Der Große Tiergarten in Berlin: vor der Stadt, dazwischen und mittendrin

"Übereinstimmend mit dem geselligen Charakter großer Städte ..."¹

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Berlin Parks und Gärten
Die Allee vom Stadtschloss Richtung Lietzow (Charlottenburg) gab den Anstoß zu einem Park. Quelle: Büro Neumann/Gusenburger

Grüne Stube, Bühne der Stadtgesellschaft oder Stadtwald? Schon fangen die Missverständnisse an. Auf dem Großen Tiergarten, 220 Hektar Grün im Zentrum Berlins, lasten seit je wechselnde Ansprüche. Er hat sie alle integriert, absorbiert, gar ausgeschieden wie die meisten Statuen der Kaiserzeit, und in Schichten abgelegt. In Mauerzeiten war er abgetrennt von der Mitte. Mit seiner großen Achse hatte er einmal die Verbindung zum Stadtschloss hergestellt. Als grünes Symbol der Politik war er in sich selbst geteilt - durch die parallel zur Mauer angelegte Entlastungsstraße. Die wurde durch Mauerfall und einen neuen Tunnelbau überflüssig. Der östliche Teil des Tiergartens, drei Jahrzehnte lang brach gefallen, rückte plötzlich ins Zentrum der Stadt und sollte in repräsentativer Geste Besucher, hier überwiegend Touristen, am Brandenburger Tor, am Potsdamer Platz und am Kulturforum empfangen.

Repräsentativ? Willy Alverdes hatte (mit Fritz Witte und anderen) beim Wiederaufbau ab 1949 "mehr Lenné" in den Großen Tiergarten gebracht als Lenné selbst es vermochte. Auf die meisten Alleen wurde verzichtet. Ein naturnaher landschaftlicher Erholungspark passte in die Aufbaujahre, nachdem sich Alverdes mit dem wüsten Tiergarten, wieder symbolisch, der "erschütterndste Eindruck des zerstörten Berlin" geboten hatte. Aber schon 1987, zur 750-Jahr-Feier Berlins, gab es Ansätze zur Wiederherstellung barocker Alleen und Plätze. Der Druck erhöhte sich nach der Wiedervereinigung, vor allem auf die Naturschützer, welche an der Ruderalvegetation und dem Langgras des östlichen Teils Gefallen gefunden hatten. Das damals zugrunde liegende Parkpflegewerk, das noch die Situation vor der Wende verarbeitet hatte, empfahl einen landschaftlichen Grundton. Wenn aber bei städtischen Grünanlagen latente Bezüge zwischen dem vegetativen und dem sozialen Milieu bestehen, fragt sich, ob die nunmehr favorisierte barocke Rekonstruktion nicht dem heimlichen Verlangen nach feudaler Pracht und axialer Ordnung entspricht. In politischer Übersetzung: dem Wunsch nach Restauration in Zeiten der Post-Democracy. Das wieder aufzubauende Stadtschloss spricht Bände.

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Freigestellte alte Bäume heben die Qualität des Aufenthalts. Foto: Lucas Rauch
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Seit 1993 ist der Lennésche Baumsaal rekonstruiert. Foto: Lucas Rauch
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Spürbar: die Nähe zur Rousseau-insel. Foto: Lucas Rauch

