Gute und schlechte Zeiten für Gartenstädte – Hellerau, Teil 2

Über die Zukunftsfähigkeit auslaufender Modelle

von:
Gartenstädte Stadtentwicklung
Im Portikus des Festspielhauses Dresden-Hellerau. Fotos, soweit nichts anderes angegeben, Haike Weichel

Hellerau war eine pragmatische Gründung im Sinne einer Gartenvorstadt und in Anlehnung an ein der Wohnreform verpflichtetes Möbel- und Einrichtungswerk. Camillo Sitte könnte das städtebauliche Programm ausgegeben haben: "Vor allem durch Variationen in Straßenführung und -belag, Begrünung, Ruhezonen usw. (. . .) sowie eine unregelmäßige Gruppierung der Baumassen versuchte man, individuell gestaltete Lebensbereiche zu schaffen."1 Überraschend ist, dass Raymond Unwin, der Howards Ideen in England marginal realisierte, in Bewunderung deutscher Kleinstädte wie Buttstädt zu diesem Pragmatismus zurückkehrte. Er favorisierte eine "Gruppenbildung" bei gemischter Bauweise. Und Howard selbst lobte bei einem Besuch Helleraus die Abweichungen von der reinen geometrischen Lehre. Die bauliche und die Sozialstruktur stimmten auch wegen der Verpflichtung verschiedener Architekten überein.

Innenwelt und Außenwelt

"Am Grünen Zipfel" empfängt einen gleich die leicht gekrümmt ansteigende Straße, sich nach Art eines Angers ausweitend, um wieder schmaler werdend auf den Markt zuzulaufen. Die Fluchten sind in Hellerau immer wieder aufgelockert, Einzelhäuser stehen leicht versetzt. Ihre Giebel schließen auch einmal die Fluchten ab, und auf den Wechsel von Giebel- und Traufständigkeit verstanden sich alle drei Architekten. Dennoch ist Einheitlichkeit durch Reihung gewahrt. Die Wiederholung zur Serie bei Abweichung im Einzelnen lässt Bruno Taut vom "Lied der Masse" sprechen. Ähnlich, nur mit repräsentativer Note, verfuhr Muthesius bei einem Teil seiner "Beamtenhäuser". Er rückte jeweils zwei Giebel der Einfamilien-Reihenhäuser zusammen und versetzte entsprechend die Fenster des Obergeschosses, so dass aus dem Eindruck aneinandergereihter Doppelhäuser ein lebhafter Rhythmus entlang einer horizontalen Linearisierung entsteht.

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Das Festspielhaus 1913. Chronologie der Zeichen im Giebel: yin yang – Hakenkreuz – Roter Stern – yin yang. Foto: Lizenz: CCBY-SA3.0
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Modell der originalen Anlage der „Bildunganstalt für Musik und Rhythmus“.
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Volksschule, 1913, von Kurt Frick.

Sind kleinbürgerliches Wohnhaus oder großbürgerliches Landhaus, sind Arbeiterwohnung, Büro oder Bahnhofshalle auch durch ihre Funktion voneinander geschieden, so können sie doch auf ein identisches gestalterisches Konzept zurückgeführt werden. Verlangt ist eine Reduktion der ganzen Gesellschaft auf einheitliche äußere Formen, die jeweils konkret variiert werden.

Dieses Manifest der Architekturmoderne, das von Muthesius artikuliert worden war, schließt den Garten ein. Migge war Mitglied im Werkbund. Sein Programm: Die Gesamtplanung der Freiflächen umfasst öffentliches und privates Grün und fügt sie zu einer raumübergreifenden Gartengestalt zusammen. Der Hausgarten gilt als Wohnraumerweiterung. In diesem "bewohnbaren Garten" sind zimmerartig gegliederte Räume einzelnen Zwecken entsprechend der Grundrissgliederung des Hauses zuzuordnen. Die Kompartimente und Ausstattungselemente des einzelnen Gartens wie Obstbaumpflanzungen, Spalierwände, Dungsilos und Lauben unterliegen einer Typisierung und Normung, die dann in der Reihung der Gärten eine Serie ergeben. Es sind rhythmische Akzente bei gleichem Muster. Sachlichkeit, Nützlichkeit und Materialgerechtigkeit unterstreichen, dass Migges Gärten einem sozialen Anspruch genügen. Er stimmte das Prinzip von Funktionsorientierung bei rhythmischer Gestaltung auf die Architektur ab. Das Prinzip ist eines des Entwerfens von Innen nach Außen. Dass der Garten nach Harry Maasz "dem Haus entwachsen" soll, dreht Migge sogar um: Das Kleinhaus sei "gartenmäßig" zu entwerfen.2 Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt ...

