Mehr Platz für alle – Beispiele aus Halle (Saale), Berlin und Bremen

Vision autofreie Innenstädte

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Abb. 1: Straßenfest Kleine Klausstraße Halle (Saale) am Autofreien Tag 22. September 2021. Foto: Christine Fuhrmann

Lärm, Stickoxide und breite Straßen für größtenteils private Pkw prägen das Bild in vielen unserer Städte. Die Stadt- und Verkehrsplanung zielt seit dem Siegeszug des Automobils in den 1960er Jahren auf den Pkw-Verkehr und die Unterbringung der Autos im öffentlichen Raum ab. Dabei bewegen sich die meisten Pkw auf Parkplätzen, an Straßen, in Parkhäusern und verhindern an diesen Orten, die Möglichkeit ihr Potenzial für den Menschen und die Stadt zu entfalten.

Immer wieder wird von verschiedenen Seiten eine Wende dieser Pkw orientierten Verkehrspolitik gefordert. Gleichzeitig lässt sich auch eine Ablehnung solcher Maßnahmen beobachten. Von Zusammenschlüssen von Bürger*innen oder dem Einzelhandel geht immer wieder Protest gegen die Verbannung des Autos aus.In den großen europäischen Städten, wie Rom, Madrid, Paris, Brüssel und Gent gibt es dagegen einen starken Versuch, die Innenstädte vom stehenden Blech zu befreien.

Der folgende Beitrag zeigt, wie die autofreie Innenstadt in ihren Grundzügen funktioniert und wo der Handlungsbedarf liegt? Anhand von Beispielen aus Halle (Saale), Bremen und Berlin werden Konzepte vorgestellt und dabei auch die Konflikte, welche bei autofreien Konzepten entstehen, beleuchtet.¹

Warum sind autofreie Innenstädte sinnvoll? Der Faktencheck der Ausgangslage

Eine zukunftsfähige Stadt benötigt mehr Raum für Fußgänger*innen, Radfahrende und den öffentlichen Nahverkehr. Die Reduzierung des Autoverkehrs führt dabei unter anderem zu mehr Lebensqualität, einem gesünderen Leben, mehr Sicherheit, mehr Platz für alle und Klimaschutz.

Mehr Lebensqualität

Eine lebenswerte Stadt rückt den Menschen in den Vordergrund. Eine Stadt mit weniger Autos lädt ein zum Draußensein und Spazieren gehen. Parkplätze werden zu Blumenbeeten, Menschen verweilen in Cafes an einer großen Straße, Kinder spielen auf der Straße und Nachbar*innen treffen sich im neu entstandenen Park direkt vor der Haustür.

Ein gesünderes und sichereres Leben

Autos schaden der Gesundheit. Problemstoffe wie Feinstaub, Stickstoffdioxid oder Ozon sorgen bei vielen für Erkrankungen. Dazu zählen etwa chronische Krankheiten wie Asthma, Allergien, Bronchitis oder auch Herzerkrankungen. Besonders betroffen sind dabei Kleinkinder sowie bereits vorerkrankte Personen. Laut Heinrich-Böll-Stiftung wird etwa jedes 10. Kind heute mit Asthma diagnostiziert.²

Laut Schätzungen der WHO sterben weltweit jährlich etwa 8,8 Millionen Menschen an den Folgen zu stark verschmutzter Luft. Allein in Deutschland lässt sich die Zahl der Toten, welche durch den starken Autoverkehr sterben auf circa 22 300-24 900 beziffern. Ein Großteil der Todesfälle ist dabei auf Feinstaub und Ozon zurückzuführen. Neben der Luftverschmutzung, sorgt auch ein erhöhter Lärmpegel in der Stadt für gesundheitliche Belastungen der Anwohnenden. Ein Großteil dieser Emissionen ist auf den privaten Pkw Gebrauch zurückzuführen.³

Außerdem bedingt eine verkehrslastige Stadt auch Verkehrstote, welche größtenteils Fußgänger*innen und Radfahrer*innen - also die Schwächsten im Verkehr - sind.4

