Vom Boulevard zur Straßenwüste und wieder zurück

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Im Jahr 1957 waren die Neandertaler wieder aufgetaucht, mitten in der Stadt. Sie ließen sich nur mit Mühe vertreiben, indem man die Bürgersteige schmaler machte, wo sie sich mit der Kraft der eigenen Füße fortbewegten. "Neandertaler", so titulierte der damalige Berliner Bausenator die Gruppe der Fußgänger, die sich dem Bau der autogerechten Stadt allein durch ihre Existenz in den Weg stellten. Die westdeutschen Städte, das hochsubventionierte Berlin voran, sollten mit einem Netz von Stadtautobahnen überzogen werden. Platz schaffte der Kahlschlag. Eine geplante Nord/Süd-Verbindung, nicht weit von der Trasse, die Albert Speer bereits im Sinn gehabt hatte, war durch den Mauerbau ein Vorhaben auf einem fiktionalen, von "Mauervorsprüngen" gestückelten Terrain geworden, und West-Berlin war eines Zentrums beraubt. Das wurde zum Zoo verlegt und eine neue Nord/Süd-Achse gefunden: Die Kaiserallee, 1950 umbenannt in Bundesallee, wurde kreuzungsfrei ausgebaut: Sie sollte mit einem kühn geschwungenen Fly-over abgeschlossen und der Verkehr im Untergrund Richtung Norden weitergeführt werden. Wo noch ausreichend Platz für den ruhenden Verkehr geschaffen wurde, kam die Allee schon mal auf zehn Spuren. Der Fly-over kam nicht zustande, aber sämtliche Fahrspuren und zwei langgestreckte Tunnel hat die Bundesallee noch heute.


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Straßenbau und Verkehrswesen
Die Winzerin. Modell von Friedrich Drake. Foto: Bernhard Wiens

Die Autobegeisterung der 60er-Jahre duldete keinen Widerspruch und manifestierte sich etwa im "Bierpinsel", einem pilzförmigen Drehrestaurant hoch über einem Fly-over an den Ausläufern dieses Schnellstraßensystems.1 Kann aber die Verkehrsverwaltung des 21. Jahrhunderts dieses System gleichsam unter Bestandsschutz stellen, kann der damalige ingenieurtechnische Planungselan von heute aus legitimiert werden? Die ehemaligen Schmuckplätze an der Bundesallee wurden gekappt und zum Straßenbegleitgrün herabgewürdigt und haben sich in einen unüberwindlichen Dschungel dort verwandelt, wo Querungsmöglichkeiten fehlen. Ein besseres Milieu findet der Drogenhandel nicht. Öffentliche Toiletten helfen nichts. Das lokale Gewerbe weicht allmählich Wettbüros und Spielsalons. Die Fluchtlinien der kleinen parallelen Bernhardstraße führen, eingezwängt zwischen Hotels, No-Go-Cafés und Bordellen, auf einen schwarzen Schlund zu, wo einen ein Höllengetrommel überfällt. Das werden die Achsen über den Dehnungsfugen der aufgeständerten Autobahn sein. Am Fluchtpunkt empfängt einen ein türkis überstrichenes gründerzeitliches Schnitzwerk. Es rahmt den Eingang zur altehrwürdigen S-Bahn. Oder ist das alles ein Klein-Las-Vegas der Unterwelt? Am gegenüberliegenden Ausgang schlägt einem die gepflegte Atmosphäre eines kleinen, proportioniert gerundeten Platzes entgegen, dessen Randbebauung heute noch die Bürgerlichkeit des 19. Jahrhunderts ausstrahlt. Ein angestaubtes Kino und die Ladengeschäfte versorgen einen "Lifestyle of Health and Sustainibility". Das Kino könnte in seinem eigenen Film mitspielen. Der Titel: "Übergangsritus"2

