der Bevölkerung steigern, sich wieder in den Sattel zu schwingen und kurze Strecken stressfrei an der frischen Luft zurückzulegen.

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Gemeinsames Aufwärmen an einem Hochschulcampus. Foto: Monavander Veen
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Das erste Osnabrücker „Ghostbike“ befindet sich an der Kreuzung Johannistorwall / Kommenderiestraße. Foto: Jan Casselmann

Bewegungskünste als neue Elemente der Park- und Straßenkultur

Entstandene stadtkulturelle Bewegungen, wie beispielsweise "Guerilla-Gardening"' "Street-Art" und "Flashmobs" oder die "Occupy-Bewegung" zeugen von dem Verlangen nach Individualität und Selbstbestimmung, von dem Wunsch nach direkter Demokratie und Ausdruck eigener Gefühlswelt, aber auch davon, dass es im öffentlichen Raum der Städte an besonderen Nutzungsmöglichkeiten und Freiheiten mangelt.

Es wird Raum besetzt, Raum verändert mit vegetationstechnischen- oder künstlerischen Mitteln oder der Raum wird umfunktioniert und für ortsuntypische Nutzungen hergerichtet. Somit werden in individuellen Prozessen die von planerischer Seite angedachten Funktionsschemata kritisch hinterfragt und erweitert. Diese Formen der sozialräumlichen Aneignung sind gleichwohl als Protest und Freiheitsdrang zu interpretieren und bezwecken, aus Sicht der Bewegungsaktivisten, auch eine Aufwertung des Raumes. Wir müssen als Landschaftsarchitekten nicht nur brave Erfüllungsgehilfen der neuen Bewegungskulturen und Moden sein, die wir augenrollend beobachten. Sondern wir müssen diese Jugendkulturen als potenzielle Verbündete im Kampf für eine gesunde Stadtumwelt sehen.

Sieht man das urbane Umfeld des Menschen von heute als seinen künstlich geschaffenen Lebensraum, so ist es verständlich, dass er versucht durch Prozesse der Individualisierung Einfluss auf die Gestaltung seiner Umwelt zu gewinnen. Die eigenen Bewegungsinteressen entsprechen nicht dem starren autogeschuldeten Verkehrssystem in Stadt und Land. Es geht aber neben dem Hinterlassen von Spuren, der Absicht zeitgenössische Botschaften zu senden und für die Nachwelt zu inszenieren, im wesentlichen Maße auch um Identifikation und Aneignungsprozesse. Die Verdeutlichung in der Aussage: "Hier war ich, ich bin ein Teil des Raumes, der mich umgibt und ich werde mich wider der gesellschaftlichen Normen und Akzeptanz in die Gestaltung einbringen."

Skateboarding, Punk, Hip-Hop, Parkour und Open-Air-Festivals… Eine Betrachtung der gewachsenen Straßenkultur

Seitdem in den 1950er-Jahren Kaliforniens Surfer begannen Rollen unter ihre Bretter zu schrauben, um ihr Lebensgefühl auch auf den Asphalt zu transportieren - seitdem in den 1980ern schwarze Jugendliche in den Problembezirken der US-amerikanischen Großstädte anfingen durch Poetry-Slams und Tanzveranstaltungen im öffentlichen Raum auf die Chancenungleichheit in der Gesellschaft aufmerksam zu machen - seitdem junge Menschen in allen europäischen Großstädten anfangen auf der Straße zu trainieren, auf der Straße zu feiern und auf der Straße ihren kulturellen Mittelpunkt zu finden - seitdem ist das Phänomen "Straßenkultur" (Engl: Street-Culture) ein kaum zu übersehendes, ein stetig wachsendes Feld urbanen Lebens.

Ein wesentlicher Motor dieser Entwicklungen findet sich in der Motivation von Jugendlichen und Heranwachsenden. Diese Altersgruppe definiert sich besonders stark über Ausdrucksformen. Abgrenzung von anderen Altersgruppen, die Entwicklung eigener Verhaltensmuster, Sprache und Dress-Codes bilden den "Style", über welchen sich die Jugendlichen in verschiedene Szenen einordnen und sich unter Gleichgesinnten in Cliquen, Crews und anderen Gruppen formieren. Soziologen sprechen hier von "Peergroups". Diese Bezugsgruppen zeichnen sich durch Mitglieder etwa gleichen Alters, ein freundschaftliches Verhältnis und ähnliche Interessenlagen aus.