Dieses Bauprinzip ist näher an Ästhetik dran als Migge wahrhaben möchte. Die Serialität aus Individuellem und Universellem, aus Handwerklichem und Maschinellem wird als Stil der Zeit zum Lebensrhythmus, gebildet aus Tanzkunst und Architektur. Durch die Projektion auf ein menschliches Maß, den lebendigen Körper, wird die Architektur in Bewegung gesetzt. Dalcroze setzte der "Arhythmie des Großstadtlebens" eine "musikalische Plastik" für Zukunftsmenschen entgegen. Das noch junge Festspielhaus seiner "Bildungs-Anstalt" erlebte 1913 seinen Höhepunkt und Niedergang zugleich. Es war, oberhalb eines parkähnlichen Hanges gelegen und auf Riemerschmids Betreiben abgerückt vom Ort, der "grüne Hügel der Moderne". Wer damals das von Tessenow entworfene Ensemble entlang der Haupt-Wegeachse von der Seite her betrat, erlebte den Baukomplex in unterschiedlichen Tempi. Ließ sich hier Mies van der Rohe zu seinen späteren musikalischen Architekturkompositionen inspirieren? Zumindest ist in der Moderne das Medium Musik (neben der konstruktivistischen Malerei) der Übersetzung in Architektur fähig, so beim Landhaus in Backstein, dessen Melodieführung "kontrapunktisch bei freier Rhythmik" ist.3 - Heute ist die Wegeachse geschlossen. In der Totale bildet das einen großen, für Freiübungen gedachten Platz umschließende Ensemble einen Rhythmusraum. Es erinnert an französische Revolutionsarchitektur. Im großen Saal gab es damals so wenig wie heute - nach der gelungenen Restaurierung - eine feste Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum.4 Der "fließende Raum" sollte nach Dalcrozes Vorstellungen, unterstützt durch eine flexible Lichtregie, in einer Durchdringung mit dem Außenraum aufgehen.

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Rückseite des heutigen Festspielgeländes.

Wo kommt die Utopie an?

An manchen Sprachfiguren Migges fällt auf, dass sie mit Sozialkritik anfangen und in völkischen, ja Blut- und Boden-Metaphern enden.5 In jüngeren Jahren hatte er das Pseudonym "Spartakus in Grün" gewählt und Verbundenheit mit libertären Landkommunen (so in Worpswede) demonstriert. Nach zahlreichen Volten kam er jedoch in der Mitte der Gesellschaft an, ließ sich sowohl auf die Planung für Großsiedlungen und Trabantenstädte als auch auf die Realität von Schrebergarten-Kolonien ein. Die formalen Prinzipien, die er entwickelt hatte, waren anpassungsfähig an verschiedene Funktionen und kleine wie größte Maßstäbe: zum Beispiel ganz Berlin als Gartenstadt. Auch Migge stand in der Tradition der Lebensreformbewegung. Zwar schlug sie immer wieder in politische Extreme aus, aber als Siedlungsbewegung hatte sie nur Bestand, sofern sie anerkannte, der bauliche Niederschlag wechselnder sozialer Strukturen zu sein. Als (auch quantitativ) bescheidenes palliatives Mittel gegen städtische Miseren können Gartenstädte nachhaltig sein.

Auch Eden. Gründungsmentor war der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Franz Oppenheimer. Er verstand sich auf Selbstironie: In der Obstbaukolonie gebe es jede Menge Philosophen, aber nur wenige, die bereit sind, Kartoffeln zu graben.6 Auch Oppenheimer hoffte, dass die Dinge sich von selbst erledigen - durch eine Bodenreform. Wenn die Grundrente beseitigt oder ausgelöst wird, könne den Arbeitern, die zu Bauern werden, der volle Ertrag zukommen. Das geht gegen Marx, welcher die Grundrente vom Mehrwert der Arbeitskraft ableitet. Deswegen müsse zuerst das Ausbeutungsverhältnis beseitigt werden. - Als Zionist vertrat Oppenheimer gleichsam einen friedlichen Übergang ins Gelobte Land, wenn jeder seinen eigenen Boden bebaut.7 Von dieser Binnenkolonisation unterscheiden sich aggressive deutsche Außenkolonisationen wie "Neu-Germania" in Paraguay, gegründet 1886, weil Deutschland durch Fleischgenuss und Judentum entartet sei.8 Der Umschlag von Utopie in Dystopie konnte für Juden, die sich in Eden niedergelassen hatten, nicht entsetzlicher sein, wurde doch in der Nähe das Konzentrationslager Sachsenhausen errichtet. Dabei ist über seinen geistigen Vater auch Eden in der Mitte der bundesdeutschen Gesellschaft angekommen. Einer der Schüler Oppenheimers war Ludwig Erhard, der die Wirtschaftslehre mit Pragmatismus in das Wirtschaftswunder umsetzte.

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Abgetreppte Terrassen als verbindendes Glied sind an anderer Stelle durch individuelle Aufgänge ersetzt worden.
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Markt Architekt: Richard Riemerschmid.