Mehr Platz für alle

Der öffentliche Raum ist ein wertvolles und knappes Gut. Zum Großteil besetzen ihn bisher Fahrzeuge, die vielmehr "Stehzeuge" genannt werden sollten, da sie im Durchschnitt 23 Stunden am Tag auf dem Stellplatz parken. Weiterhin werden alle zurückgelegten Wege in der Stadt (Beispiel Berlin) zu 30 Prozent mit dem Auto bewältigt und 15 Prozent mit dem Fahrrad. Stellt man diese Zahlen mit dem zugehörigen Anteil der genutzten Verkehrsfläche gegenüber, fällt die ungleiche Raumverteilung weiter auf. Das Fahrrad benötigt nur 3 Prozent aller Verkehrsflächen, das Auto allerdings 58 Prozent.5

Um diese Diskrepanz zu verringern, müsste man einen Teil der bestehenden Verkehrsfläche umwidmen, etwa durch das Entfernen von Parkplätzen an der Straße. Dies wäre bei bis zu 95 Prozent der Wege möglich.6

Klimaschutz

In Deutschland trägt der Verkehrssektor bisher als einziger Sektor kaum etwas zu den CO2-Einsparungen bei. Stattdessen stößt das Auto fast doppelt so viel wie ein Bus an klimaschädlichen Treibhausgasen in Gramm pro Personenkilometer aus, fast dreimal so viel wie S- und U-Bahnen und 147 mal mehr als der abgasfreie Fuß- und Radverkehr. Auch der mittlerweile weit verbreitete Ansatz des Austausches von Verbrenner- mit Elektroautos macht vor dem Hinblick, dass nur rund 15 Prozent der Feinstaubemissionen von Verbrennungen der Autos emittiert werden, nur minder Sinn. Der meiste Feinstaub entsteht durch Abrieb von Bremsen und Reifen sowie durch Aufwirbelung von Straßenstaub.7

Die Innenstadt und ihre Erreichbarkeit

Der Raum der Innenstadt stimmt oft mit der historischen Altstadt überein, ist jedoch in anderen Fällen über die Altstadt hinausgewachsen. Die Innenstadt ist in der Gesamtstadt ein kleiner Teil und nimmt etwa 1 bis 2 Prozent der Fläche ein. Die Innenstadt ist Stadtzentrum und verkörpert auf kleiner, überschaubarer Fläche die Historie der Stadt, ihre städtebaulichen Besonderheiten und einen ,,Bedeutungsüberschuss" 8 in Öffentlichkeit, Handel, Kultur und Bildung, Verwaltung und Politik, der weit über die Stadtgrenzen hinausgeht.

Die Debatte um die verkehrliche Erreichbarkeit der Innenstadt wird oft reduziert auf die Stellplatzkapazität und Befahrbarkeit der Innenstadtstraßen auf der einen Seite sowie der Verkehrsberuhigung und die Häufigkeit der ÖPNV-Bedienung auf der anderen. In einem breiteren Verständnis von Erreichbarkeit geht es darum, wie viele Stadt- und Umlandbewohner*innen in einer bestimmten Zeit mit den unterschiedlichen Verkehrsmitteln in die Innenstadt kommen, und wie angenehm sie sich innerhalb der Innenstadt zu ihren Zielen bewegen können.9

Innere Erschließung

Egal ob vom Parkhaus oder von der Haltestelle aus kommend: in den Geschäften kommen die Kund*innen zu Fuß an. Und nur vereinzelt besuchen sie lediglich ein Geschäft, sondern bleiben zum Einkaufsbummel.

Fußgängerwege sind die wichtigsten Verkehrsräume der Stadt: Sie schaffen Urbanität und verbinden Verkehr und Aufenthalt, das Nützliche mit dem Schönen. Dafür müssen die Wege abwechslungsreich, interessant, bequem und sorglos sein. Je attraktiver ein Weg ist, desto kürzer wird er wahrgenommen und desto länger werden die zumutbaren Entfernungen.

Aus diesen Gründen ist es von Bedeutung die Attraktivität der Innenstadt für den/die Fußgänger*in auszubauen.

