Stimmigkeit des Ortes und Verzicht auf Monumentalität

Osmanische Gartenkultur in Istanbul

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Gartenkunst Gartengestaltung
Blick vom Istanbuler Stadtteil Pera auf Arsenal. Der Bosporus als Parklandschaft, als großer Garten. Die Trennung zwischen Garten und Landschaft ist fließend. Stich von S. Bradshaw nach W.H. Bartlett um 1840. Abb.: Ancestry images

"Von Konstantinopel kann man wahrhaft sagen: eine Landschaft - welch ein Gemälde!"
Gustave Flaubert 1821-80

Fragt man einen Istanbuler nach sehenswerten Parks und Gärten in der Stadt, stößt man unter Umständen auf Schulterzucken. "Also nein, so wie bei euch, solche Gärten gibt's hier nicht. - Oder ja, da wäre natürlich der Garten vom Dolmabahce-Palast und dann auch vielleicht der Yildiz-Park. Die machen schon was her." Der eine kommt neobarock daher, der andere landschaftlich, beide stark europäisch inspiriert. Wo ist sie also die typisch türkische bzw. osmanische Gartenkultur? Die verblüffende Antwort lautet: Sie ist verschwunden und trotzdem allgegenwärtig. Was ist damit gemeint? Die Antwort weist auf einen signifikanten Unterschied zwischen der osmanischen und der europäischen Sichtweise auf die Planung von Freiräumen hin. (Wir bewegen uns etwa im Zeitraum vom 16.-19. Jahrhundert). Während die Europäer eher die eine Anlage unabhängig von der nächsten planen und umsetzen, dachte der osmanische Planer immer das große Ganze mit. Viele der alten osmanischen Gärten sind leider nur noch in Büchern zu finden. Aber die Idee der osmanischen Anlagen von Stadt und Grünflächen ist dennoch gegenwärtig und faszinierend genug, um sie näher zu betrachten, erlaubt sie uns doch auch eine durchaus erfrischende Perspektive auch auf eigene Planungsansätze.

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Fußgängerzone im Stadtteil Beylerbey. Der Bosporus ist überall präsent im Stadtbild. Foto: Karla Krieger 2012
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Eins von vielen Neubaugebieten in Istanbul. Grünflächen spielen kaum noch eine Rolle in der aktuellen Stadtplanung. Foto: Karla Krieger 2012

Raumkonzepte

Ein erstes Ziel für Gartenfreunde ist der Topkapi-Palast. Trotz der Liebe der Sultane zu Pracht und Prunk, wirkt der Palast eher bescheiden. Dies liegt vor allem in der Aufteilung der Gebäude auf mehrere kleinere Baukörper. Topkapi ist kein Palast mit Garten, sondern ein Garten mit Palast. Die Raumwirkung der Höfe ist freundlich. Es gibt keine abstrakten Symmetrien oder Achsen. Keine erzwungenen Blickbeziehungen bedrängen den Besucher. Diese freie Art des Raumerlebens betrifft die Stadt- wie auch die Landschaftsplanung und kann als Grundprinzip osmanischer Gestaltung bezeichnet werden. Wie unterschiedlich das westliche Prinzip ist, zeigt sich in dem der Altstadt gegenüberliegenden europäischen Stadtteil Pera. So notiert der Architekt Le Corbusier 1911 "… demgegenüber lastet auf Pera eine vergiftete Atmosphäre (…) Es gibt nichts, was diese Härte und Gewalt mildern würde. (…) Die Straßen führen rasant bergwärts und bringen die Menschen, die der Durst nach Gewinn ohnehin an den Rand bringt, außer Atem. (…) Pera, ein Mitleid erweckender Steinhaufen."

Garten versus Flächenfraß

Das Bewusstsein für Gärten und Freiräume wächst in Istanbul beständig. Wohl auch als eine Reaktion auf den enormen Flächenfraß durch Neubauten und den Verlust gewachsener städtebaulicher Strukturen. Die Toleranz der Istanbuler für städtebauliche Entgleisungen wird seit den 1980er-Jahren immer wieder auf harte Proben gestellt. Jüngst erst durch den Bau einer Groß-Moschee im Naherholungsgebiet Camlica. Der Bau nimmt keine Rücksicht auf Stadtstruktur und Silhouette, stört das Gefüge der Stadt und widerspricht damit allen Regeln osmanischer Baukunst. Der osmanische Garten, so scheint es, wird manchmal Opfer seiner programmatischen Natürlichkeit, denn Investoren sehen in Camlica einfach nur ein zufällig noch unbebautes Stück Land mit ein paar Bäumen darauf. Doch nein! Der Wald ist ein über viele Jahre gewachsener Ort der Erholung, der einfachen Freuden in der Natur und sehr wichtig für das Landschaftsbild am Bosporus. 2013 hatte der Unmut über die unsensiblen Planungen zur Bebauung des Geziparks das Fass zum Überlaufen gebracht.

