Urbaner Deichbau: Hochwasserschutz für Stadtquartiere

Take Me to the Water

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Hochwasserschutz Flutungsflächen
1 Verbindung zwischen Wasser und Landbebauung: Im Mai eröffnet der neue Stadtstrand Bremens. Foto: Hanns Joosten

Hochwasserschutz ist Stadtentwicklung. Bisher wurde er oft monofunktional zum Zweck des Überschwemmungsschutzes konzipiert und gebaut. Dementsprechend entstanden öffentliche Räume ohne Wert für den menschlichen Aufenthalt: Bestehende Stadtsysteme wurden mit Verlust von Natur und Freiraum umgebaut, große Ingenieursbauwerke errichtet, hohe Mauern und Grenzen zum Wasser erstellt, alte Bäume gefällt und Stadträume zerschnitten.

Aufgrund der Klimaveränderungen ist Hochwasserschutz eine Kernaufgabe der Stadtentwicklung des kommenden Jahrhunderts. Hochwasserschutz ist kostenintensiv. Allein durch das Nationale Hochwasserschutzprogramm werden Bundesmittel in Höhe von mehr 100 Millionen Euro jährlich in den Ausbau der Hochwasserschutzanlagen investiert.

Wie kann ein moderner, natur- und menschennaher Schutz vor Überflutung aussehen? Wir brauchen eine neue Vision für den Deichbau: Für einen zusätzlichen Bruchteil der Bausumme können neue, am Wasser gelegene, hochwertige Stadträume entstehen. Durch subtile Eingriffe im Freiraum kann Hochwasserschutz im Einklang mit ökologischen Ansprüchen und der Aufwertung des Naherholungsgebietes gewährleistet werden. So kann Hochwasserschutz positiv gestaltet und dem steigenden Anspruch der Bevölkerung an die Aufenthaltsqualität des öffentlichen Raums gerecht werden.

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2 Platz am Molenturm Richtung Strand und Überseestadt. Foto: Hanns Joosten
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3 Das Areal um den Molenturm wurde behutsam aufgewertet, der Turm wurde freigestellt und hat einen Vorplatz mit Sitzmöglichkeiten erhalten. Foto: Hanns Joosten

Interdisziplinarität

Die neue Parkanlage Waller Sand in Bremen zeigt, wie die komplexen, technischen Erfordernisse eines Landesschutzdeichs mit hoher baukultureller Qualität verbunden werden können. Dabei wird einen vielfältig nutzbaren öffentlichen Raum mit Aufenthaltsqualität geschafft.

Hochwasserschutz wird im diesem Projekt als gemeinsame Bauaufgabe verstanden, in der Ingenieure in enger Zusammenarbeit mit Landschaftsarchitekten eine baukulturelle Lösung und einen zukunftsfähigen Ansatz für den Hochwasserschutz finden. Die große Herausforderung besteht darin, die verschiedenen Disziplinen zusammenzubringen, sodass technische und gestalterische Anforderungen übereinstimmen. Gelingt die Interdisziplinarität, kann Hochwasserschutz als integrierte Bauaufgabe einen Mehrwert für die Stadtentwicklung mit hybriden Freiräumen als Resultat leisten. Für diesen neuartigen Ansatz wurde Waller Sand Bremen in die Förderung des Bundes "Nationale Projekte des Städtebaus" aufgenommen, in dessen Rahmen innovative Projekte von nationaler Bedeutung gefördert werden.

