Sprühnebel statt Wasserbecken

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Brunnen
Der Freiheitsbrunnen als „Lichtmöbel“, vor dem Haus der Weberzunft am Weinmarkt,im Zentrum von Memmingen. Bronzestele mit Licht und Wassernebel, beides mit wechselnder Intensität, automatisch gesteuert. Fotos und Grafik: Metallatelier

In Erinnerung an ein politisches Manifest der oberschwäbischen Bauern im Jahr 1525 hat die Stadt Memmingen im Mai 2014 den Freiheitsbrunnen am Weinmarkt eingeweiht. Die Gestaltung stammt vom Landsberger Künstler Andy Brauneis, der aus einem Wettbewerb als Sieger hervorgegangen war. Er hat sich die Freiheit genommen, das Thema zeitgemäß zu interpretieren. Statt eines Wasserbeckens steht im Stadtzentrum nun eine weithin sichtbare Stele aus Bronzeplatten, aus der mystisch anmutend Wassernebel quillt.

Die Form

Das Fundament des Brunnens ist aus sieben mal sieben Betonsteinquadern gebildet. An deren Außenkanten sind in Kurzform die Beschwerden und Forderungen der oberschwäbischen Bauern zu lesen, die im März des Jahres 1525 am Weinmarkt formuliert worden waren. Die Metallkonstruktion der Stele basiert auf zwölf Rechtecken, die auf sechs Etagen einander gegenüber gestellt sind. Diese zwölf rechteckigen Elemente der Stele stehen für die zwölf Bauernartikel. Realisiert wurde das Objekt vom Metallatelier aus dem Deggenhausertal.

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"Mit einer Grundfläche von 60 mal 60 Zentimeter und einer Höhe von 9,6 Meter ist die Bronzestele ein Symbol für Zerbrechlichkeit und Verletzbarkeit der Freiheit" ist auf der Website der Stadt Memmingen zu lesen. "Auch in der Offenheit der Konstruktion liegt Bedeutung. Von allen Seiten der Brunnenstele ergeben sich Durch- und Einblicke. Wir sehen, warum die Stele hält und was sie zum Einsturz brächte. Genauso müssen die Bauprinzipien einer freiheitlichen Gesellschaft für ihre Bürger einsichtig und prüfbar bleiben. Auch deshalb ist der Brunnen begehbar. Es gibt kein Wasserbassin, keine Barriere hält auf Distanz. Vor der Freiheit muss niemand ehrfurchtsvoll verharren."

Das Wasser

Nur wenn es in Memmingen regnet, wird der Freiheitsbrunnen wirklich nass. Das Versprühen des Nebels verbraucht mit 100 Liter pro Stunde wesentlich weniger Wasser als ein herkömmlicher Brunnen. Das sei eine seiner Intentionen gewesen, betont der Künstler. Zudem führt die dabei stattfindende Verdunstung in der warmen Sommerzeit zu einer angenehmen Kühlung auf dem Weinmarkt. Derlei Motive entsprechen dem internationalen Trend der wasserorientierten Stadtplanung, die eine Verbesserung des Mikroklimas und der urbanen Lebensqualität zum Ziel hat.

Die Erscheinungsform des Brunnens wandelt sich permanent. Dafür sorgt die Steuerung der Sprühdüsen und der Beleuchtung, aber auch die Temperatur und Luftfeuchtigkeit auf dem Platz. Bei Windstille und 100 Prozent Luftfeuchte entsteht viel sichtbarer Sprühnebel, der an den Boden des Platzes sinkt. Ist es hingegen warm, windig und trocken, verschwindet der Nebel, da das versprühte Wasser sofort verdunstet. Eine Interaktion von Kunst und Mikroklima also, die von unterschiedlicher Beleuchtung profitiert. Bilden sich bei Tagesanbruch Tropfen aus Kondenswasser an den Unterkanten der Bronzeplatten, glitzern sie in der aufgehenden Sonne für kurze Zeit wie Tautropfen an einer Pflanze.