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Blick vom Friedhof in Eyüb über das Goldene Horn. Heute liegt oberhalb des Friedhofes der Teegarten "Pierre Loti". Postkarte Privatbesitz Karla Krieger
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Ein Leben im Moment. Wilde Hunde im Yildiz Park. Foto: Behic Ergin 2016
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Yahya-Efendi-Friedhof im Istanbuler Stadtteil Ortaköy. Auch dieser Friedhof liegt an einem Hügel mit Blick über den Bosporus. Foto: Behic Ergin 2016

Die dunklen Wasser des Bosporus

Aktuell befindet sich die Stadt Istanbul und ganze Republik Türkei in einer Phase tiefgreifender Irritation. Die Probleme bewegen sich zwischen der großen Weltpolitik und den inneren Eigenarten des Landes. Istanbul ist derzeit leider kein unbeschwertes Reiseziel. Möge dieser Artikel auch ein Beitrag sein, um auf die positiven Kräfte der Stadt hinzuweisen, auf die Brückenfunktion, die Toleranz, die Geschichten, die Menschen, die unglaubliche Faszination eines beständigen Miteinanders von angeblich Unvereinbarem. Herrscher kamen und gingen, manche blieben in Erinnerung, manche verschwanden im Nebel der Geschichte wie die zahllosen Wracks in den dunklen Wassern des Bosporus - Byzanz, Konstantinopel, Istanbul - die Stadt erfindet sich in fortwährender Transformation immer wieder neu. Jüngste Ausgrabungen haben 8500 Jahre alte Siedlungspuren zu Tage gefördert. Die Stadt ist wie ein alter, gewachsener Boden "eski toprak" - er wird immer fruchtbarer und geduldiger, je länger er mit Humus und Kompost bedacht wird.

Leben im Moment

Einzigartig! - Eine Stadt auf zwei Kontinenten! Und dazu die Lage! Der Bosporus, das Goldene Horn, das Schwarze Meer und das Marmarameer schaffen einen unvergleichlichen Rahmen, der die Stadt und die Bewohner prägt. Der französische Schriftsteller Pierre Loti (1850-1923) bildet mit seiner in Konstantinopel spielenden Liebesgeschichte "Aziyadé" auch literarisch eine Brücke. Von osmanischer Lebensart lernte der Europäer Loti vor allem eins: das Leben im Moment. Damit hat er einen wesentlichen Schlüssel zum Verständnis der osmanischen Kultur erfasst.

Manche Reisende, die im 19. Jahrhundert nach Konstantinopel kamen, genossen von der Terrasse des berühmten Hotels "Pera Palace" die Aussicht über den Bosporus auf das alte osmanische Stambul - "im ganzen genommen vielleicht die schönste Aussicht der Welt"¹ Bei einigen "Touristen" sollte der Blick auf immer distanziert bleiben. Doch die meisten Reisenden waren fasziniert von der Stadt und vom Zusammenspiel des natürlichen und geplanten Stadtbildes.Der Schriftsteller Théophile Gautier (1811-1872) beklagte sich sogar einmal auf einer Bosporustour über ein Zuviel an Schönheit und Harmonie der Landschaft. Angesichts eines osmanischen Friedhofes am Ufer schreibt er, dass man hier als Toter im Licht der heiteren Sonne und unter dem Gesang der zahlreichen Singvögel gut aufgehoben sei. Der Architekt Le Corbusier, auf dessen spätere Arbeit sein siebenwöchiger Aufenthalt in Istanbul nicht geringen Einfluss hatte, konnte es sich auch gut vorstellen, sich auf dem Friedhof von Eyüb über dem Goldenen Horn dem letzten Schlaf hinzugeben. Gautier gelangte schließlich am Ende seiner Bosporustour zu der Erkenntnis: "Der Osmane will keine schroffen Unterbrechungen seiner Träumereien, sondern verliert sich gern in Schönheit und Tagträumen, in Zeitlosigkeit, welche Unendlichkeit, ja einen Hauch von Göttlichkeit vermittelt." Und die Erkenntnis für das Thema Garten? - Aus dem Zulassen von Schönheit, Tagträumen und Zeitlosigkeit leiten die Osmanen letztendlich die Gestaltungsansprüche an einen Garten her.