Green-City Masterplan Bremen

Die freie Hansestadt Bremen ist mit einer Einwohnerzahl von rund 570.000 Einwohnern eine Großstadt. Derzeit existieren in Bremen zwei aktive Pläne, welche für eine autofreie Stadt relevant sind. So gibt es einmal den Green-City Masterplan aus dem Jahr 2018 und den Verkehrsentwicklungsplan 2025, welcher im Jahre 2012 festgesetzt wurde. Beide Pläne basieren aufeinander und ergänzen sich gegenseitig.10

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Abb. 2: Autofreier Bremer Marktplatz. Foto: Jürgen Howaldt
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Abb. 3: Masterplan Green City, Radroute Wallring Innenstadt. Abb.: SKUMS Bremen
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Abb. 4: Bremen Humboldtstraße, seit 2014 Fahrradstraße mit breiten Gehwegen. Foto: Ulamm
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Abb. 5: Masterplan Green-City, Zeitschiene und wesentliche Prozessschritte. Abb.: SKUMS Bremen

Der Green-City-Masterplan ist ein Ergebnis aus den Folgen des Diesel-Skandals der Automobilhersteller, die durch die Manipulation von Abgaswerten bei Diesel-Pkws etliche moderne Fahrzeuge auf die Straße brachten, die dem Klima zusätzlich Schaden zufügten. Demnach gab es keine Reduzierung der Luftbelastung innerhalb einer Stadt.¹¹ Durch das Erarbeiten von mehreren Programmen bei dem Dieselgipfel am 3. August 2017 entstand der Green-City Masterplan für Bremen. Bremen ist einer der wenigen Städte, wo bereits eine geringere Luftbelastung zu messen ist. Auch der Anteil an Verkehrsteilnehmer*innen ist geringer, da viele der Einwohner*innen bereits auf die Fahrradalternative umsteigen.

Trotz der guten Umstände besteht weiterhin die Notwendigkeit die Luftqualität zu verbessern und den Klimaschutz ernst zu nehmen.

Das Ziel des Green-City Masterplan in Bremen ist es, möglichst kurzfristig zu einer Senkung der hohen Stickoxiden-Belastung beizutragen. An dieser Stelle ist anzumerken, dass der Green-City Masterplan kein umfassender Verkehrsentwicklungsplan (VEP) ist, sondern sich auf das vom Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) vorgegebene Spektrum an Maßnahmen orientiert. Der Green-City Masterplan ist eine Ergänzung für die spezifischeren Zielsetzungen des Bremer VEP 2025.

Dabei gibt es zwei zentrale Unterschiede zwischen dem VEP 2025 und dem Green-City Masterplan. So beinhaltet der VEP Bremen 2025 keinen vollständig integrierten Ansatz, sondern fokussiert sich auf die Minimierung der Luftschadstoffe.

Maßnahmen und Handlungsfelder

Insgesamt umfasst der Green-City Masterplan vier Arbeitspakete, welche sich in 17 Unterpakete gliedern, die weitere 70 Maßnahmen aufweisen. Zur Erarbeitung eines solchen umfangreichen Masterplans wurden mehrere Workshops durchgeführt, dessen Basis Akteure wie Unternehmen, Forschungseinrichtungen, Behörden, Verbände und sonstige Institutionen bildeten. Durch die vor Ort durchgeführten, ausführlichen Diskussionen konnte ein themenspezifischer Aufbau an Inhalten stattfinden, welcher die relevanten Aspekte der Expert*innen aufgriff.

Folgende Maßnahmen beinhaltet der Masterplan, die sich in vier Handlungsfelder gliedern:

  • Innovative Verkehrsplanung für Carsharing und nicht-motorisierten Verkehr
  • Digitalisierung des Verkehrssystems /Vernetzung von ÖPNV
  • Automatisiertes Fahren
  • Veränderung durch Antriebe und Treibstoffe

In Kooperation mit dem Green-City-Masterplan ist es das Ziel des VEB, eine möglichst autofreie Innenstadt in Bremen bis 2030 zu ermöglichen. Die erste Auflage dieses VEB gab es dabei schon im Jahr 2012. Wichtig ist dabei der Handlungsstrang Eins, die innovative Verkehrsplanung für Carsharing und den nicht-motorisierten Verkehr, der ein Grundstein bildet, damit eine Stadt autofrei sein kann.