Freiheit für Denkmalpfleger

Diesen Verdacht weist Klaus von Krosigk, unter dessen Ägide als Gartendenkmalpfleger der Tiergarten 1991 unter Schutz gestellt wurde, weit von sich. "Wir haben nicht übermäßig viel Barock, (sondern) wir zeigen die Überformung." Die landschaftsarchitektonische Gestalt des Tiergartens hat sich in 300 Jahren entwickelt und lässt sich auf bestimmte Stile so wenig festlegen wie auf Knobelsdorff, Lenné oder Alverdes. Die Stile haben sich überlagert und sind gleichzeitig zu besichtigen. Rekonstruiert sind barocke Perlen wie der Floraplatz und das Venusbecken. Nimmt man den leicht geneigten, unmittelbar angrenzenden Steppengarten hinzu, eine Kreation von Alverdes für eine Trockenheit liebende Vegetation, handelt es sich um eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. In dieser Form haben die Teile nie zusammen existiert. Aus dem Venusbassin war nach Lenné ein Goldfischteich gemacht worden, welcher sich allmählich zum sumpfigen Biotopen wandelte. Vorbild der Rekonstruktion war die Variante Lennés, der symmetrisch Ausbuchtungen hinzugefügt hatte. Dadurch wurde der barocke Charakter gegenüber Knobelsdorffs orthogonaler Form eher verstärkt. Solche Paradoxe erinnern an den gründerzeitlichen Witz, als ein Baumeister zum Kaiser gesagt haben soll: "Euer Majestät, der Kasten steht, welchen Stil wollen Sie jetzt dran haben?" Beim Tiergarten liegt jedoch der Grund tiefer: Nie prägte er gartenkünstlerische Stile rein aus, sondern er amalgamierte sie zu einer eigenen Stilart. Er bietet der Gartendenkmalpflege Ermessensspielräume ohne Reue. Sondergärten fügen sich - mit Ausnahme des esoterischen Steingartens (2011) eines selbsternannten Künstlers - wie von selbst in den Tiergarten.

Doch der kaiserlich gesponserte Historismus war sogar für den Tiergarten zu viel. Neubarocker Naturalismus verband sich mit spätem Klassizismus zur versteinerten Verherrlichung der Koryphäen des preußischen Militarismus. Eine Denkmalflut wurde "ins Grün hineingeklotzt". Der Volksmund spottete: Wohin man spuckt, man trifft immer auf Wilhelm. Die Sieges-allee versank im Zweiten Weltkrieg, und die Figuren verschwanden unter der Erde, im Lapidarium und zuletzt in der Zitadelle Spandau. Die Denkmalpflege war klug genug, diese Allee im Orkus der Geschichte zu belassen. Speer hatte bereits begonnen, sie zur Nord/Süd-Achse auszubauen. -

Folkwin Wendland: "In manchen Schilderungen des Tiergartens wird die Meinung vertreten, König Friedrich I. habe durch die Anlage der beiden Sternplätze und die geradlinige Durchlegung der Straße nach Charlottenburg das bisherige Tiergehege in einen barocken Park umgewandelt. Davon kann keine Rede sein, denn eine Waldschneise und zwei ohne Zusammenhang in einen dichten Wald gelegte Plätze mit Alleenansätzen ergeben noch keine einheitliche Gartenschöpfung dieses Zeitalters." Ebenso wenig hat Lenné den Tiergarten "in einen klassischen Landschaftspark verändern können. Zwar hat er ein wohldurchdachtes Wegenetz zur Erschließung aller Teile geschaffen und den Park durch ein weitgespanntes Gewässersystem und den Neuen See zugleich belebt und entsumpft, aber es fehlen die weiten Wiesenauen, die das Herzstück eines Landschaftsparks ausmachen. Er hat überall dort, wo es möglich war, Wiesen angelegt. Jedoch konnten diese immer nur eine begrenzte Ausdehnung annehmen, da allenthalben größere Gehölzbestände oder Alleen, die nicht beseitigt werden durften, einer Erweiterung entgegenstanden und in ihrer Struktur nicht verändert werden konnten."2 Entstanden war ein Hainpark. Lenné, dessen Intention ein für verschiedene soziale Schichten ausdifferenzierter Erholungspark mit Schmuckplätzen war, übernahm einerseits von Knobelsdorff Alleen, um ein "angenehmeres Fahren" zu zentralen Orten zu ermöglichen, empfahl sich jedoch andererseits mit Wegen, die sich zwischen schattenreichen Pflanzungen an Wiesen- und Wasserpartien hinschlängelten. Wollte er mit der Kombination von barocken und landschaftlichen Gestaltungen ein "Geschichtsbild in bildungsbürgerlicher Absicht komponieren"?3