Innerhalb der Peer-Gruppierungen herrscht Gleichrangigkeit. Die Mitglieder begegnen sich auf Augenhöhe und entwickeln gemeinsame Verhaltensstandards. Der Entwickler der Peer-Group Theorie (Charles H. Cooley (1864-1929)) stellte die Vermutung auf, dass sich besonders Kinder- und Jugendliche in Gruppenstandards stärker an Menschen ähnlichen Alters als an den eigenen Eltern orientieren und dass Verhalten und Ansichten auch im fortschreitenden Alter wesentlich von Menschen im direkten Umfeld beeinflusst werden. Bei der Altersgruppe der unter 20-jährigen ist derzeit ein Trend hin zu einem vitaleren und bewussteren Lebensstil erkennbar. Auch durch die Vielfalt an neuen Medien findet ein reger Austausch statt, wenn es um körperkulturelle Aspekte, um Sport, Ernährung und Gesundheit geht. Rausch- und Genussmittel haben mittlerweile ihr Image der "rebellischen Coolness" eingebüßt.

Nach einer Studie der "Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung" von 2012 haben noch nie so wenige Teenager zur Zigarette gegriffen. Auch das Interesse an Drogen wie Cannabis und Alkohol scheint unter Jugendlichen im Vergleich zu den 1980er Jahren zu sinken. Statistisch gesehen steigt das Alter des Erstkonsums. Auch die Häufigkeit des Konsums unter Jugendlichen ist rückläufig, wie die Drogenbeauftragten von Frankfurt und Berlin in der Auswertung aktueller Studien und Umfragen festgestellt haben. Demnach lebe jeder zehnte Frankfurter Teenager derzeit komplett abstinent. Das ist für die Stadt ein erfreulicher Moment.

Street-Sport und Street-Credibility

Die Jugend definiert sich heute über Faktoren wie "Skills" (Deutsch: Fähigkeiten), welche speziell in Streetsport-Disziplinen, beispielsweise Skateboarding und Parkour, zum Tragen kommen. Diese Disziplinen haben sich im Kontext der räumlichen Urbanisierung entwickelt und sind untrennbar mit der Stadt verbunden.

"Unter Streetsport bzw. Straßensport werden sportliche Aktivitäten verstanden, die sich in Zeiten stetig ausdehnender urbaner Räume nicht, wie meistens typisch für traditionelle Sportarten, in extra angelegte und funktionalisierte Räume oder Plätze zurückziehen, sondern die Straße oder den öffentlichen Platz für ihre Zwecke okkupieren und auch umfunktionalisieren." (Wenzel 1997, S. 183)

Die Selbsteinschätzung der Athleten, was ihre Befähigung zu gewissen Extremen der körperlichen Betätigung betrifft, birgt bei der Ausführung ihres Sportes im öffentlichen Raum ein gewisses Konfliktpotenzial. Die Athleten handeln dem Anschein nach oft waghalsig und sich selbst gefährdend, wenn sie etwa keine Schutzhelme tragen. Regelmäßig kommt es zu hitzigen Diskussionen mit Passanten, die den jungen Menschen mangelnde Verantwortung für sich selbst, ihre Mitmenschen und den "fremden Besitz" - den genutzten Stadtraum vorwerfen. Erst bei genauerer Betrachtung wird deutlich, wie klar strukturiert und kunstvoll die Streetsport-Disziplinen sind. Jede Bewegung ist technisch durchdacht. Es geht darum, dem Stadtraum die eigene Marke zu geben - nicht durch Lärm, Schmutz und Beschädigung, wie von Kritikern häufig unterstellt, sondern durch Interpretation und Auslegung der Stadt als Raum für Bewegungskunst und durch die Verewigung der eigenen "Skills" in Fotos und Kurzfilmen. Auf diese Weise entsteht die so genannte "Street-Credibility" (Deutsch: Straßen-Glaubwürdigkeit), welche Anerkennung und Respekt unter Gleichgesinnten bezeichnet, die man sich durch seine Aktionen verdient.