Halle (Saale) auf dem Weg zur autofreien Innenstadt

Ein weiteres Beispiel für den Planungsprozess hin zu einer autofreien Innenstadt, ist die Stadt Halle (Saale). Halle liegt in Sachsen-Anhalt und umfasst knapp 240.000 Einwohner*innen. Die verkehrspolitischen Leitlinien der Stadt Halle (Saale) wurden am 28.3.2016 durch den Stadtrat beschlossenen. Die "weitestgehend autofreie Innenstadt" wurde in diesen noch nicht explizit thematisiert. Es sollte das "Grundprinzip der Stadt der kurzen Wege" beibehalten und eine "städtebauliche Nutzungsmischung" unterstützt werden.¹²

Weiterhin wurde vermerkt, dass "im Rahmen der Flächennutzungsplanung und der Bauleitplanung darauf geachtet [werde], dass verkehrserzeugende Strukturen weitgehend vermieden werden" und das Mobilitätsangebot des Umweltverbundes, insbesondere der ÖPNV, [für den innerstädtischen Verkehr] das Grundgerüst [bilde]. Prämisse ist eine gute Erreichbarkeit des gesamten Stadtgebietes mit allen relevanten Verkehrsmitteln".¹³ Außerdem soll "der Grundsatz der autoarmen Altstadt" beibehalten werden. "Hierzu soll der ÖPNV einen wachsenden Beitrag leisten".14

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Abb. 6: Marktplatz Halle (Saale). Foto: Thomas Ziegler, Stadt Halle

Am 26.9.2018 wurde dann der Stadtmobilitätsplan 2030 beschlossen und bildet seither gemeinsam mit den Verkehrspolitischen Leitlinien den Rahmen für die Gestaltung von Mobilität und Verkehr in Halle (Saale) bis zum Jahr 2030. Am 25.11.20 beschloss der Stadtrat die "Konzeption für eine weitestgehend autofreie Altstadt Halle (Saale)" mit 13 Maßnahmen.15

Allerdings rief das Konzept schon im Vorfeld des Beschlusses einigen Widerstand u. a. bei Anwohnern und in der Altstadt ansässigen Händlern und Handwerkern hervor. Die City-Gemeinschaft Halle und die IHK Halle positionierten sich gegen das vorgelegte Konzept. Vonseiten der CDU-Stadtratsfraktion wurde unter dem Titel "Innenstadt für alle"16 kurz darauf eine Kampagne gegen das Konzept gestartet. Daraufhin folgte der Antrag für einen Bürgerentscheid durch die Initiative "Innenstadt für alle" mit Sammeln von Unterschriften von November 2020 bis März 2021. Das Ergebnis: Der Stadtrat beschloss am 24.3.2021 einen Bürgerentscheid über den Beschluss durchzuführen.

Rückblickend ist diese Protestaktion nicht überraschend. Im Vergleich zum Positivbeispiel Bremen fällt auf, dass es in Halle weniger Bestandteile im Planungsprozess gab. Diese beschränken sich lediglich auf Beschlüsse der Stadt, wie die der verkehrspolitischen Leitlinien, eines Stadtmobilitätsplans und der "autofreien Altstadt Halle". Eine Teilhabe der breiten Öffentlichkeit im Rahmen von Bürgerbeteiligungen und Workshops gab es im Vorfeld nicht. Außerdem waren keine verständlichen Grafiken für Laien vorhanden, die Emotionen in bei Einwohner*innen weckten und positive Visionen entstehen ließen.

Die fehlende frühzeitige Kommunikation wirkte sich auf die Akzeptanz des stadtplanerischen Vorhabens aus, woran auch Initiativen, die die Planungen positiv befürworteten und mit Flyern und einer Podiumsdiskussion im März 2020 zur Aufklärungsarbeit beitrugen, wie FridaysforFuture Halle, HalleZero und Klimabündnis Halle, nichts mehr ändern konnten.17 Die gegründete Bürgerinitiative "Innenstadt für alle" setzte den Planungen zur "weitestgehend autofreien Altstadt" letztlich am 6.6.2021 ein Ende.18 Der einseitige Planungsprozess der Stadt Halle zeigt auf, wie wichtig es ist, Bürger*innen frühzeitig zu beteiligen, temporäre Modellprojekte einzusetzen und Visionen entstehen zu lassen.