Überseestadt Bremen

In Bremen und Bremerhaven müssen laut Generalplan Küstenschutz rund 100 Millionen Euro in den Hochwasserschutz investiert werden. In Bremen sind derzeit rund 86 Prozent der Fläche des Landes einer potenziellen Gefährdung durch Hochwasser ausgesetzt. Inmitten der Hochwasserschutzanstrengungen wird im Bremer Hafengebiet eines der größten aktuellen europäischen innerstädtischen Entwicklungsprojekte gebaut: Die Überseestadt. Auf 300 Hektar entsteht ein neues gemischtes Quartier für über 6000 Bewohner mit diversen Kultur- und Bildungseinrichtungen und 17.000 Arbeitsplätzen. Hier wird gleichzeitig ein moderner, integrierter und nachhaltiger Hochwasserschutz angestrebt, der nicht nur die technischen Anforderungen erfüllt, sondern gleichzeitig eine neue, besondere Freifläche erschafft und eine Aufwertung für die Gesamtstadt darstellt.

Die Überseestadt liegt im Westen der Bremer Innenstadt, auf einem Landausläufer im Hafengelände. In dem bis in die 1990er-Jahre als Hafen, rein industriell-gewerblich genutzten Gebiet entsteht seit dem Jahr 2000 das neue Quartier. Die Parkanlage Waller Sand bildet als "Krone" den nordwestlichen Abschlusspunkt dieses aufstrebenden Areals. Sie liegt unmittelbar zwischen dem neuen Quartier und dem Wendebecken des Hafens, das für die Großschifffahrt mit einem imposanten Wendezirkel angelegt wurde und heute noch in Gebrauch ist.

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4 Lageplan mit Molenturmareal, Strandpark und Überseestadt. Abbildung: A24 LANDSCHAFT
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5 Oben: Normaler Deichbau mit Trennung zwischen Stadt- und Wasserkante. Unten: Urbaner Deichbau mit öffentlichem Raum als Verbindung zwischen Stadt und Wasser. Abbildung: A24 LANDSCHAFT

Fluss

Die Weser ist die Lebensader Bremens. Die Häfen der Hansestadt sind Grundlage der langen Handels- und Wirtschaftstradition und bis heute Stifter der städtischen Identität. Rund um das Wendebecken manifestiert sich die Industriegeschichte der Stadt. An der Spitze der schmalen Landzunge, die den Weserstrom vom Wendebecken und dem Areal des Holz- und Fabrikhafens abgrenzt, befindet sich das Molenfeuer. Der bis heute betriebene, unter Denkmalschutz stehende Leuchtturm ist ein Sehnsuchtsort der Bremer. Auf der gegenüberliegenden Uferseite umschließt eine imposante Silhouette aus Industriegebäuden das Wendebecken, darunter die gigantische Getreidewerksanlage, ein Wahrzeichen der Stadt und bedeutendes technisches Baudenkmal.

Der Tidehub der Weser von mehr als 4 Metern ist hier der höchste in der norddeutschen Bucht, hinzukommen die erwarteten Auswirkungen des Klimawandels. Der Generalplan Küstenschutz sieht eine notwendige Anpassung der Deichanlagen um zusätzlich einen Meter vor. Anstelle der bisher rein funktionalen Steinschüttung soll dieser Abschnitt der Überseestadt zu einem Ort der Begegnung entwickelt werden, der mit einem weichen Übergang das Wasser erlebbar macht und die beeindruckende, umgebende Silhouette der Industriegeschichte inszeniert. Durch Landgewinnung entsteht auf dem heutigen Wendebecken ein neuer Park, der die Stadt mit dem Wasser verbindet.

Boulevard

Um die geforderte Bestickhöhe der Deichanlage zu erreichen und die Stadt vor Überflutung zu sichern, wird in der Parkanlage eine Spundwand errichtet. Der obere und sichtbare Teil wird durch eine, das Projektgebiet umspannende, Kombi-Sitzbank umgesetzt. Diese Bank, als Kopfbalken der Spundwand, erfüllt mehrere Funktionen: Sie ist sowohl ein konstruktiver Teil des Hochwasserschutzes als auch ein maßgeblicher gestalterischer Teil des Freiraums. Als städtische Kante bildet sie ein wichtiges, visuelles städtebauliches Element und eine großzügige Aufenthaltsmöglichkeit. Auf der Stadtseite zieht sich die von beiden Seiten bespielbare Bank als Rückgrat des Parks entlang des angrenzenden Boulevards Gustaf-Erikson-Ufer. Der Boulevard wird als eine niveaugleiche verkehrsberuhigte Zone gestaltet, die auf der dem Wasser zugewandten Seite auf dem breiten Deichverteidigungsweg zum Flanieren einlädt.