Die strikte Anordnung von Freiraumelementen und Architektur sowie die zugeordneten regulären Nutzungsmuster werden per se nicht als vollwertig empfunden. Durch die elegante Form der bewegten Nutzung, die weder von planerischer Seite vorgesehen war, noch vom regulären Stadtverkehr als Option gesehen wird, kommt in den Athleten das Gefühl auf, den Raum für einen Moment besessen zu haben, sich mit dem Ort und dem Raum zu "vereinen". Sie bringen dem Ort, spätestens ab diesem Moment, höchste Wertschätzung, ja ein Stück "Heimat" entgegen. Er wird zu einer rituellen Stätte. Der so genannte "Spot" entsteht. Sollten Spuren der alternativen Nutzungen bleiben, so ist dies für die Athleten akzeptabel, denn die Stadt gewinnt in ihren Augen durch die neu aufgezeigten Möglichkeiten an Wert und Funktionalität. Grundsätzlich ist ihnen jedoch daran gelegen, den Ort so zu hinterlassen, wie sie ihn selbst gerne vorfinden würden. Häufig werden sogar noch Glasscherben und Müll beseitigt, bevor das Training beginnen kann.

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Parkour-Training am Osnabrücker Ledenhof: Junge Athleten nutzen eine Pergola, die mit einem Spanngurt modifiziert wurde. Foto: Jan Casselmann
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Alternative zum Treppe laufen. Foto: Monavander Veen

Das Besondere an dem jungen Sport "Parkour" ist sein Facettenreichtum: Er besteht im Wesentlichen aus Elementen von Leichtathletik, Klettersport und Turnen. Es fließen außerdem Akrobatik und Tanz mit ein. Der Sport wächst mit seiner Anhängerschaft. Gründervater David Belle äußert sich regelmäßig begeistert in sozialen Netzwerken (Facebook und Twitter) über die selbstständige, virale Entwicklung seiner Idee von der Kunst der Fortbewegung ("L'art du déplacement"). Schon Friedrich Schiller erkannte die Bedeutung des alterslosen Spielens als die zentrale Lebens- und Lernäußerung der Menschen: "Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt."

In jeder größeren Stadt finden sich mittlerweile Engagements zumeist jüngerer Menschen, die sich für ein besseres informelles Sport- und Bewegungsangebot in ihrer urbanen Lebenswelt einsetzen. Die aktive Freizeitgestaltung hat, in Zeiten einer Flut neuer Medien, bei vielen Jugendlichen wieder einen hohen Stellenwert erreicht und dient als Mittel, sich zeitweilig von den Bildschirmen zu lösen und die Welt wieder räumlich zu erfahren.

Bezeichnend ist, dass es innerhalb dieser Szene-Gruppierungen kaum einen Unterschied macht, wie der soziale Status, die Nationalität, das Geschlecht oder der gesundheitliche Zustand eines Individuums ist. Jeder macht das Beste aus den gegebenen Möglichkeiten und verdient sich auf diese Weise den Respekt und die Anerkennung innerhalb der offenen Gruppen.

Es wird Zeit (für uns Planer), angemessen auf die neuen Bewegungsformen zu reagieren

Heute, in einer Zeit wo beinahe jede Stadt einen ausgewiesenen Skate-Park zum Bestand zählen kann und die Menschen in den Straßen und auf öffentlichen Plätzen mit Selbstverständlichkeit Rollsport betreiben, kommt es einem wie ganz normaler Stadtverkehr vor. Die Sportart hat sich über Jahrzehnte im Stadtraum entwickelt, einen Trendboom in der 90er-Jahren erlebt und mittlerweile einen etablierten Wirtschaftszweig hervorgebracht - mit Sportausrüstung, Kleidung, Videoproduktionen, Merchandise, Sportanlagen und Events.

Wenn man sich mit "alten Hasen" der Skate-Szene unterhält, bemerkt man erst den Unterschied in dem gewachsenen Verständnis der Position des Sportes und der Bedeutung für die Zukunft: In den Anfängen war es mehr ein Ringen um Respekt und Anerkennung im öffentlichen Raum. Skateboarder mussten damals um jeden Zentimeter Trainingsfläche kämpfen. Heute ist Skateboarding weltweit zu finden.

Mit dem Image der Jogging- und der Trimm-Bewegung der 1960er-/70er-Jahre war es nicht sonderlich anders. Man sah Menschen, die öffentliche Grünanlagen für neue Formen sportlicher Betätigung nutzten an, wie Besucher von einem anderen Stern. Heute wird in der Regel jeder Marathonläufer von seinen Mitmenschen mit Respekt behandelt.

Der Parkour-Sport wird in den Medien derzeit als Trendsport bezeichnet. Hier ist die Bezeichnung angebracht, da sich der Sport nach wie vor in einer strukturellen Entwicklung befindet. Selbige Umschreibung kommt, auch nach bald 50 Jahren, noch immer den Skatesport-Disziplinen zu. Im November 2012 stellte eine freie Journalistin des Frauenmagazins "Brigitte" die Forderung auf, Skateboarder sollten ab einem Alter von 30 Jahren doch gefälligst das Board in die Ecke stellen und erwachsen werden.