Osmanische Garten- und Freiraumarten in Istanbul

Meydan - ist eine Art Platz/Festplatz mit relativ regelmäßiger Gestaltung, mit Denkmälern, Säulen, Brunnen.

Namazgah - ist eine Gebetsplattform im Freien, möglicherweise durch durch Vorbilder antiker Altäre beeinflusst.

Mezarlik - Friedhöfe finden sich überall in der Stadt. Reisende berichteten über reges Treiben auf den Friedhöfen, aber auch über die Düsterkeit der dunklen Zypressen. Durch den alten Friedhof von Eyüb gelangt man zum Teegarten mit dem Namen "Pierre Loti", von dem sich eine ganz besondere Aussicht über das Goldene Horn auf die Stadt bietet. Sehenswert ist auch der Yahya Efendi Friedhof im Stadtteil Ortaköy.

Bahce - Aus dem Persischen stammt der Begriff "Bahce". Dabei handelt es sich meist um kleinere Gärten oder Hausgärten, die mit Nutz- und Zierpflanzen bepflanzt sind und auch als erweiterter Wohnraum dienen.

Cay-Bahce - Teegärten faszinieren seit dem 19. Jahrhundert durch ihre einfache Gestaltung und perfekte Lage, sodass man dort die Welt vergessen kann. In einigen Teegärten darf man eigene Speisen mitbringen.

Bostan - Diese einträglichen Gemüsegärten gehörten meist dem Sultan und wurden durch Gärtner - "Bostancis" - bewirtschaftet und auch bewacht. Aus dieser Aufgabe erwuchs die Funktion der Gärtner als "Stadtpolizei". Später waren sie sogar für die Tötung von Konkurrenten des Sultans zuständig. Auf Umzügen zogen sie Wagen mit gestalteten Gärten durch die Stadt. Um 1900 gab es in Istanbul rund 1200 Bostans.

Die wenige, die sich erhalten haben, werden heute als wertvolle Grünflächen betrachtet. Bürgerinitiativen bemühen sich um den Erhalt. Die bekanntesten, noch genutzten Bostans, liegen entlang der 1600 Jahre alten Theodosianischen Stadtmauer, (s. a. Timpe, Ley: "Istanbul: das kulturelle Erbe der Selbstversorgung", Stadt+Grün, 11-2014, S. 11ff.). Der aus Frankreich stammenden Stadtplaner Henri Prost, der in den 1930-Jahren mit der Erstellung eines Generalbebauungsplanes für die Istanbuler Altstadt betraut war und auch den Gezi-Park plante, sorgte für einen unbebauten Streifen entlang der Mauer. Eine Studentengruppe der RWTH Aachen hat im Jahr 2012 die Gärten an der Mauer unter die Lupe genommen und die Anlage eines Grünzuges unter Einbeziehung der alten Bostans angeregt.

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Entlang der Theodosianischen Landmauer zieht sich ein Streifen mit den historischen Gemüsegärten – Bostans – entlang. Um 1900 zählte man 1200 Bostans in Istanbul. Foto: Tolga Ildun o.J.
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Die typisch türkische, wohlschmeckende Lila Tomate ist vom Aussterben bedroht, es haben sich aber Erhaltungsinitiativen gegründet.. Foto: Karla Krieger 2010

Krankenhausgärten - In der 200 Kilometer entfernten Stadt Edirne ist ein Krankenhaus aus dem Jahr 1484 erhalten, das auf die Behandlung psychisch kranker Menschen ausgerichtet war. Die Therapieansätze damals: Diäten, Aromatherapie, Musiktherapie und Gartentherapie.² Das Krankenhaus ist heute ein Museum und erhielt 2004 den Museumspreis des Europaparlamentes. Vermutlich gab es in Istanbul ähnliche Therapieeinrichtungen.