Die Autobahn aber und die ihr ähnlichen "Verkehrsbänder" begnügen sich nicht mit dem Trassenquerschnitt schienengebundener Verkehrsmittel, sondern die aktuelle Bilanz zeigt, dass sie noch eine viel breitere Schneise der Verwahrlosung und Verwüstung nach sich ziehen. Die anliegenden Wohnungen werden zum Auffangort der anderswo Verdrängten. Die heutige Bundesallee zerbricht ein ganzes Quartier. Sie war einmal dessen vitale Spiegelachse. Der Terrain-Entwickler J. A. Wilhelm von Carstenn, neudeutsch gesprochen so zwischen Developer und Grundstücksspekulant changierend, hatte 1865 eine großzügige Stadtfigur entworfen, die eine Verbindung von Charlottenburg zur Villenkolonie Friedenau und weiter nach Süden schlug. In der Symmetrie und einem im Durchmesser 1,9 Kilometer großen Halbkreis, der die spiegelbildlich gegenüberliegenden parallelen Straßenflanken abschließt, unterscheidet sich Carstenns städtebauliche Großform von Hobrechts Muster. Das Straßenbild erinnert an die menschliche Anatomie. Kranzförmig eingestreut sind kleinere Schmuckplätze als Identifikations- und Orientierungspunkte. Carstenn schwebte eine Landhaus- oder Villenbebauung nach dem Vorbild von englischen Cottages im Grünen vor, aber die Realisierung blieb stecken. Stattdessen wurde in den 1890er-Jahren mit bis zu fünfgeschossigem Wohnungsbau begonnen, gutbürgerlich, im historistischen Stil und mit Vorgärten. Diese städtebauliche und soziale Prägung hat sich bis heute erhalten.

Eine vierfache Alleebaumreihung unterstrich den repräsentativen Charakter der Kaiserallee. Sie war mehrfach aufgeweitet durch längsovale Schmuckplätze: etwa der Kaiserplatz (heute Bundesplatz) und Friedrich-Wilhelm-Platz, die im weiteren Verlauf noch mit Blumenrabatten und Springbrunnen versehen wurden. Die Plätze waren der Salon der angrenzenden Viertel und wahrten die Querbeziehungen. Aufenthaltsqualität und Durchgangsfunktion waren ausgewogen. Das hat sich ins Gegenteil verkehrt. Nicht nur die Quartiere und die Grünanlagen der Plätze sind zerschlagen und verinselt, sondern auch der Volkspark ist durch die Straßenachsen zerschnitten. Sofern nicht der Bombenhagel Vorarbeit geleistet hatte, wurden Häuser zur Straßenverbreiterung abgerissen und Vorgärten beseitigt.


Straßenbau und Verkehrswesen
Die Rampen, hier am Bundesplatz, sind meistens länger als der Tunnel selbst. Foto: Bernhard Wiens
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Südlicher Teil der Carstenn-Figur von 1865 mit den beiden Plätzen an der Bundesallee. Quelle: ALK Berlin, Vermessungsamt Berlin

"Trame verte"

2010 war die Grenze der Leidensfähigkeit der Anwohner überschritten. Die "Winzerin" sollte entführt werden. Die nach einem Modell von Friedrich Drake (1805-1882) gefertigte Statue war 1910 auf dem Bundesplatz aufgestellt worden. Da sie im Verkehr an der Tunnelrampe unterzugehen drohte, schlugen Bezirkspolitiker vor, sie in eine gepflegtere Grünanlage zu versetzen. Das Gegenargument formierte zugleich die Bürgerinitiative aus Anwohnern: Bevor die Skulptur an einen schöneren Platz versetzt wird, machen wir lieber den Bundesplatz wieder schön. Das vorhandene Restgrün bekränzt gleichsam die nördliche, 175 Meter lange offene Rampe. Damit sich schon einmal ein Licht am Anfang des Tunnels zeigt, vereinbarte die Initiative mit dem Bezirksamt die Übernahme der Grünpflege. Ein Pflanzplan wurde erstellt. Die auf den kleinen Hochbeeten wuchernden Mahonien wurden durch abwechslungsreiche Staudengewächse ersetzt. Am 6. August 2012, erinnernd an den Bau der Berliner Mauer, rissen die Bürgerbewegten mit Akklamation durch die lokale Politik die 2,20 Meter hohen Begrenzungsmauern zur Straße bis auf Sockelhöhe nieder. Die gutgemeinte Abschirmung aus der Umgestaltung Ende der 60er-Jahre hatte alles noch schlimmer, noch düsterer gemacht. Von dieser Gestalt wird nach jahrzehntelanger Vernachlässigung und gegen Null gehendem Pflegestatus kaum etwas zu retten sein. Das ist ein inzwischen nicht nur in Berlin bewährtes Spiel, um den Abrissdruck auf gebaute oder Freiraum-Anlagen zu erhöhen.