Die Beleuchtung

Zwei Miniatur-Scheinwerfer, von unten nach oben strahlend, sind an der Basis der Stele unter einer neun mal neun Zentimeter kleinen Perlucor-Scheibe verborgen. Dieses Spezialglas aus der Wehrtechnik, das in größeren Abmessungen nicht zu haben ist, hat im Vergleich zu sonstigen Gläsern die fünffache Stabilität und bleibt auf Dauer optimal lichtdurchlässig. Das Licht schaltet sich abends, wenn es dunkel wird, automatisch ein. Dann variiert die Intensität des künstlichen Lichts so, als würde es atmen - die Helligkeit nimmt langsam zu, bis zum maximalen Wert, und dann allmählich wieder ab. In der Morgendämmerung gehen die Strahler automatisch aus. Ist der gesprühte Nebel im unteren Teil der Stele mal dichter und damit lichtundurchlässiger, kommt weiter oben kaum genug Licht an, um die mehr als 9 Meter aufstrebende Metallkonstruktion zur Geltung zu bringen. Ist der Nebel vor allem oben, wirkt die Stele hingegen insgesamt hell und hoch.

Aber auch tagsüber gibt es ein wechselndes Schauspiel für die Betrachter. Dann kommt die Helligkeit als Tageslicht aus der anderen Richtung, vorwiegend von oben, je nach Sonnenstand und Bewölkung. Dass die Erscheinungen von Metallform, Licht und Wasserdampf sich permanent gegenseitig beeinflussen, ist erwünscht. "Die sich ständig verändernde Wassernebelkonfiguration aufgrund der ortsspezifischen Parameter wie Luftfeuchte, Lufttemperatur und Thermik sind konzeptioneller Bestandteil des Brunnenentwurfes", betont Künstler Brauneis und freut sich über die von der Witterung abhängige wechselnde Erscheinung seines Objekts.

Die Konstruktion

Kunst aus Metall und hochwertige Technik, dezent verborgen, ist eine Spezialität des Metallateliers, das den Freiheitsbrunnen in Absprache mit dem Künstler geplant, gebaut und montiert hat. Die extravagante Auswahl technischer Details beginnt schon bei der Statik. Ein schlankes Gerüst aus Edelstahl trägt die 60 Millimeter starken rechteckigen Elemente aus Bronze, die wie aufeinander getürmte Spielkarten eines Kartenhauses leicht und balanciert wirken. Einer gehörigen Portion Feinarbeit bedurfte es auch an den Düsen. Sie sind mit 0,1 Millimeter kleiner als ein Stecknadelkopf und bündig in die Bronzeplatten integriert, aber dennoch leicht austauschbar.

Nach dem Wunsch des Künstlers sollte das Edelmetall Bronze in seiner wertigen Erscheinung die Freiheitsartikel repräsentieren. Das verwendete Material mit der Bezeichnung CuSn8 wurde in einem Ulmer Spezialbetrieb für die hier erforderliche Dimension von vier Millimeter starken Blechen eigens ausgewalzt. Absolute Genauigkeit bei den Bronzeflächen war Voraussetzung, um sie in der gewünschten Art aneinander fügen und auf das Edelstahlgerüst montieren zu können. Doch damit nicht genug - die Bronze soll bei Bedarf auch demontierbar sein. "Die 60 Millimeter starken Bronzeelemente erscheinen lose aufeinandergestellt, glatt, massiv, scharfkantig. Dennoch muss sowohl die tragende Gitterstruktur aus Edelstahl, als auch die Wassertechnik und die Sensorik von den Bronze-Elementen reversibel und dennoch sicher umschlossen werden", gab das Team des Metallateliers, nicht ohne Stolz, bekannt. "Das Problem haben wir durch eine filigrane - wie ein Puzzle ineinandergreifende - Eckverbindung gelöst." Diese erfordert allerdings eine Toleranz im zehntel-Millimeter-Bereich, welche durch einen Faserlaser als Schneidewerkzeug erreicht werden konnte.

Die Sicherheit

Neben der Standfestigkeit der Stele als Ganzes müssen ebenso ihre Einzelteile einen Sturm, Hagel und Blitzschlag unbeschadet überstehen und so verankert sein, dass Personen nicht verletzt werden können. Auch wird das Wasser mit größtmöglicher Sorgfalt aufbereitet. Es enthält nach Aussage der Konstrukteure des Metallateliers weder mineralische Inhaltsstoffe wie Kalk, noch Bakterien oder ähnliche organische Bestandteile. Außer Personenschaden soll auch Sachschaden generell vorgebeugt werden. Da die Brunnenanlage für den Betrieb während des ganzen Jahres konzipiert ist, wird sie bei Frost vorsorglich und automatisch außer Betrieb genommen. Neigt sich das Jahr seinem Ende und es wird kälter, übernehmen in der Stele integrierte Frostwächter die Regie.