Mesire oder auch Cayire - sind die Herzstücke osmanischer Grünanlagen und waren besonders im 18. und 19. Jahrhundert verbreitet. Sie sind eine Mischung aus Residenz, Park und Ausflugsziel. Sultan und Hofstaat ließen auf ihren ausgedehnten Wiesen am Goldenen Horn und am Bosporus Sommerresidenzen errichten. In die natürliche Auenlandschaft wurden Wege, Brunnen, Sitzplätze, Theater und Sommerhäuser - Köske - hinein komponiert (s. a. deutsch "Kiosk"). Später wurden sie auch für die Bevölkerung freigegeben. Sie boten Raum für ausgedehnte Picknicks und Vergnügungen. Fliegende Händler boten kulinarische Genüsse feil: Wasser, Fruchtsäfte, Sorbets oder Pischmaniye - Zuckerwatte, die um 1430 aus dem Orient kam. Im Winter gab es Marzipan, Nüsse, Quittenbrot, glasierte Maronen und Boza (vergorener Hirsebrei) oder Salep (heiße Milch mit Pulver aus Knabenkrautknollen). Die um 1550 eingerichteten Kaffeehäuser wurden jedoch von der Obrigkeit als Keimzellen gesellschaftlichen Aufruhrs bald wieder verboten. Die Kultur des Teetrinkens entwickelte sich erst im späten 19./20. Jahrhundert. Im 19. Jahrhundert. wurden die Mesires am Goldenen Horn durch Gewerbe verdrängt, aber in den 1980er-Jahren rückgebaut. Im Norden Goldenen Horns wurde in der kunst- und genussfreudigen "Tulpenzeit" (1710-30) wohl nach persischem Vorbild das berühmteste Mesire angelegt: Saadabad. In die Flussauen wurde ein Palast und fast 100 weitere kleine Bauten eingefügt. Große Bäume gliederten den Raum. Auch Saadabad wurde für die Öffentlichkeit freigegeben. Die neue Freiraumkultur ermöglichte in bescheidenem Rahmen die Erprobung neuer gesellschaftlicher Freiheiten. Ein geheimes Stelldichein oder ein verbotener Schluck aus der Weinkaraffe - das war hier möglich. 1730 beendete ein Aufstand die Tulpenzeit - unter anderem weil der Sultan Unsummen für Tulpenzwiebeln ausgegeben hatte.

Und die Pflanzen?

Es seien hier einige der wichtigsten Pflanzen erwähnt, um auch die Pflanzen- und Farbenliebe der Osmanen anzusprechen. Zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert zeigten sich überall in der osmanischen Kunst florale Motive. Der Gartenbau ist insgesamt auf hohem Stand, wie europäische Reisende feststellen, der Austausch mit den botanischen Gärten Europas ist intensiv.

Bei den Blumen steht die Rose ganz oben. Dazu Tulpen, Hyazinthen, Narzissen, Lilien, Ranunkeln und Nelken. Es war Mode, eine duftende Blume an der Kleidung zu tragen.

Beliebte Bäume sind unter anderem Kastanie, Linde, Walnuss, Palme, Judasbaum, Maulbeer-, Pfirsich- und Kirschbäume und die Zypresse. Es finden sich im Stadtbild uralte Bäume, die gepflegt und verehrt werden. Fast alle, die Istanbul bereisen, beschreiben die Schönheit der Bäume und ihre Bedeutung für das Stadtbild. "Um die Wahrheit zu sagen, ist der Baum der wichtigste Helfer der Architektur wie auch des täglichen Lebens. Die alten Kupferstiche erwecken den Eindruck als wäre ein ganzes Quartier so gebaut, einen einzelnen Baum zur Geltung zu bringen." schreibt der türkische Schriftsteller und Kulturwissenschaftler Ahmed Hamdi Tanpinar (1901-1962).

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Das Ausflugs- und Naherholungsgebiet Saadabad am Nordende des Goldenen Horns wurde durch die Revolution von 1730 zerstört aber im 19. Jh. mit europäischen Anklängen neu aufgebaut. Postkarte Privatbesitz Karla Krieger
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Das Eau de Cologne ist in der Türkei um zahlreiche Duftnoten erweitert worden, um Blumendüfte bei sich tragen zu können. Beliebt sind Zitrone, Rose und Lavendel. Nur noch selten anzutreffen – ein "Colonyaci" in seinem Laden. Foto: Karla Krieger
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Eine typische Situation am Bosporus. Der wie zufällig hier errichtete Brunnen gibt dem Ort eine eigene Stimmung und Dimension. Stich von J. Coulsen nach W.H. Bartlett um 1840. Abb.: Ancestry images

Weniger ist mehr

Allen aufgeführten Gartentypen ist gemeinsam, dass Eingriffe sich vor allem auf das Hinzufügen einer Funktion statt eines Objektes beschränkten. Natürliche Gegebenheiten wurden möglichst nicht verändert. Statt künstlich aufgestellter Säulen oder Denkmäler wurden eher vorhandene Bäume, Wasserläufe, Felsformationen in das Konzept miteinbezogen - das Prinzip der vorsichtigen Zutat.