Die Initiative ist bestens vernetzt mit Wissenschaft, Politik und Verwaltung - abgesehen von der Senatsebene. Die Mitglieder verfügen, wie sich die beteiligten Wissenschaftler ausdrücken, über ein hohes kulturelles und soziales Kapital. Die Vernetzung ist sogar geboten, denn mit dem Projekt Bundesplatz nimmt die Initiative unter dem Schirm des Bezirks teil am "Wettbewerb Zukunftsstadt", der vom Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung ausgeschrieben ist. Daran sind nur ganz wenige Großstadtprojekte beteiligt, so dass sich der Modellcharakter der Erfahrungen am Bundesplatz verstärkt. Die Frage, wie der Transitraum in einen urbanen Raum zurückverwandelt werden kann, wie der unterirdische Verkehr beseitigt und der oberirdische Verkehr reduziert werden kann, ist jedoch nur strategisch zu lösen durch Einordnung in die städtebauliche und verkehrliche Gesamtsituation an der 3,7 Kilometer langen Achse und ihrer Umgebung. Einzig eine Koordination aller benachbarten Initiativen ist erfolgversprechend. Das betrifft vornehmlich den südlich gelegenen Friedrich-Wilhelm-Platz, aber auch weiter entfernte Knotenpunkte wie den Breitenbachplatz, an dem ein Autobahnzweig ausläuft. Die Carstenn-Figur bildet auch für solche Vernetzungen einen adäquaten Rahmen. Die Bundesallee bildet nicht mehr das ab, was die Stadtbürger brauchen. Das Verkehrsaufkommen auf der Allee, die als überregionale Verbindung von Anfang an ein Torso geblieben ist, geht kontinuierlich zurück. Daraus ergibt sich der Imperativ, die monofunktionale Infrastruktur zugunsten neuer Handlungsoptionen aufzubrechen. Die Achse kann als ein lineares Stadteilzentrum mit "multimodalen Knotenpunkten" neu definiert werden, das Nachbarschaften wieder zusammenbringt. Die Bundesallee würde zum Experiment auf die Aufwertung städtischer Hauptstraßen zu Boulevards. Stadt ist dann nicht mehr woanders, sondern hier, vor meiner Haustür. Sie ist nicht länger vom Durchfahren bestimmt, sondern vom Bleibenwollen. Dem Architekten Christian von Oppen schwebt eine "Trame verte" nach farnkophonem Vorbild vor, ein linearer Raum (oder eine Schneise), der durch ausdifferenzierte Grünflächen vernetzt ist.3 Ein Anfang wäre gemacht durch Reduktion der jeweils drei Richtungsspuren auf zwei. Im Norden, wo die alten Fluchten nach den Kriegszerstörungen zurückgenommen wurden und der Mittelstreifen, der den geplanten Fly-over aufnehmen sollte, sich zu einem klassischen Nicht-Ort aufgeweitet hat, wäre durch Verschmälerung sogar eine neue Randbebauung möglich.


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Kaiserplatz um 1910. Quelle: Archiv Museum Charlottenburg- Wilmersdorf
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Der Friedrich-Wilhelm-Platz im 1972 hergestellten Wohngartenstil. Quelle: Hampf-Heinrich, Vroni/Peschken, Gerd (Hg.): Stadt Grün, Berlin 1985
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Kaiserplatz, 1948. Der bekannte Photograph Fritz Eschen wohnte selbst Haus-Nr. 1. SLUB Dresden/Deutsche Fotothek, Fritz Eschen