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7 Zwischen Stadtkante und Wasserkante spannt sich als nutzungsoffene Sandfläche der Strandpark auf, der mit leicht geschwungener Topografie einer Dünenlandschaft nachempfunden ist. Abbildung: A24 LANDSCHAFT
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6 Der Uferweg ermöglicht das Herantreten an die Wasserkante, der Tidegarten minszeniert den Tidenhub. Abbildungen: A24 LANDSCHAFT

Strandpark

Vor der Spundwand wird eine rund 30.000 Quadratmeter große Sandfläche aufgeschüttet, die den Wellenschlag, eine wichtige Komponente bei Hochwasser, abschwächt. Daraus bildet sich ein Strandpark mit Kiefern und Dünengräsern, die den Sand halten. Der großflächige Strandpark, der sich zwischen Stadt- und Wasserkante aufspannt, bildet einen starken atmosphärischen Kontrast zum industriell geprägten Umfeld. Die knapp drei Hektar große, nutzungsoffene Fläche soll stadtweiter Magnet für zahlreiche Freizeitnutzungen und auch Verknüpfungspunkt mit den umliegenden Stadtteilen werden. Wasserseitig wird die Sandfläche durch einen barrierefreien Uferweg abgeschlossen, der die Weser und die Weite des Wendebeckens auch für mobilitätseingeschränkte Menschen unmittelbar erfahrbar macht. Eine polygonale Holzlattenwegestruktur bildet barrierefreie Wege im Sand.

Der Strandpark übernimmt eine wichtige Vermittlungsfunktion zwischen den historischen Industrie- und Hafenanlagen und den neuen baulichen Entwicklungen des Quartiers Überseestadt. Zudem bietet er die Chance, die Hafengeschichte Bremens verstärkt im öffentlichen Bewusstsein zu verankern.

Tidegarten

Der Entwurf interpretiert die Schnittstelle zwischen Flussraum und Hafenareal als eine Kulturlandschaft, die großzügigen Platz für Freizeitgestaltung bietet und das Freiflächendefizit der angrenzenden Stadtteile ausgleicht. Gegenpol zur trockenen, maritimen Dünenlandschaft des Strandparks bildet der wassernahe Tidegarten im Gezeitenbereich. Die Böschung aus Wasserbausteinen wird an zentraler Stelle von unterschiedlich hohen Betonplattformen unterbrochen, die den ausgeprägten Tidehub inszenieren. Anhängig vom Wasserstand sind verschiedene Formationen freigelegt, zwischen denen eine Bepflanzung mit typischer Flachwasser- und Uferrandvegetation die Dynamik der natürlichen Flusslandschaft thematisiert.

Molenturmareal

Das Areal der Abschlussmole war bereits früher ein beliebtes Ausflugsziel. Bisher war die Landzunge über einen Weg aus Gleisschotter zu erreichen. Das Areal um den Molenturm wurde behutsam aufgewertet und die Zugänglichkeit über einen befestigten Weg auch für mobilitätseingeschränkte Menschen erleichtert. Eine Baumreihe, die das Pflanzthema der Promenade aufgreift und fortführt, flankiert den Weg. Der exponierte Abschlusspunkt eröffnet stromabwärts beeindruckende Blickbeziehungen. Das begrenzte Platzangebot wurde direkt am Turm durch einen kleinen Platzbereich und eine Picknickwiese am Wasser erweitert. Eine große, multifunktionale Sitzskulptur aus recycelten Holzbohlen ehemaliger Hafenwände besetzt den Platz an der Mole.