Elektrizität und Wasser, die zur Funktion des Brunnens nötig sind, werden voneinander fern gehalten. Elektrische Sicherungen verhindern gefährliche Situationen. Zusätzlich soll vermieden werden, dass der unterirdische Technikraum überflutet werden kann. Entsprechende Sensoren melden, so die Idee des Metallateliers, einen Wasserschaden und sonstige Ausnahmesituationen, indem sie die Brunnenbeleuchtung in eine dezent warnende, mit den vorhandenen Strahlern blinkende Anlage, verwandeln. Auswahl und Programmieren einer solchen Steuerung ist ein Spezialgebiet des Metallateliers. Auch die wechselnde Beleuchtung und die Sprühintervalle sind ein Ergebnis der intensiven Beschäftigung mit Softwaremodulen. Den Sprühnebel lassen sie sechs Minuten lang austreten. Dann ist drei Minuten Pause, bevor sich das Ereignis wiederholt. In den Monaten November bis Februar wird die Pause dem Wetter angepasst und verlängert sich auf eine Stunde.

Der Stadtraum

Eine lebendige Stadt zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass sie Traditionelles bewahren kann und zugleich für Neues offen ist. Ulm mit seiner neuen Mitte und seinem modernen Stadthaus in unmittelbarer Nähe zum Münster ist ein Beispiel, ebenso Memmingen mit dem Freiheitsbrunnen auf dem historischen Weinmarkt, wenn auch in kleinerem Maßstab. Wie die Stadt um 1525 für die Reformation und die Forderungen der Bauern aufgeschlossen war, ist sie es knapp 500 Jahre später für diese abstrakte Brunnenkunst.

Auf ihrer offiziellen Website nimmt die Stadtverwaltung deutlich Stellung und bekundet: "Die Gestaltung der feinen, vertikal aufragenden Linien korrespondiert mit der Fachwerkskonstruktion der benachbarten Weberzunft aus dem Jahr 1478. Die Brunnenskulptur steht in einem harmonischen Verhältnis sowohl zur Farbstellung der Fachwerkriegel wie zu den Proportionen der Fachwerkfelder. Der hoch aufragende Baukörper der Stele ist dem hohen Giebel der Weberzunft ein ebenbürtiges Pendant. Die Leichtigkeit der Konstruktion verhindert, dass der bedeutenden Fachwerkfassade ihre Wirkung genommen wird."

Die Botschaft

In den "Zwölf Artikeln" wird unter Berufung auf "göttliches Recht" die Universalität der Menschenrechte bezeugt, die durch kein lokales oder sonstiges Sonderrecht außer Kraft gesetzt werden dürfen. Die "Zwölf Artikel" sind damit zu allererst ein Monument der Freiheit, das für alle Menschen und zu allen Zeiten Gültigkeit beansprucht - erklärt Memmingens Pressereferat. Die Tafeln des Freiheitsbrunnens stehen für je einen Artikel. Aber sie sind nicht fest gemauert. Ihre Auflagen sind behutsam verzapft, die Profile schmal, die Konstruktion zeigt sich feingliedrig und beinahe fragil. "Die Zartheit der Skulptur wird damit zum Symbol für ein kostbares Gut, dessen Fortbestand unsere ganze Aufmerksamkeit verdient. Das hochwertige Material Bronze trägt das seine dazu bei, diese Botschaft zu transportieren", interpretiert Dr. Hans-Wolfgang Bayer, Leiter des Kulturamtes der Stadt Memmingen, und rechtfertigt auch die strenge und abstrakte Form des Brunnenobjekts:

"Kunst ist in vielem die Sichtbarmachung dessen, was sonst nicht sichtbar wäre. Und sie bedient sich dafür einer eigenen Sprache. Wie sonst könnte es ihr gelingen, über den Alltagsdiskurs hinauszugehen. Das ist im Übrigen keine Eigenheit der Moderne, dies gilt für alle Epochen. Berechtigung und Auftrag der Kunst nähren sich aus dem Anspruch, die Dinge mit anderen Augen zu sehen. Es darf deshalb nicht verwundern, wenn ein Kunstschaffender wie Andreas Brauneis das Gedenken an den abstrakten Wert der Freiheit in eine abstrakte Form gießt."