Naturschutzverbände bemängeln, der Tiergarten werde durch die Wiederanlage von Alleen zum Schneisengarten. Flächen, deren Größe erst die Artenvielfalt verbürgt, werden zerschnitten. V. Krosigk hofft seinerseits, dass die abgezirkelten Wege den Spaziergänger auf dem Pfad der Tugend halten. Er verweist auf die aufwendige Nachbildung eines metallenen Schmuckgitters um das Denkmal von Königin Luise, das sogar vor Graffiti bewahrt habe. An einem Sonntag, als die Straße des 17. Juni für einen Rummel abgesperrt war, war der Augenschein ein anderer. Die Besucher strömten von dort zum Venusbassin und scherten sich nicht um das niedrige "Tiergartengitter" um die empfindliche Uferböschung.

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Hier geht es, wenn auch über Verkehrshürden, zum Potsdamer Platz. Foto: Lucas Rauch
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An der Tiergartenpromenade blieben die Bäume stehen. Bleibt abzuwarten, wie sie auf die neue Wegedecke reagieren. Foto: Lucas Rauch
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Entwicklungskonzept (1988) des Parkpflegewerks von Gustav und Rose Wörner. Quelle: Büro Wörner/gruppeF

Besucherlenkung scheint nur noch durch positive Anreize, nicht mehr durch Exklusion möglich zu sein. Ingo Kowarik, Naturschutzbeauftragter des Landes Berlin und an der TU Ökologie lehrend, hat keine Einwände gegen behutsam herausgearbeitete barocke Strukturen, sofern sie sich mit dem gestiegenen Nutzungsdruck vertragen. Da dies nicht immer der Fall ist, verfolgt er einen anderen Ansatz. Natur ist kein Unberührbarkeits-Dogma. Der Park ist zur Stadt zu öffnen. Naturschutz und intensive anthropogene Nutzung sind kein Gegensatz. Im Gegenteil: Wenn sie zur Identität gebracht werden, eröffnet sich ein Freiheitsraum. Kowarik verweist auf Studien, wonach der Kontakt mit biologischer Vielfalt das Wohlbefinden proportional steigert. An einem einzigen Tag wurden im Tiergarten 1410 Arten gezählt. Die Biodiversität in städtischen Parks ist ein Schatz, den die Landwirtschaft verspielt hat. Im Tiergarten kommt die Vielfalt nach Funktionen differenzierter Räume hinzu. Diese Räume haben Aufforderungscharakter für wechselnde Gruppen. Keine Nutzung soll auf Kosten der anderen gehen. Die ästhetisch-erzieherische Wirkung ist eingetreten, wenn die innere Natur des Menschen ihren Frieden mit der äußeren Natur macht.

Naturschutz ist (wieder?) Kulturschutz

Es ist eines der großen Themen auf den diesjährigen "Tiergartendialogen": das Verhältnis von Naturschutz, Kulturschutz und Nutzungsfunktionen. Die Verve, mit welcher die beiden Protagonisten, Kowarik und v. Krosigk, den Standpunkt der jeweils anderen Disziplin vortragen, um althergebrachte Konfrontationen aufzulösen, ist eindrucksvoll. Für Kowarik ist die gemeinsame Herkunft beider Fächer aus dem Heimatschutz der Grund, warum der Naturschutz sich auf einen naturwissenschaftlichen Positivismus zurückgezogen hat. Kulturelle und historische Aspekte werden wegen politischer Vorbelastung verdrängt. Aber ein Naturschutz, der den Denkmalschutz im Fokus hat, ist nicht auf bloßen Biotopschutz aus, sondern auf die Entwicklung von Naturelementen, die gleichermaßen durch kulturelle Prozesse bestimmt sind. Das sind einerseits Ökosystemdienstleistungen, die zum emotionalen Befinden der Menschen beitragen, andererseits ist es die Herausarbeitung der Eigenart und Schönheit einer Landschaft. Beides kommt der Erholung zugute. Mit Alois Riegl (1858-1905) schlägt Kowarik an dieser Stelle einen Bogen zur Denkmalpflege. "Riegl hat zwei Gruppen von Denkmalwerten unterschieden, die noch heute im Denkmalschutz Bedeutung haben: ,Gegenwartswerte', die den 'Kunstwert' und den 'Gebrauchswert' einschließen und auf die künstlerische Bedeutung und den gegenwärtigen praktischen Nutzen eines Denkmals bezogen sind. Demgegenüber erschließen die ,Erinnerungswerte' einen empfindsamen Zugang zu einem Denkmal, indem sie dessen Geschichtlichkeit erlebbar machen. Die zentrale Kategorie ist hierbei der ,Alterswert', der durch Gebrauchsspuren, die Alterung von Materialien oder durch pflanzlichen Bewuchs eines Objekts, die grüne Patina, entsteht."4