Am Südrand des Bundesplatzes überquert die Stadtautobahn die Allee in Ost/West-Richtung und macht die Barrierewirkung komplett. Die Kreuzung wird durch ein einzigartiges Verkehrsbauwerk aus drei Etagen markiert. Die Haupteingänge dieses Umsteigebahnhofs von der U-Bahn zur S-Bahn liegen unter der Autobahn. Die Bahngleise - auch der Güterverkehr soll reaktiviert werden - verlaufen auf dem Niveau der Autobahn. Der Brutalismus dieses Bauwerks kann nach Auffassung von Wolfgang Severin, dem ersten Vorsitzenden der Initiative, nicht repariert werden, ohne alles abzureißen. Das Vorgehen muss im Spektrum zwischen minimalen Interventionen und Inszenierung des Bestehenden entsprechend behutsam angepasst werden. Der sogenannte Park-and-Ride-Parkplatz unter der Autobahn könnte in ein Car-and-bike-Sharing umgewandelt werden: Eine Skater-Bahn ("Half pipe") wäre naheliegend, und warum nicht ein Supermarkt, der kein natürliches Oberlicht benötigt. Das benachbarte Kino am Bundesplatz wäre bereit, temporär ein "Highway-Filmfestival" zu veranstalten. Das Bauwerk selbst und die Grauzonen der Unterführung könnten durch Lichtinstallationen inszeniert werden. Die Härte würde durch Ästhetisierung zugespitzt und zugleich abgefangen.

Die Utopie am Ende des Tunnels

Heute haben sich die Neandertaler erhoben und stemmen sich mit Vernunft und Verstand gegen den Dinosaurier der autogerechten Stadt. Die Zielstellung, die Bundesallee zu einem Boulevard mit gleichberechtigter Teilnahme aller Nutzer zu entwickeln und insbesondere an den Plätzen die Autoverkehrsflächen zugunsten der Grünflächen im historischen Ausmaß zurückzunehmen, bedarf des langen Atems. Für den Anfang gehen die Initiativen am Bundesplatz wie am Friedrich-Wilhelm-Platz mit symbolischen Gesten und inkrementellen Schritten vor, die sich gleichen, weil die Probleme gleich sind: Neben dem Rückbau von Fahrbahnen und dem Ausbau von Fahrradwegen sind dies Forderungen nach Tempo-30-Regelungen und die Ermöglichung von Querungen mittels Zebrastreifen oder Ampeln. Zur besseren Zugänglichkeit gehört auch die Wiederherstellung von Wege- und Blickbeziehungen quer zur Hauptachse. Da der Friedrich-Wilhelm-Platz nicht längs gespalten worden ist, sondern die Allee seitlich verläuft, ist der Platz vollkommen aus der ursprünglichen Achse gerückt. Das Restgrün ist kein Platz mehr. Die dortige Bürgerinitiative hat konkrete Pläne zur Wiederherstellung einer historischen Querachse vorgelegt. Diese müsste jedoch wegen der Bestandsbäume etwas versetzt werden. Zu überlegen wäre, ob nicht anderweitige Beispiele aufzugreifen sind, wonach vorhandene Bäume in den Weg integriert werden können.

Für solche Lösungen stehen in jedem Fall die Mauerscheiben im Weg. Ihr Abriss wirft neue Fragen auf. Kann der Platz mit der neu geschaffenen Transparenz als Insel im Autoverkehr dienen? Oder sollten die Ränder vornehmlich mit Sportangeboten für Jugendliche, deren Unruhe eher mit der des Verkehrs kompatibel ist, belegt werden? Die Initiative schlägt unter anderem einen Boulder vor, einen Felsblock zum Klettern. Der hätte dann zugleich die Funktion einer Abschirmung. Besteht die Gefahr einer Verzettelung durch von Laien angeregte fragmentarische Maßnahmen? Möglich, aber für eine fachliche Gesamtplanung scheint die Zeit noch nicht reif. Umso dringender ist es, darauf hinzuarbeiten, und das ist das Spezifikum dieser Graswurzel-initiativen. Sie waren zuerst da, und ihr Wissen bildet sich mittels Learning by doing. Partizipation heißt hier nicht Bürgerbeteiligung an vorgegebenen Plänen, sondern umgekehrt beteiligen die Bürger Wissenschaft, Verwaltung und Politik.