Dieser Kommentar führte in der Skate-Szene zu lautstarken Protesten. Die Redaktion des Magazins musste sich aufgrund eines Shitstorms aus ganz Deutschland auf ihrer Homepage für die freie Meinungsäußerung und für die subjektive, zielgruppengerechte Darstellung ihrer Mitarbeiterin entschuldigen. Die Redakteure erkannten, dass sie eine Grenze übertreten hatten und dass die Ü30-Skater gesellschaftliche Akzeptanz verdienen.

Bewegung braucht Raum

Das Begehren der Bevölkerung nach Partizipation und Teilhabe an Stadtentwicklungsprozessen, alternative Nutzungen und nachhaltiger Umgang mit räumlichen Ressourcen in der Stadt sind Ausdruck unserer Zeit und werden zunehmend als konzeptioneller Ansatz bereits während der Planung gefordert. Das erstrebenswerte sozialräumliche System sollte der Bildung eines Bezugs von Nutzern zu den örtlichen Freianlagen dienen, identitätsstiftend sein, das zwischenmenschliche Verhaltensgefüge positiv beeinflussen und stadtkulturellen Kunstformen die nötigen Ausdrucksmöglichkeiten geben.

Die spielerische Herangehensweise, das neue Entdecken und Erleben des Freiraums als Ort bedingungsloser Möglichkeiten, sollte die Menschen animieren, sich auf neue Weise, bewusst oder unbewusst mit Bewegung zu beschäftigen. Raumfolgen und -inhalte könnten nach dem Prinzip der Erlebnisarchitektur konstituiert werden: Markante Baukörper (zum Beispiel bekletterbare Skulpturen, spielerisch nutzbare Freiraumarchitekturen) würden der Orientierung dienen, Treffpunkte bilden und gleichzeitig die körperliche Betätigung promoten. Baukunst muss von der optischen zur haptischen Erfahrung erweitert und erlebbar gemacht werden.

Im Street-Sport finden gruppendynamische Prozesse statt, die gesellschaftlich hochwillkommen sind. Sie reichen weit über die Landesgrenzen hinaus und sind für das Image einer Stadt oder gar einer ganzen Region förderlich. Aktive Stadtbewohner, mit einem geschulten Blick für die urbanen Gegebenheiten ihrer Heimat, werben für Nutzungsqualitäten, prangern Missstände an und setzen sich in einzigartiger Weise mit ihrer Stadt auseinander. Die Athleten warten auf Gelegenheit, sich selbst, aber auch ihre Stadt und die gegebenen Trainingsmöglichkeiten vor Publikum aus der Szene und der breiten Öffentlichkeit präsentieren zu dürfen.

In jeder Stadt in der sich Parkour-Gruppen etablierten, finden öffentliche Trainings, Gatherings (Deutsch: Zusammenkünfte) und Workshops statt, zu denen teilweise auch Teilnehmer aus anderen Städten - bei großen Events sogar aus anderen Ländern - anreisen. Man begegnet sich ohne Konkurrenz und mit gegenseitigem Interesse. Die Athleten gehen offen auf interessierte Beobachter zu und laden dazu ein, sich ebenfalls an der neuen Bewegungsform zu versuchen.

So kommt es zu einem nachhaltigen Aufbau von neuen Nutzungsstrukturen im Stadtraum und Verhaltensmustern im sozialen Gefüge. Die Stadt wächst mit den Menschen, sie bewegt sich mit ihnen. Als Landschaftsarchitekten, Grünflächenämter und Stadtpolitiker müssen wir dies als Chance betrachten, gemeinsam mit den neuen Bewegungskünstlern, die Stadtumwelt spannender und ökologischer zu gestalten. Es geht darum, unsere Grünräume als Teil einer vielfältigen Bewegungskultur zu sehen und das Stadtgrün als vollwertigen Teil eines neuen Bewegungssystems innerhalb der Städte zu begreifen. Eigentlich brauchen wir in jedem Grünflächenamt Experten für neue Bewegungs- und Gesundheitskulturen.

B. Eng. Jan-Peter Casselmann
Autor

Wissenschaftlicher Mitarbeiter - Freiraumplanung

Prof. Dr. Jürgen Milchert
Autor

Hochschule Osnabrück

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