Memmingen - die Stadt und der Weinmarkt

Wer mit dem Zug hier ankommt und das Bahnhofsgebäude zur Innenstadt hin verlässt, blickt in die schnurgerade, nach Westen führende Maximilianstraße, die sich nach einigen hundert Metern für ein kurzes Stück auf der rechten Seite weitet und so den Weinmarkt bildet - keine große weite Fläche, eher ein Nebeneinander von Fahrspuren, schräg angeordneten Pkw-Stellflächen und dem verbreiterten Gehweg mit dem neuen Freiheitsbrunnen. Mächtige Häuser, meist verputzt und giebelständig, säumen den Platz. Ein typischer Teil des historischen Zentrums einer ehemals freien Reichsstadt in Oberschwaben. Memmingen nennt sich selbst das Tor zum Allgäu - Stadt der Tore, Türme und Giebel. Die historische Substanz ist gut erhalten. Im letzten Krieg wurde nicht allzu viel zerstört.

Über viele Jahrhunderte war das Memminger Handwerk in elf Zünften organisiert. Die zahlreichen Zunfthäuser am Weinmarkt machen deutlich, welch hohen Stellenwert das Handwerk für die Stadt hatte. Die Kramer, Weber, Metzger, Merzler, Lodner und Zimmerleute umrahmten mit ihren Zunfthäusern diesen alten Markt. Hinter dem vielleicht mächtigsten Giebel am Weinmarkt war im Mittelalter die Vertretung derjenigen Kaufleute, die nur innerhalb der Stadtmauern ihre Waren verkaufen durften. Als "Kramer" wurden 42 Berufe aufgenommen, vom Apotheker bis zum Zuckerbäcker. Im Gebäude der Kramerzunft (heute Weinmarkt 15) hatten im März 1525 die aufbegehrenden Bauern zwölf Artikel mit Forderungen, die vermutlich erste Menschenrechtserklärung Europas, verfasst.

Andy Brauneis - Der Künstler

Andy Brauneis, Jahrgang 1964, studierte Architektur und Stadtplanung an der Universität Stuttgart. 2003 bis 2005 war er Mitglied im Baukunstbeirat der Stadt Augsburg. 2005 war er von April bis Juni Stipendiat der Deutschen Akademie Rom Casa Baldi. Für die Installation einer "Kulturpalette" im Rahmen der Bewerbung Augsburgs als Kulturhauptstadt Europas erhielt er den Augsburger Zukunftspreis 2006 in der Kategorie "Klimaschutz" und den dritten Preis des Deutschen Holzbaupreises 2005.

Im Rahmen der StadtBauKultur Nordrhein-Westfalen (NRW) - Kampagne und des Wettbewerbs "Sehen lernen" wurde die von Brauneis in Kooperation mit Nicolette Baumeister (Kommunikationsmodule) und Christian Schüller (Tragwerksplanung) entwickelte "Sehstation" 2008 in Münster eröffnet und tourte bis 2010 durch 13 Städte in NRW. Die aus Holz bestehende mobile Architektur erinnert an eine Balgenkamera und lädt ein, sich in ihr niederzulassen, um Platzgeschehen und Platzgestalt in Ruhe zu betrachten.
www.sehenlernen.nrw.de/downloads/presse/VitaBrauneis.pdf

Auftraggeber: Stadt Memmingen
Gestiftet von: Lissy Bach-Schedel und Dr. Claus-Peter Bach
Künstler: Andy Brauneis, Landsberg am Lech
Realisation Kunst, Metall & Technik: Metallatelier GmbH, Deggenhausen
Dimensionen/Gewicht Bronzestele: 0,60 x 0,60 x 9,60 m / 1,1 t
Steuerung: Beckhoff Automation GmbH, Verl
Standort: Auf dem Weinmarkt, im Zentrum von Memmingen
Fertigstellung: Mai 2014
Dipl.-Ing. Klaus W. König
Autor

Sachverständiger und Fachjournalist

Sachverständigen- und Fachpressebüro Dipl. Ing. Klaus W. König

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