Das strategische Ziel, die Beseitigung der Tunnel, hat fast schon eschatologischen Charakter. Auf der Präsentation der Zwischenergebnisse der ersten Phase im Rahmen des "Wettbewerbs Zukunftsstadt" kam eine Kontroverse auf. Soll die Forderung nach Zuschüttung des Tunnels mitsamt Zeitvorgabe auf die Agenda gesetzt werden, denn was man nicht fordert, geschieht erst gar nicht? Oder wird durch diese Forderung die Auseinandersetzung ideologisiert und politisiert, weil Widerstände aus der Verkehrsverwaltung und aus der um ihre Parkplätze bangenden Autofraktion mobilisiert werden? Wäre es nicht besser, mit symbolischen Maßnahmen wie zuletzt auf einer "Raumwerkstatt", zu der alle Bürger vor Ort eingeladen waren, auch bei den gewohnheitsmäßig "motorisierten" Anwohnern neue Bilder der Stadträume hervorzurufen, damit ihnen peu à peu ein anderer Umgang mit verkehrsbelasteten innerstädtischen Flächen suggeriert wird? Die Kontroverse bewegte sich gleichsam in der Spannung zwischen "falscher Konkretion" und "konkreter Utopie" im Sinne von Ernst Bloch. Das heißt, unabhängig von der Frage, wann das Ziel erreicht werden kann, macht ein Step-by-Step-Approach Sinn.4 Die Zielvorstellungen reichen weit über die Aktivitäten einzelner Initiativen hinaus. Dazu bedarf es einer städtebaulichen Gesamtbewertung des Umgangs mit dem Verkehr in den Kernstädten. Städte wie Wien und Kopenhagen gehen diese Frage an. Der Berliner Senat ruht sich hingegen auf den obsoleten Verkehrslösungen der 60er-Jahre aus und baut an der Stadtautobahn weiter.


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Reste der Gestaltung des Bundesplatzes von 1967/68 durch Karl Schmid. Foto: Frank Guschmann
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Trümmerfrauen, August 2012. Am Jahrestag des Berliner Mauerbaus werden die Mauern zur Straße abgerissen. Foto: Sabine Marzahn
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Am Trafohäuschen werden Prominente verewigt, die „Ecke Bundesplatz“ gewohnt haben. Nicht im Bild: Kurt Tucholsky, Marlene Dietrich u. v. a. Foto: Frank Guschmann

2007 wurde der Bundesplatztunnel saniert. Den Verkehrsplanern scheint nicht bewusst gewesen zu sein, dass sie mittelfristig den Skandal produzierten. Was einmal ganzheitlich im Sinne der autogerechten Stadt konzipiert worden war, wurde nunmehr aufgeteilt in das erhaltenswerte Verkehrsbauwerk und den Rest, der für den Müll ist. Dabei war das Konzept der 60er-Jahre in sich schlüssig gewesen. Den Durchgangsstraßen entsprach freiraumplanerisch ein Wohngartenstil: kleinteilige Kompartimente und nischenartige Teilräume, die Wohnzimmer simulierten. Die Nischen konnten durch den Gehölzschnitt, aber auch durch Wandscheiben gebildet sein, die Schutz suggerierten und zugleich von der Straße abschirmten. Öffentliche Anlagen dieser Art markierten eine Teilepoche der Moderne und prägten das Stadtbild rund um das Auto. An der Bundesallee war neben den beiden Plätzen auch die Gerhart-Hauptmann-Anlage in diesem Stil gehalten. Besonders markant waren der Lützowplatz, der Kleine Tiergarten und der Olivaer Platz.5 Diesen Stil zu erhalten, tut sich heute auch der Denkmalschutz schwer, weil mit Sichtachsen sowie größeren und transparenten Räumen bei deutlicher Wegführung auf die zunehmende soziale Ausdifferenzierung und folglich auch auf Angsträume reagiert werden muss.