Pflanzen tragen nicht nur zur Patina bei, sie entwickeln sie an sich selbst. Das ist der "Auftritt der Natur" in der konservatorischen Disziplin. Die "weisen" Dokumentationsbäume, die noch aus der Ursprungszeit einer historischen Anlage stammen können, haben einen das Gegenwartsbewusstsein berührenden Gebrauchs- und Schönheitswert, haben aber auch einen Erinnerungswert, der durch ihre Alterszeichnung aufgespeichert wird. Die Dualität jener Werte ist im Großen Tiergarten so extrem wie nirgends. Wenn dieser Park 1945 auch aussah wie Dantes Inferno, haben doch etwa 700 Bäume, vor allem Eichen, ferner Buchen, widerstanden. Weder brannten sie vollständig ab noch wurden sie, wie jeder zweite Straßenbaum, nach Kriegsende zu Brennholz gemacht. Viele dieser Altbäume leiteten Seitwärtsbewegungen ein und setzten eine zweite Krone auf. Der Spaziergänger muss heute gar nicht genau hinschauen, um in der Nähe dieser Überlebenskünstler eine pathische Intensivierung zu erfahren. Altbäume in historischen Anlagen, die Totholz ausgebildet haben, sollten nicht gleich der Verkehrssicherungspflicht zum Opfer fallen. Sie beherbergen "Urwaldzeiger", seien es Höhlenbrüter oder Insekten wie den Heldbock, der nur an ihnen vorkommen und kaum den Standort wechseln kann, weil er in einer Symbiose mit bestimmten Pilzen lebt. Der Biotopwert alter Eichen korrespondiert sowohl mit ihrem Kunstwert als auch mit ihrem Alterswert. Ein aus dem "Geist der Malerei" geschaffener adeliger Park ist naturschutzfachlich betrachtet eine Arche Noah auch für artenreiches Grünland mit Langgräsern. Im Schlosspark Charlottenburg finden sich vereinzelt noch "Stinsenplanten", die allen garten- und bauhistorischen Überformungen standhielten. Sie sind "Zeiger alter Gartenkultur". Dieselben Wiesen können für Denkmalpfleger symbolisch aufgeladene Bestandteile arkadischer Gefilde sein. Kowarik bezieht sich an dieser Stelle auf C.C.L. Hirschfeld, der sich von den arkadischen Bildmustern die beruhigende Empfindung eines ergötzlichen Landlebens versprach.

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Entwurf von Neumann/Gusenburger für den östlichen Tiergarten, 2003. Nördlich der Straße des 17. Juni das Sowjetische Ehrenmal von 1945. Quelle: Büro Neumann/Gusenburger
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Vom umzäunten Zoologischen Garten bis zu einzelnen Schranken: Barrieren sind zu reduzieren. Foto: gruppeF
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Plurale Nutzungen. 1848 wurde Prostitution vor die Stadt verbannt. Reste davon (männliches Cruising) haben sich bis heute erhalten. Quelle: Arge Topos/gruppeF
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Wie komme ich hin, wie komme ich hindurch? Eine großmaßstäbliche Aufgabe. Quelle: Arge Topos/gruppeF