Eine andere personelle Kontinuität geht von Hellerau aus. Der Liberale Friedrich Naumann, schwankend zwischen nationalistischer und sozialer Gesinnung, war sowohl an der Gründung des Werkbundes (1907) als auch an der Helleraus (1908) beteiligt. Sein Mitarbeiter Theodor Heuss, ebenfalls Mitglied im Werkbund, wurde der erste deutsche Bundespräsident. Ist der Anspruch des Werkbundes, die soziale und hygienische Lage der Arbeiter durch eine Wohnreform zu heben, politisch in der Demokratie aufgegangen? Oder verkörpert Hellerau den Hang zur Romantik? Der Vorwurf, dass krumme Straßen und winklige Plätze eine geschickt aufgebaute Theaterkulisse seien, kam von Friedrich Ostendorf, der selbst einem barocken Gartenstadt-Typus anhing. Clemens Galonska, Hellerau, hält dagegen, dass unter dem Gesichtspunkt der räumlichen Erfahrung auch das Pittoreske sinnvoll sein kann. Es geht nicht darum: Wie gucke ich drauf? Sondern: Wie gehe ich durch? Das menschliche Maß entscheidet. Und die städtebauliche Differenzierung, die auch dem sachlich-norddeutschen Stil Tessenows Raum gegeben hat.9 Selbst bei dem in jeder Hinsicht riesigen Unternehmen des Festspielhauses bleibt durch schlanke Proportionen, stilistischen Reduktionismus und die Distanz zur Wohnbebauung die Maßstäblichkeit gewahrt. Sie ist erst bei Albert Speer, dem Schüler Tessenows verloren gegangen. Die Nazis machten denn auch kurzen Prozess. Die SS etablierte 1939 eine Polizeischule auf dem Gelände und riegelte es durch zwei Kasernenflügel ab.

Eine von Weltanschauung dominierte Architektur mündet nach Auffassung Galonskas nicht notwendig in einen Totalitarismus, der die ursprünglich emanzipatorischen Ziele ins Gegenteil verkehrt. In einer nüchternen Fassung von Weltanschauung handelt es sich darum, alle Elemente zusammen zu denken und von einem Gesamtplan, der die sozialen Prozesse einbezieht, zum Einzelnen zu kommen. Das wurde in Hellerau erfolgreich angewendet. Riemerschmid entwickelte aus den Parzellen eine Gesamtaussage, um eine Raumwirkung zu entfalten. Die städtebauliche Anlage enthält nichts, was neonazistische Umtriebe begünstigen würde - anders als in manchen Wohnghettos der Nachkriegsmoderne. Durch die kontinuierlichen Privatisierungen besteht jedoch die Gefahr, dass nur noch die städtebauliche Hülle übrigbleibt und Hellerau zum Museumsdorf für Fachpublikum verkümmert, so wie der Begriff "Gartenstadt" bei Neubauten zum bloßen Marketing-Label verkommen ist. Die urbane Öffentlichkeit, die Freiheit des bürgerlichen Gemeinsinnes zurückzugewinnen, ohne Privatheit preis zu geben, würde Riemerschmids (Bebauungs-) Plan zu neuer Geltung verhelfen. Er wollte Intimität und Freiheit zugleich herstellen. Ist damit die Gartenstadtidee im 21. Jahrhundert angekommen? Für die schlechte Realität der Überwachungsgesellschaft hört sich diese Idee wie Zukunftsmusik an.

ANMERKUNGEN

¹ Krückemeyer, a.a.O., S. 60.

² Zitiert nach Perschel, a.a.O., S. 158.

³ Vgl. Ulrich Müller: Raum, Bewegung und Zeit im Werk von Walter Gropius und Ludwig Mies van der Rohe, Berlin 2004, S 81.

4 Das Konzept zum Saal stammt von Adolphe Appia. Er schuf großartige Bühnenbilder (Espaces rhythmiques).

5 "Das Blut der Menschheit trank Vampir Stadt", in: Leberecht Migge: "Der soziale Garten". Das grüne Manifest, Berlin 1999, S. 11.

6 Vgl. John V. Maciuika: Before the BAUHAUS. Architecture, Politics and the German State, 1890-1920, Cambridge u.a. 2008, S. 218.

7 Oppenheimer hatte auch Theodor Hertzkas "Freiland" rezipiert.

8 Vgl. Dirk Schubert (Hg.): Die Gartenstadtidee zwischen reaktionärer Ideologie und pragmatischer Umsetzung. Theodor Fritschs völkische Version der Gartenstadt, Dortmund 2004, S. 45.

9 Tessenow lehnte jedwede Ornamentik ab, konnte sich jedoch für glatte Wände rankende Pflanzen als einziges Ornament vorstellen. Darin stimmt er mit Migge überein, der selbstklimmenden Wein empfahl.

Teil 1 ist in Heft 9/2014 erschienen.

Dr. Bernhard Wiens
Autor

Beuth Hochschule

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