Radialen

Was der spanische Landschaftsarchitekt Joan Roig als allgemeingültige Aussage versteht, trifft paradigmatisch auf die 60er-Jahre zu und drückt doch eine Misere der Zunft bis heute aus: "Wenn der Ingenieur die Autobahn gebaut hat, ruft er uns an und sagt: Macht irgendetwas. - Sind die Landschaftsarchitekten die ewigen Saubermänner, die den Dreck anderer Leute wegräumen sollen?"6 Es wäre eine einseitige Auslegung, den nach dem Krieg von Hans Scharoun aktualisierten Begriff der "Stadtlandschaft" für die Fehlentwicklung verantwortlich zu machen. De facto bedeutet er die Auflösung der Einheit von Straße und Randbebauung und besiegelt das Ende der klassischen Fußgängerstadt. Der Begriff war jedoch bereits von Scharoun in dem Sinn beansprucht worden, wie ihn Walter Rossow im Hansaviertel anwendete: Landschaft wird zum Gesetz der Stadtentwicklung. Landschaftszüge durchziehen gliedernd die Stadt. Dass breite Straßenzüge daraus wurden, mag Planern wie Le Corbusier angelastet werden, aber darüber dürfen nicht die wirtschaftlichen Kräfte und Lobbys vergessen werden, welche sich das Programm der "aufgelockerten und gegliederten" Stadt zunutze machten. Die Bundesallee spiegelt jene Ambivalenz der Moderne wieder. Der Bebauungsplan von 1957 für den bombengeschädigten nördlichen Bereich sah eine aufgelockerte Bebauung aus Wohn- und Geschäftshäusern vor, aber durch Vergrößerung der Baukörper wurden die Zwischenräume beseitigt. Bruchkanten zwischen willkürlich vor- und zurückspringenden Versatzstücken unterschiedlicher Planungsperioden zertrümmerten die Fluchtlinien. Der B-Plan verkam zum profanen Instrument der Straßenerweiterung.7

Die Bundesallee ist gekippt, und die aktiven Anwohner beklagen den Verlust der Mitte. Da jede Neuausrichtung die Bedürfnisse heutiger Nutzer einzubeziehen hat, fragt sich, welche historische Figur in den Teilräumen der gewachsenen Stadt die nachhaltigste ist, um eine Symbiose mit den neuen Verwendungen einzugehen. Das ist eindeutig und einleuchtend die Planung von Carstenn. Seine Kolonisierung war Urbanisierung, die ihrerseits dem derzeitigen Trend zur Reurbanisierung entgegenkommt. Die Aufwertung der Plätze und ihrer Zentralachse bekommt Substanz durch die Forderung nach einer Balance der Verkehrsströme, nach mehr Flächengerechtigkeit. Zur Reurbanisierung gehört die Durchmischung von Wohnen, Gewerbe und Freizeitangeboten, wobei sich letztere auch auf den öffentlichen Raum erstrecken. Kurze Wege schaffen neue Nachbarschaften. Dass sich diese Optionen mit Mobilität vertragen, macht den Charakter der "Radialen" aus, wie sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts angelegt wurden, als Avenidas, Boulevards oder Magistralen. Sie waren die Kraftlinien der polyzentralen Metropolregion. Sie hatten sowohl eine überregionale Transit- als auch eine nahräumliche Mittelpunktfunktion. An ihnen bündelten sich Geschäfte, Kultureinrichtungen und kommunale Dienstleistungen. Sie waren zugleich eine gute Adresse zum Wohnen. Harald Bodenschatz und das Center for Metropolitan Studies an der TU Berlin, welche die Arbeit der Bürgerinitiative wissenschaftlich begleiten, machen auf das Paradox aufmerksam, dass die autogerechte Stadtplanung die Verwahrlosung der Radialen eingeleitet hat. Aber die Hauptstraßen des 19. Jahrhunderts sind der Schlüssel zur Urbanität von morgen.

