Wortgewaltig für oder gegen den Zeitgeist

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Umweltschutz
Neues Hansaviertel. Foto: Werner Kellner
Umweltschutz
Wolf Jobst Siedler beklagt den Verlust von Stuck und Putte in Berlin: Altes Hansaviertel Berlin, abgerissen aus: Siedler u.a., 1976, S. 92

"Über den Bäumen - oder mitten durch ihr Laubwerk - die Hochstraßen, zwei oder dreistufige Bauwerke; dort sind die Cafés, die Geschäfte, die Promenaden. Hier die riesigen Wohnblocks mit Gemeinschaftsservice, ohne Höfe, mit Parkanlagen. Und hier der Wolkenkratzer - ganz ein Kristall, ragt er blitzend in die Luft. Eine Symphonie aus Laub, Zweigen, Rasenplätzen und Kristallschimmer hinter hohen Stämmen" (Le Corbusier 1929/1964). Schon die erste Moderne prägt ein wortgewandter Architekt: Le Corbusier überzeugt mit bildreichen Worten. Diese Moderne löste in den 60er-Jahren pointierte, klare und zum Teil unversöhnliche Debatten aus. Wolf Jobst Siedler bezeichnete die Nachkriegszeit als die nachgeholten 20er-Jahre (Rudolph 2013).

Die umweltzerstörerischen Auswirkungen des Wirtschaftswachstums riefen zunächst die Umweltschützer und Landschaftsarchitekten auf den Plan. 1959 fand in Marl die Ausstellung "Die große Landzerstörung" statt, Walter Rossow forderte mit dem Deutschen Werkbund, dass "die Landschaft das Gesetz werden müsse" (Rossow 1960/1991). In der grünen Charta von der Mainau wurden 1961 weitere umweltpolitische Forderungen aufgestellt (Deutscher Rat für Landespflege (1961/1997). Mit dem Buch "Die gemordete Stadt, Abgesang auf Putte, Straße, Platz und Baum (1964)" leitete Wolf Jobst Siedler dann einen Wechsel in der Bewertung des neuen Städtebaus ein. In den Nachrufen zu seinem Tod im November 2013 wurde er als rückwärtsgewandter Stadtkritiker bezeichnet, der seiner Zeit allerdings weit voraus war (Rudolph 2013).

Erst nach Siedler veröffentlichte Alexander Mitscherlich 1965 seine "Anstiftung zum Unfrieden - Die Unwirtlichkeit unserer Städte". Auch er legt als Seiteneinsteiger mit einem großbürgerlichen Hintergrund wortgewaltig die Finger in die Wunde der Fehlentwicklungen des funktionalen Städtebaus der 60er-Jahre. Mitscherlich widersteht der Versuchung, mit seiner Familie in ein Einfamilienhaus in einer Frankfurter Vorstadt zu ziehen und wohnt in einem 19-stöckigen Hochhaus in Frankfurt-Höchst. Ihm geht es nicht so sehr um Stilfragen, vielmehr pocht der Psychoanalytiker auf die menschlichen und gesellschaftlichen Prägungen, die Haus und Stadt den Menschen aufzwingen. Er fordert auf, nach Neuem zu suchen: "Wir müssen ja in Wohlstandssituationen revolutionieren" (Englert 2008). Das war etwas völlig Neues.

Sein Buch hatte großen Einfluss auf die bundesrepublikanische Gesellschaft. Bürger-initiativen beriefen sich auf Mitscherlich, Baudezernenten pflichteten ihm im Hinblick auf den Umgang mit Grund und Boden bei und erste Partizipationsanstrengungen wurden unternommen. "Sind unsere öffentlichen Institutionen wirklich nicht geeignet, sich in einer näheren Berührung mit der Öffentlichkeit zu treffen? Es wäre also denkbar, dass ... der Öffentlichkeit die Entwürfe zugänglich werden. Und zwar nicht, dass man sie einfach irgendwo ausstellt, sondern dass man sie oktroyiert, denn die Menschen sind gewohnt, gefragt zu werden. In den Zeitungen oder im regionalen Fernsehen müsste man darüber diskutieren. Dann würde man nämlich glauben, dass eine Menge von Meinungsäußerungen zu Tage kommt, es würde in der Tat der Bürger an der Gestaltung seiner Stadt mit interessiert werden" (Englert 2008).

Literatur

Le Corbusier (1929/1964): Ein Mensch = eine Zelle. Zellen = die Stadt, in: Feststellung, Bauwelt Fundamente, Ullstein Verlag, Berlin, S. 135-155

Deutsche Gartenbaugesellschaft (1997/1961): Die Grüne Charta von der Mainau, Schriftenreihe des Deutschen Rates für Landespflege, Heft Nr. 68, Meckenheim

Rudolph, Hermann (2013): Leben und Denken in Ambivalenzen - Über den verstorbenen Verleger Siedler, Deutschlandradio Kultur, Thema, Sendung vom 28.11.2013

Englert, Klaus (2008): Die Unwirtlichkeit unserer Städte, Deutschlandfunk - Büchermarkt, Skript zur Sendung vom 17.9.2008

Mitscherlich, Alexander (1965): Die Unwirtlichkeit unserer Städte, Anstiftung zum Unfrieden, edition Suhrkamp Verlag, Frankfurt

Siedler, Wolf Jobst; Niggemeyer, Elisabeth; Angreß, Gina (1964): Die gemordete Stadt, Abgesang auf Putte und Straße, Platz und Baum, Herbig Verlagsbuchhandlung, Berlin

Rossow, Walter (1991/1960): Die Landschaft muss das Gesetz werden, Deutsche Verlags Anstalt, Stuttgart

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Landespflegerin, Professorin am Institut für Freiraumentwicklung an der Leibniz Universität Hannover

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