Kowarik gewinnt daraus für sein Fach wie für die Denkmalpflege eine ganz praktische Empfehlung. Bei der Neuanlage von Wiesen sollte nicht auf handelsübliche Saaten, sondern auf gebietseigenes Mahdgut zurückgegriffen werden. Das geschah von ungefähr in den kärgsten Nachkriegszeiten, als die vormaligen Trümmerfrauen Heublumensaaten der Pfaueninsel im Tiergarten ausbrachten. Aber es fragt sich, ob Kowarik die Metaphern von (Baum-)Ruinen und Urwald nicht zur Legitimation eines zweifellos guten Zweckes überstrapaziert. Hirschfeld unterstreicht das Abweichende in den Baumfiguren des "romantischen Hains". Dehnt Kowarik nun einen romantisch-empfindsamen Unterzug auf die gesamte Geschichte aus, um sich quasi subversiv mit barockem Ordnungsstreben auseinanderzusetzen? Der La-Vigne-Plan des Tiergartens von 1685 zeige ein sich in "Urwaldresten" erstreckendes Jagdrevier. Verkürzt gesprochen mussten dann in dieses unwegsame Gelände nur noch Schneisen gehauen werden, um barocke Strukturen vorzubereiten. Dieses Barock ist, anders als in Versailles, aus dem vorhandenen Waldbeständen heraus modelliert worden. Die Bäume fanden Verwendung. An diesem Punkt bringt Kowarik seine Theorie von der Stufenfolge der natürlichen und (?) kulturellen Entwicklung, die offensichtlich an Lehren der Renaissance anknüpft, ins Spiel. Die "Natur der ersten Art", die ursprüngliche Naturlandschaft aus der Zeit vor den Rodungen, sei beim Tiergarten in der Natur der dritten Art, der künstlich angelegten symbolischen Natur der Gärten und Parks, aufgegangen. Übersprungen wurde die Natur der zweiten Art, die vorindustrielle Kultivierung durch Landwirtschaft.

Ist nun der Begriff des Urwalds so stark aufgeladen, dass er bis in die Neuzeit hinüber gerettet werden kann? Betont nicht Kowarik auf der anderen Seite, dass Naturschutz weniger mit Ursprünglichkeit zu tun hat, vielmehr eine Kulturleistung ist? Mit einer chronologisch "ersten Natur" sollte genau so vorsichtig umgegangen werden wie mit dem ersten Menschen oder der ersten Philosophie. Es verliert sich schnell im Mythologischen, eben: Arkadien. Und auch im Tiergarten ist die Bedeutung des Urwaldes "tiefer zu hängen". Das "Tiergartenvorwerk" war durchaus landwirtschaftlich bestellt. Schon für das 15. Jahrhundert sind Wiesen vermerkt, später auch Äcker, die nach und nach in die Hand des Kurfürsten übergingen, um ein zusammenhängendes Tiergehege daraus zu machen.5 Der Handel wurde wohl erleichtert durch den Ärger der (Acker-)Bürger über Flurschäden durch Pferde und Wild.

Ein Urwald lässt sich nicht geradlinig zurückverfolgen. Die Theorie gewinnt jedoch an Wert in der Auslegung, dass die Ablagerung vegetabiler und gartenkünstlerischer Schichten die jeweils vorhergehende Periode integrierte. Heute ist es zur erinnerungsträchtigen Erfahrung der Ungleichzeitigkeit, der Brüche, geworden. Auch sind Ruinen nicht so weit vom Barock entfernt. Der Manierismus liebte Ruinöses, das er in einem Übermaß an Künstlichkeit neu errichtete. Bauen heißt verfallen. In dieses Bild passen auch Baumruinen. Weit ausladend, wurden sie im Barock als Rahmenbäume stehengelassen. Die Sicht ist wie durch eine Vedute gerahmt. Die gemalten Veduten jedoch vermitteln ein Bild der Einheitlichkeit, das real nicht gegeben war. In barockenBaumalleen sind unterschiedliche Alters-klassen vertreten, da nicht bei jeder Neupflanzung Tabula rasa gemacht wurde.6 Selbst bei einer aus Hainbuchen zusammengeschnittenen Raumfigur erkennt der Botaniker unterschiedliche Genotypen und der Ästhet unterschiedliche Texturen. Ein Großteil dieser Argumentation lässt sich auch bei v. Krosigk nachlesen und -hören, so dass die Zusammenfassung gilt: Denkmalpflege und Naturschutz halten idealiter die Balance zwischen Wiederherstellung und Alterung. Nimmt man die Nutzungsansprüche hinzu, wird daraus ein Kräftedreieck.