Die am Wettbewerb Zukunftsstadt beteiligten Partner haben ein dichtes Programm absolviert, das Hoffnung darauf macht, in die nächsten Phasen bei steigender finanzieller Förderung einzusteigen. Mehrere Workshops wurden veranstaltet und eine "Charrette", für die Studenten von der Weimarer Bauhaus-Universität anreisten. Dieses Ad-hoc-Verfahren ist am ehesten geeignet, die verbal geäußerten Wünsche der Anwohner spontan in Bilder, Grafiken und Modelle umzusetzen, die offen für Alternativen sind.8 Die "Raumwerkstatt" im letzten November brachte 5000 Besucher auf die Beine. Ein "Parcours" machte auf neuralgische Punkte aufmerksam, und Teilsperrungen für Pkw vermittelten ein neues, wenn nicht zukünftiges Raumgefühl.9 Umso enttäuschter sind die Mitglieder der Initiative, dass die operative Ebene der Senats- beziehungsweise Verkehrsverwaltung sich bedeckt hält. Man fühlt sich wie ein x-beliebiger Straßenfest-Veranstalter behandelt.

Unter Städten wird es allmählich populär, Wertsteigerungen von privaten Grundstücken, die durch infrastrukturelle Vorleistungen der Kommune generiert sind, abzuschöpfen: In München nennt sich das "sozialgerechte Bodennutzung". Läge es da nicht auf der Hand, dass die Kommunen einen Ausgleich für die kontinuierlichen Wertminderungen von Immobilien an Hauptverkehrsstraßen zahlen - oder besser gleich diese Mittel dem Zweck einer Reurbanisierung jener Straßen zuführen? Der innerstädtische Autoverkehr muss die Flächen wieder abgeben, die er in den 60er- und 70er-Jahren im Handstreich erobert hat. Damals wurden keine Kosten gescheut, und heute hören die Bürger vom Senat, es sei zu teuer, die Fehler rückgängig zu machen. Die Initiativen halten sich lieber an Jan Gehl, den Radfahrer- und Fußgänger-Papst: Man mache erst einmal einen Schritt und schaue, was dann passiert. Das klappte sogar in New York. Nichts zu tun, geht nicht mehr. Wie sagte Walter Benjamin: Dass es "so weitergeht", ist die Katastrophe.

Anmerkungen

Ich danke meinen Gesprächspartnern Wolf Lützen, Sabine Pentrop, Cordelia Polinna und Wolfgang Severin.

1 Insgesamt waren 52 Straßentunnel in der Stadt geplant.
2 Einen realen Film gibt es schon: "Berlin Ecke Bundesplatz" von Detlef Gumm und Hans-Georg Ullrich.
3 Siehe Christian von Oppen: Bundesallee, in: Harald Bodenschatz/Aljoscha Hofmann/Cordelia Polinna (Hrsg.): Radialer Städtebau. Abschied von der autogerechten Stadtregion, Berlin 2013, S. 117.
4 Für die Tunnelrampen wäre, solange sie in Betrieb sind, eine gläserne Überdachung denkbar.
5 Vgl. Nadia Rückert u. a.: Das Wohnzimmer im Freien - Öffentliche Wohngärten der 1950/60er-Jahre in Berlin und Frankfurt am Main, in: Die Gartenkunst, 21. Jg., Heft 2/2009, S. 281-310.
6 Siehe Bernhard Wiens: Wird die Landschaft zum Gesetz der Stadtentwicklung? Die Berliner Akademie der Künste als Forum für interdisziplinäre Zukunftsfragen, in: Stadt + Grün, August 2009, 57. Jahrgang, S. 11. (Der zweite Satz ist eine Paraphrase.)
7 Vgl. Thomas Nagel: Die Bundesallee. Fragmente einer Stadtlandschaft - Zur Entwicklung der Straße nach 1945, in: Rolf Lieberknecht u. a.: Von der Wilhelmsaue zur Carstenn-Figur. 120 Jahre Stadtentwicklung in Wilmersdorf, Berlin 1987, S. 99.
8 Ein starkes Bild war die Offenhaltung des Zentrums des Bundesplatzes für Wochenmärkte und dergleichen. Darüber thront die Winzerin.
9 Ein der Initiative am Friedrich-Wilhelm-Platz nahestehendes Architektenbüro schlägt vor, in einer Animation den Platz leer zu räumen, da Laien von der vorhandenen Ausstattung nur schwer abstrahieren können.


Dr. Bernhard Wiens
Autor

Beuth Hochschule

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