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Abb. 7: Für eine autoarme Altstadt rief am 4. Juni 2021 das Klimabündnis Halle zur Fahrraddemo u. a. über die Hochstraße Halle (Saale) auf. Foto: Critical Mass, Halle
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Abb. 8: Flyer für den Bürgerentscheid zur autofreien Altstadt in Halle (Saale). Abb.: Klimabündnis Halle
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Abb. 9: Zeitstrahl des Planungsprozesses "weitestgehend autofreie Altstadt Halle (Saale)." Abb.: Christine Fuhrmann

Auch auf das Beispiel von Halle trifft das Zitat "Unsere Scheu vor Veränderungen ist meistens größer als unsere Vorstellungskraft, was diese bewirken können" des schwedischen Mobilitätsforscher Jonas Eliasson zu. Reinhold Sackmann, Professor für Soziologe von der Martin-Luther-Universität, beobachte ebenfalls den Bürgerentscheid in Halle und hält fest: "Das vermeintlich Negative, wie der Wegfall von Parkplätzen, dominierte die Diskussion. Die positiven Potenziale, wie eine höhere Aufenthaltsqualität für alle, wurden dagegen nur angedeutet".19 Anwohner und Ladenbesitzer dominierten mit konkreten Sorgen die Schlagzeilen, die Vision blieb allerdings vage.

Nun erarbeitet die Stadt ein umfassendes Mobilitätskonzept, bei dem die Bürger*innen stärker mitreden können. Dazu bereitet die Stadtverwaltung im Workshop-Verfahren - unter anderem mit Vertreterinnen und Vertretern des Stadtrats einen "Entwurf für ein ganzheitliches Mobilitätskonzept" - vor, der frühestens 2022 der Öffentlichkeit vorgestellt werden soll.20

Die bisher fehlende Beteiligung gehörte zuvor zu den Kritikpunkten. Der Bürgerentscheid könnte so nicht das Ende, sondern erst der Beginn einer echten Debatte sein, glaubt Sackmann: "Vielleicht wurde in Halle nur der zweite vor dem ersten Schritt gemacht".²¹

Pilotprojekt Autofreie Friedrichsstraße - Berlin

Seit August 2020 ist die Friedrichsstraße zwischen der Französischen Straße und der Leipziger Straße autofrei. Dieser Eingriff in die Berliner Mobilität ist ein Experiment im Rahmen des neuen Verkehrsgesetzes der Stadt. In Verbindung mit einem verkehrsberuhigten Bereich am Checkpoint Charlie, ist dies eine weitergehende Lösung und ein Schritt in Richtung autofreie Stadt. Durch dieses Programm soll die Attraktivität der Friedrichsstraße erhöht werden und der Einzelhandel gestärkt werden. Gleichzeitig möchte die Senatsverwaltung für Wirtschaft, Energie und Betriebe stichprobenartig den Einfluss eines autofreien Stadtbereichs auf den Fuß-, Rad-, Auto- und Lieferverkehr analysieren und die Luftqualität vor, während und nach dem Projekt messen und veröffentlichen.

Parallel zu den Mobilitätsveränderungen wird die nun autofreie Straße durch Workshops, Food-Trucks, Animationen und Kinderbücherbussen bespielt, um die Vorzüge des Experimentes hervorzuheben und öffentlich zu zeigen. Über 1 Million Euro wurden in neue Sitzmöbel, Showcases und einer Marketingkampagne investiert, um bis zum Ende der Autofreiheit Oktober 2021 möglichst viele Berliner und Touristen auf das Projekt aufmerksam zu machen.

Der Architekt Wolf R. Eisentraut kritisiert jedoch, dass die falschen Prioritäten gesetzt wurden und es zu wenig Platz für Fußgänger gäbe. Die Flanierenden blieben auf den zu schmalen Gehsteigen gefangen und erfahren keinen wirklichen Mehrwert aus der Verkehrsumstellung. Für die Schaffung eines autofreien und qualitativ hochwertigen Stadtraums benötigt es mehr als nur einzelne Straßenabschnitte.²²

Und trotz Kritik von einigen Seiten, wurde das Projekt noch einmal bis Oktober 2021 verlängert. Viele Nutzer*innen nahmen den neuen Stadtraum als einen angenehmen ruhigen Ort wahr, in welchem das Flanieren aber auch der Aufenthalt sehr gut möglich war. Nach Geschäftsschluss beschrieben Anwohner*innen sogar eine aufkommende Urlaubsatmosphäre. Es gibt schon erste positive Ergebnisse in der Zwischenauswertung: Der Kfz-Verkehr in den Parallelstraßen hat weniger stark zugenommen wie in der Friedrichsstraße zurückgegangen sei. Die Luftqualität hat sich verbessert und der Lärmpegel ist durch die Maßnahme wie erwartet stark zurückgegangen.²³