Trotz der Annäherung in der Denkungsart der beiden Schlüsselfiguren, trotz des Konsenses über eine Synthese von barocken, landschaftlichen und Volkspark-Elementen beklagt die Naturschutzfraktion ein Implementationsdefizit. Die Vertreterin des NABU fiel im Vorjahr aus allen Wolken, als sie im östlichen Teil eine Wegschneise entdeckte, deren Wegfall im Lauf der Ausführungsplanungen abgemacht worden war. Im Dschungel der Zuständigkeiten zwischen Senat, Bezirk und ausführenden Büros und Firmen verlor sich schließlich auch die Schuldfrage. Einzig der NABU konnte als Beweis seiner Position eine schriftliche Zusicherung der Senatorin vorlegen, auf den Weg zu verzichten. Die Senatorin ist inzwischen weg, aber der Weg bleibt. Dafür wird ein anderer in der Nähe des Kemperplatzes zurückgebaut. Der Kemperplatz wird zum nächsten Konfliktpunkt. Einst von Lenné gestaltet, soll er nun wieder sichtbar gemacht werden, um die Eingangssituation vom Sony Center (Potsdamer Platz) her aufzuwerten. Wie das entlang der Rampe zum Tiergartentunnel gelingen soll, bleibt abzuwarten. Der Verlauf neuer Parkwege am Kemperplatz ist für Ingo Kowarik nicht einsichtig. Die historischen Phasen des Tiergartens sind relativ gut dokumentiert. Wer aktuellen Bedarf zu einem neuen Weg sieht, findet in den Archiven meist eine Vorlage zur Legitimation.

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Attraktoren ja, aber entlang der Festmeile ist das Unterholz bereits dauerhaft geschädigt. Quelle: Arge Topos/gruppeF
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Aus dem Strategischen Rahmenkonzept: Quelle: Arge Topos/gruppeF
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Seit 1906 steht die berittene Amazone auf dem Floraplatz (und als Replik reitet sie nicht nur dort). 100 Jahre später wurde der Platz wieder gerichtet. Foto: Neumann/Gusenburger
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Das Venusbassin (mit Musikerdenkmal), 2011 nach Plänen von Lenné wiederhergestellt. Foto: Lucas Rauch

Oder der Alleenweg wird, siehe oben, nachträglich legitimiert. Der Prozess sollte für Planer und Berater nicht fertig sein, wenn das Parkpflegewerk erstellt ist. In einem fünf Parks einbeziehenden Modellprojekt, darunter den Tiergarten, hat die TU Berlin alle Akteure zusammengeholt, um die Integration von Denkmalpflege und Naturschutz bis zum Ende zu vollziehen. Ein Internet-Leitfaden wurde erstellt: www.naturschutz-und-denkmalpflege.de.7