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8 Die Mole wurde in ihrer Eigenart als Hafenelement gestärkt. Gleichzeitig wird die besondere Pflanzengesellschaft, die sich auf dem nährstoffarmen Ort gebildet hat, durch standortgerechte, heimische Pflanzen ergänzt. Das natürlich wirkende Erscheinungsbild der gewachsenen Landschaft bleibt so erhalten. Foto: Hanns Joosten
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9 Die Sitzskulptur aus recycelten Holzbohlen ehemaliger Hafenwände besetzt den Platz an der Mole. Foto: Hanns Joosten

An der Südmole kann urbane Wildnis erlebt werden. Hier wurde aus vor Ort gewonnenem Saatgut mit ortstypischen Pflanzen und Blumen ergänzt. Durch die Ergänzung der besonderen, bestehenden Spontanvegetation auf dem aufgegebenen Gleisschotter mit heimischen Pflanzen wird die gewachsene Landschaft akzentuiert und inszeniert.

Die Parkanlage fügt mit ihren neuen Freiraumnutzungen dem bestehenden Landschaftsbild eine neue, zeitgenössische Komponente hinzu. Durch das Aufgreifen der vorhandenen, ortstypischen Maßstäblichkeit und Materialität des Hafens und des Naturraums passt sich das Neue mit seinen klaren, einfachen und eindrücklichen baulichen Elementen, langen Sitzbänken, einfachen Holzbohlenwegen, in die Dimensionen und die Atmosphäre des Bestandes an. So führt das Design die Offenheit und Weite der bestehenden Industrie- und Naturlandschaft als neue Kulturlandschaft fort.

Wasser für lebenswerte Städte

Wie wollen wir mit dem Wasser leben? Wasserlagen bieten ein Potenzial für die Stadtentwicklung und erhöhen die Möglichkeit zum Naturerleben und Naturerfahren in der Stadt. Vegetation und Wasser werden Teil der Infrastruktur der Überseestadt. Als Kontrast zum dicht bebauten neuen Stadtteil bildet Waller Sand eine poetische, landschaftliche Kulisse und ermöglicht den Zugang zum Wasser. Als bewegliche Landschaft mit vielen veränderlichen, natürlichen Elementen wie Sand und Pflanzen repräsentiert Waller Sand einen flexiblen Entwurfsansatz, in dem der Raum auf den Menschen und seine Nutzungen reagiert. Die naturnahe Gestaltung ist gleichzeitig so konzipiert, dass wenig Pflege erforderlich ist.

Die Parkanlage zeigt als zukunftsweisendes Projekt und Best-Practice-Beispiel auf, wie Hochwasserschutzinfrastrukturen den technischen Anforderungen Genüge tun und dabei als multifunktional nutzbare städtebauliche Elemente entwickelt werden können, die den besonderen historischen Kontexten Rechnung tragen und dem gegenwärtigen öffentlichen Leben angepasst sind. Der urbane Deichbau verdeutlicht, wie komplexe technische Infrastrukturen und baukulturell hochwertige Bestandteile des städtischen Raums komplementär entwickelt werden können zur Schaffung lebenswerter Städte.

Daten

Titel: Parkanlage Waller Sand
Verfahren: VOF-Verfahren
Programm: Park, Promenade, Hochwasserschutz
Bauherr: WFB Wirtschaftsförderung Bremen GmbH
Größe: 3 Hektar
Standort: Bremen
Jahr: 2015-2019
LP: 1-8
Bausumme: 2,5 Millionen Euro
Partner: SWECO GmbH, bremenports GmbH & Co. KG
Förderung: Nationale Projekte des Städtebaus, EFRE

Dipl.-Ing. Lola Meyer
Autorin

Landschaftsarchitektin bei A24 LANDSCHAFT Landschaftsarchitektur GmbH

Autor

Inhaber von A24 LANDSCHAFT

A24 LANDSCHAFT Landschaftsarchitektur GmbH

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