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Abb. 10: Pilotprojekt autofreie Friedrichstraße Berlin. Foto: Gerd Danigel, Creative Commons CC0 1.0 Universal Public Domain Dedication

Ausblick

Die nahezu vollständige Befreiung der Innenstädte von motorisiertem Individualverkehr ist eine der größten Herausforderungen der zukünftigen Stadt- und Mobilitätsplanung. Auf dem Weg zu einer besseren Lebens- und Raumqualität, gerade in Großstädten, muss für einen sauberen und fairen Stadtraum gesorgt werden. Der Straßen- und Stellplatzraum kann durch eine immer weiter verdichtete Stadt und durch den immer stärker drohenden Klimawandel nicht mehr allein dem Auto dienen. Neben Autoverboten finden viele Städte die Lösung in der indirekten Verdrängung des Kfz.

Durch Förderung des ÖPNV, Ausbau von Radwegen und von weiteren alternativen Mobilitätsformen wird es für immer mehr Menschen attraktiver, auf das Auto und den staulastigen Stadtverkehr zu verzichten. Die Planung und Umsetzung einer autoarmen Stadt erfordert die Zusammenarbeit von vielen Akteuren, Bürger*innnen und Nutzer*innen.

Bürgerbeteiligung, Workshops und frühzeitige Aufklärungsarbeit legen den Grundstein zu einem integrierten Planungsprozess. Durch die Produktion von Visionen und Bildern, ein ständiges Monitoring während der Umsetzung und klare Projektstrukturen entsteht eine faire und lebenswerte Stadt der Zukunft. So wie der Verkehrsraum wird auch das Auto ein gemeinschaftliches Element der Stadt sein und freiwerdende Stadträume werden zu Aufenthaltsräumen und Orten des Klimaschutzes in Städten.

Es gilt jetzt, Erlebnisräume in Städten zu schaffen: wer Städte nicht hochattraktiv macht, in dem sie zu Plätzen werden, in denen sich Menschen begegnen, der wird auch den Einzelhandel noch weiter in die Knie zwingen. Wir sind jetzt gefragt den Raum neu aufzuteilen. Nur so können in Zukunft Städte Orte der Innovation und des zukunftsfähigen Lebens sein und bleiben.


Anmerkungen

¹ Hervorgegangen aus dem von der Autorin geleiteten Forschungsseminar "Grüne Klimaarchitektur. Städte klimaresilent gestalten" an der BTU Cottbus-Senftenberg im Sommersemester 2021, Studierende Katharina Landvogt, Lennart Kempter, Julius Rymarcewicz.

² vgl. Gemeingut in BürgerInnenhand (GiB) e. V. (2020) Volksentscheid Berlin autofrei. Online: volksentscheid-berlin-autofrei.de [Zugriff am: 18.12.2021].

³ Ebda. Vergleicht man dabei einmal die Klimabilanz der verschiedenen Fahrzeuge, fällt schnell auf, dass die klassischen Verbrenner immer noch deutlich schlechter dastehen als die Elektroantriebe, besonders was die Emissionen während der Fahrt betrifft. Auffallend ist aber auch die hohe Energiebilanz, welche bei Produktion und Wartung der E-Motoren anfällt.

4 Von 40 Verkehrstoten im Jahr 2019 waren 24 Fußgänger*innen und sechs Radfahrer*innen und im Jahr 2020 waren von 50 Verkehrstoten 19 Fußgänger*innen und 17 Radfahrer*innen. Vgl. Gemeingut in BürgerInnenhand (GiB) e. V. 2020.

5 Ebda.

6 Ebda.

7 vgl. Vieweg, Christof (2017): Die Motoren sind nicht das Problem, In Zeit Online. Online: www.zeit.de/mobilitaet/2017-02/feinstaub-motoren-luftverschmutzung-reifen-abrieb-bremsen.

8 vgl. Topp, Hartmut (1998): Erreichbarkeit, Parkraum und Einzelhandel der Innenstadt, In: Raumforschung und Raumordnung, Hannover. Online: sciendo.com/article/10.1007/BF03183445 [Zugriff am: 18.12.2021].