Der Dreh zur Einheit

Das Venusbassin und den Floraplatz herauszuarbeiten, passt zur "Entblätterung" des Tiergartens, aber zu viel Barock funktioniert nicht. Der schon zur 750-Jahr-Feier wiederhergestellte halbkreisförmige Zeltenplatz mit seinem Alleenfächer zieht kaum Publikum an. Die traditionelle Gastronomie fehlt und der Bezug zur Spree ist durch eine Straße unterbunden. Der Tiergarten muss auch nach der Wende nicht wieder erfunden werden. Der Pragmatismus seiner Gestalter hat von Anfang an - der ländlichen Fortsetzung von Unter den Linden in Richtung des für Sophie Charlotte gebauten Schlosses - die Kraft der Adaption des jeweils Älteren und der Absorption künstlich aufgesetzter Neuerungen bewiesen. Als Alverdes in den 50er Jahren nach vorhergehenden, teilweise exotisch anmutenden Entwürfen (Georg Pniower) aus dem Nichts einen naturnahen landschaftlichen Erholungspark schuf, setzte er das Programm Lennés fort. Er übernahm die Gewässerläufe, betonte Bodenmodellierungen und streute in die Wiesenfluchten Baumgruppen8 oder setzte freigestellte Einzelbäume zur Rahmung ästhetischer Szenerien ein, ohne feste Grenzen zwischen den Räumen zu ziehen. Hier taucht die Metapher der Rahmenbäume wieder auf, die auch Lenné im Repertoire hatte. Im von Gustav und Rose Wörner erstellten Parkpflegewerk von 1984ff. wird empfohlen, die eingetretene Verwaldung zurückzunehmen und die Randkonturen aufzulockern. Die Gehölzgruppen in historischen Parkanlagen wie dem Tiergarten intermittieren mit lichter Offenheit.9 Seine erste Aufgabe hatte schon Knobelsdorff darin gesehen, Lichtungen oder Salons in den Wald zu schlagen. Da schließt sich der Kreis zum heutigen Naturschutz: Wiesenränder und Gehölzsäume, aber auch der Halbschatten etwa von Eichen und Hainbuchen, haben den ökologisch größten Wert.

Bei der Vorstellung des Strategischen Rahmenkonzepts auf den Tiergartendialogen gab Henrik Michalski ("Topos") stichhaltige Beispiele für die mangelhafte Qualität vieler Plätze und den abweisenden Charakter eines Gewirrs von Eingängen. Er kommentierte dies: "Ich weiß gar nicht. Bin ich noch in der Stadt, oder bin ich schon im Park." Aus dem Publikum kam der Zwischenruf: "Das ist gewollt." In der Tat verkennt der Versuch, die Parkränder schärfer zu fassen, dass auch der Begriff der Stadtlandschaft in der Mitte Berlins nicht neu erfunden werden muss - weil er bereits prototypisch eingelöst ist. Wenn ich wähne, mich im Hansaviertel zu bewegen, bin ich schon im Tiergarten, und wenn ich mich im Tiergarten bewege, bin ich schon im Hansaviertel. Ähnlich im Diplomaten- und Regierungsviertel. Eingänge sind nicht zu erkennen, weil die Übergänge fließend sind, und fließende Räume gehören zum Konzept einer grünen Moderne, die nicht übersehen werden sollte. Reiner Nagel, Initiator der Dialoge und in der Senatsverwaltung für die Stadt- und Freiraumplanung zuständig, spitzt es zu: Der Tiergarten ist kein komplett gefasster Diamant, sondern einer, der "gegriffen" werden muss. Gabriele Pütz, für gruppeF am neuen Parkpflegewerk und dem Rahmenkonzept beteiligt, beruhigt jedoch im Gespräch, dass die Diskussion erst begonnen hat. Jede Überarbeitung sollte an vorhandene Funktionsaufteilungen anknüpfen. Das gilt auch für die Hierarchie der Wege: auf der einen Seite der vom Brandenburger Tor ausgehende Baumsaal aus vier Lindenreihen, der hauptsächlich von Touristen frequentiert wird, auf der andern Seite von Alverdes entworfene gewundene Pfade aus Granitplatten, die Naturerfahrung in Wassernähe bieten. In der Mitte liegt wieder ein Kompromiss zwischen Denkmalpflege und Naturschutz, der beim Publikum sehr gut ankommt: wiederhergestellte Promenaden aus wassergebundener Wegedecke, bei denen man die vorhandenen Bäume im Weg stehen ließ.