9 Ebda.

10 Der Senator für Umwelt, Bau und Verkehr (2018): Masterplan Green City Bremen, Bremen.

Online: www.verkehr.bremen.de/info/MasterplanGreenCityBremen; FGSV (2013): Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen, Hinweise zur Verkehrsentwicklungsplanung. Köln Freie Hansestadt Bremen.

¹¹ Vgl. Orb, Olaf (2020): Aktionsbündnis Bremer Innenstadt: Vom Aktionsprogramm zum wirklichen Aufbruch; Reuther, Carolin (2020): Neues Verkehrskonzept und autoarme Stadt.

¹² Vgl. Stadt Halle (Saale) (2016): Verkehrspolitische Leitlinien der Stadt Halle (Saale), Halle.

¹³ Ebda.

14 Ebda.

15 Darunter unter anderem: Verkehrsberuhigte Bereiche in der nordwestlichen und südlichen Altstadt.Schrittweiser Wegfall der Pkw-Stellplätze am Fahrbahnrand in den Straßenzügen der historischen Altstadt. Die Kapazität von Parkmöglichkeiten um den Altstadtring herum soll durch Neubau und Erweiterungen gesteigert werden. Der Radverkehrsring um die Altstadt soll durch beidseitige Radfahrwege geschlossen werden. Der Kfz-Verkehr wird, vorerst im Rahmen eines einjährigen Versuchs, in diesem Abschnitt als Einbahnstraße geführt. Die Fußgängerachse vom Hauptbahnhof zum Markt soll bis zum Landesmuseum Moritzburg durch eine weitgehend durchgängige Fußgängerzone verlängert werden. Mit dem Wegfall öffentlicher Pkw-Stellplätze sollen vermehrt Fahrradabstellanlagen errichtet werden. Stadt Halle (Saale) (2020): Konzeption für eine weitestgehend autofreie Altstadt Halle (Saale)Halle.

16 Bernstiel, Christoph (2020): Innenstadt für alle. Online: www.innenstadt-fuer-alle.de index.html [Zugriff 18.12.2021].

17 HalleZero (2021): Podiumsdiskussion zur lebenswerten Innenstadt in Halle. Youtube. Online: www.youtube.com/watch [Zugriff 19.05.2020]; Klimabündnis Halle (2020): Weitestgehend autofreie Altstadt. Online: klimabuendnis-halle.de [Zugriff am: 18.05.2021].

18 MDR Sachsen-Anhalt (Hg.) (2021): Beschluss über eine autofreie Innenstadt in Halle ist gekippt.Online: www.mdr.de/nachrichten/sachsen-anhalt/halle/halle/buergerentscheidautofreie-innenstadt-aufgehoben100.html [Zugriff 01.12.2021].

19 vgl. Wadewitz, Felix (2021): City-Maut und autofreie Innenstädte - erst gehasst, dann geliebt, In Spiegel Mobilität. Online: www.spiegel.de/auto/klimakrise-city-maut-und-autofreie-innenstaedte-erst-gehasst-dann-geliebt-a-a18151a4-3953-48a7-ae6a-d053263879cf [Zugriff 18.12.2021].

20 Anfrage der Autorin bei der Stadtverwaltung Halle(Saale) am 5.11.21.

21 vgl. Wadewitz, Felix (2021).

22 Achinger W. (2021): Agora Verkehrswende, Warum es in den Städten um mehr geht als um Autofreiheit und wie Bund, Länder und Kommunen den Wandel voranbringen können.Online: https://www.agora-verkehrswende.de/blog/liberte-mobilite-urbanitewww.agora-verkehrswende.de/blog/liberte-mobilite-urbanite [Zugriff am: 15.12.2021].

23 Jacobs, Stefan (2021): Tagesspiegel, Online Artikel vom 22.01.2021 , "Pilotprojekt Flaniermeile in Mitte bis Oktober verlängert".
www.tagesspiegel.de/berlin/friedrichstrasse-bleibt-autofrei-pilotprojekt-flaniermeile-in-mitte-wird-bis-oktober-verlaengert/26844318.html

Dr. Christine Fuhrmann
Autorin

Professur an der Internationalen Hochschule/Fernstudium in Erfurt Landschaftsarchitektur

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