Der Tiergarten ist offen für Nachbarschaften. Seine Bedeutung für die Naherholung wird wachsen. Er ist Ziel- und Quellort für Besucher. Erholungssuchende, die eine Anfahrt haben, verweilen nach ersten Erhebungen überdurchschnittlich lange. Hinzu kommt eine sehr ausgeprägte Transitfunktion. Deswegen stellt das Strategische Rahmenkonzept den Park in einen größeren Verflechtungsbereich und zeigt Radialen auf, die in Durchquerungen übergehen sollten. Der Tiergarten ist aus der Fläche zu erschließen, um die Zerstückelung in sieben Teile durch die vorhandenen Straßen abzupuffern. Hinführende Straßen könnten für Fahrradfahrer ausgebaut werden. Vielleicht hilft die gegenwärtige Rotation des Tiergartens. Er dreht sich wieder - gleichsam um den Großen Stern - zur Mitte der Stadt, der er während der deutschen Teilung den Rücken zugekehrt hatte. Damit entfaltet er städtebauliche Kraftlinien, die auch das Kulturforum erfassen. An dieser Stelle ist das Ost/West-City-Band abgeschnitten und durch Nicht-Orte wie den Potsdamer Platz in seiner jetzigen Gestalt verschluckt. Die Museen sind abgehängt. Warum sollten diese nicht von einer ganz anderen Seite, vom Tiergarten aus, erschlossen werden, fragt Reiner Nagel. Solch spontane Überlegungen kommen aus einer Senatsverwaltung, die sich andererseits in langwierigen Denkprozessen darüber befindet, wie die den Tiergarten umgarnenden Verwaltungsstrukturen gestrafft werden können, damit Einnahmen etwa aus Veranstaltungen nicht im schwarzen Loch der Kameralistik verschwinden. Das ist eine Geschichte mit Fortsetzungen - auf den Tiergartendialogen.

Ich danke meinen Gesprächspartnern Jürgen Götte, Thomas Gusenburger, Ulrike Kielhorn, Ingo Kowarik, Klaus-Henning von Krosigk, Reiner Nagel, Gabriele Pütz.

Anmerkungen

1) Carl Wilhelm Hennert, 1788, zitiert nach Folkwin Wendland: Der Große Tiergarten in Berlin. Seine Geschichte und Entwicklung in fünf Jahrhunderten, Berlin 1993, S. 71.

2) Wendland, a.a.O., S. 37 und S. 191.

3) Andreas Splanemann, zitiert nach Almut Jirku/Ingo Kowarik: Geschichte in Schichten. Der Berliner Tiergarten - Lenné im historischen Umfeld, in: Garten+Landschaft, Heft 11/1989, S. 41.

4) Ingo Kowarik/Moritz von der Lippe: Naturschutz und Denkmalschutz als Partner in historischen Gärten. Gemeinsame Werte und Ziele beider Disziplinen, in: Gartenkunst und Landschaftskultur. 125 Jahre DGGL - Eine Standortbestimmung, München 2012, S. 28. - Auch die skulpturalen Denkmäler dokumentieren ihren Alterswert: durch die Einschusslöcher.

5) Vgl. Wendland, a.a.O., S. 14ff.

6) Das kann an der zentralen Achse im Schlosspark Ludwigslust studiert werden.

7) Das Projekt wurde von der DBU gefördert. - Eine Institutionalisierung der Kooperation ist auch deswegen angebracht, weil v. Krosigk seit Nov. 2011 im Ruhestand ist.

8) Eberhard Fink, Nachfolger von Alverdes ab 1961, erinnerte sich im Gespräch mit Klaus Neumann und Thomas Gusenburger, dass Alverdes die Baumspenden aus den Westzonen nehmen musste, wie sie kamen. Er entschied über die Pflanzungen von Fall zu Fall.

9) Kommt beim Tiergarten die Ahistorizität eines Genius loci zum Tragen?

Dr. Bernhard Wiens
Autor

Beuth Hochschule

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