Erinnerung an eine verlorene Zeit

Um den Umgang der Osmanen mit Raum, Freiraum und Natur zu verstehen, ist ein Blick auf ihre ursprüngliche Heimat, die zentralasiatischen Steppe, hilfreich. Das Leben in der Steppe spielte sich in engster Beziehung zur Natur ab. Einfache Wohnstätten, geringe materielle Besitztümer, ein großes Wissen um die Natur half zu überleben. Die Glaubensvorstellungen waren animistisch geprägt. Alle Erscheinungen galten als beseelt. Erscheinungen der Natur durften nicht zerstört werden. In den Konzeptionen der späteren osmanischen Freiräume hallt diese Lebensform nach. Am Boden zu sitzen wie in einer Jurte und so das Essen einzunehmen ist auch heute noch in manchen türkischen Familien Gewohnheit, auch wenn sie in der zehnten Etage wohnen.

Die Raumwahrnehmung der Nomaden orientiert sich vor allem an der Natur. Der Fokus wechselt stets zwischen Nähe und Ferne. Das Dasein in der Steppe ist karg, hält aber alles zum Leben bereit. Da liegt der wesentliche Unterschied zum Leben in der Wüste. Dort betreibt man Landwirtschaft. Die Gärten sind geprägt durch Abschottung gegen die unwirtliche Natur. Bewässerungssysteme waren erforderlich, deren Konstruktion auf Geometrie, Symmetrie und Achsenbildung basierte. Man schaue sich die Abbildungen früher ägyptischer Gärten an.

Die Seldschuken, die Vorläufer der Osmanen, verließen Zentralasien und gelangten zunächst nach Persien. Dort haben sie neben literarischen vor allem gartenspezifische Traditionen aufgegriffen, aus der viele Begriffe in die türkische Sprache übergegangen sind. Aus Persien kam auch die Rose nach Anatolien. Weitere Anregungen erhielten die Seldschuken aus Armenien, Anatolien, Griechenland oder auch vom Balkan.

Ganzheitlicher Ansatz

Vor dem Hintergrund der nomadischen Tradition wird verständlich, dass der osmanische Garten kein Garten nach indischem, arabischem oder persischem Muster ist. Auch die relativ regelmäßig gestalteten Höfe der Osmanen sind offene Systeme. Geometrien sind gebrochen, Perspektiven frei gewählt. Blicke führen in die Landschaft und nicht auf künstlich angelegte Blickpunkte. Wege verbinden zwei Punkte und verlaufen entsprechend diagonal. So ergeben sich besondere Spannungen in den Freiräumen auch im Zusammenspiel mit der Architektur. Es entsteht eine besondere Leichtigkeit, denn der Mensch kann sich den Raum selbst aneignen. Gärten sind eher als Kommentar zur Natur zu verstehen, nicht als Unterwerfung. Das steht ganz im Gegensatz zum Beispiel zu den europäischen Gärten des Barock und auch zum scheinbar natürlichen Landschaftsgarten, der ja bisweilen enorme Veränderungen an der vorhandenen Topografie vorgenommen hat und nur eine Simulation von Natur ist.

Der ganzheitliche Ansatz der osmanischen Planung ist faszinierend. Er befördert die Diskussionen etwa über den Unterschied zwischen "Gestaltung" und "Design", über Authentizität. Auch mit dem Städtebau ist die Herangehensweise eng verbunden. Das zeigt ein Blick über den Bosporus auf die Altstadt auch heute noch. Die organische Verteilung der Baukörper, der Verzicht auf monolithische Strukturen, das gelungene Miteinander der einzelnen Teile, die Leichtigkeit des Ganzen. Die schlanken Minarette der hintereinander gestaffelten Moscheen sind sozusagen die Gräser im Stadtbild. Über die Osmanen und ihr Verhältnis zur Stadt heißt es: "Für den osmanischen Einwohner einer Stadt scheint es kein Glück zu geben, ohne die Betrachtung eines Stückes Natur, das kein künstlicher Garten ersetzen kann."3, 4

Als osmanische Gestaltungsprinzipien kann man zusammenfassend nennen

  • Konzeption aus dem Ort, Stimmigkeit des Ortes
  • funktionale Natürlichkeit
  • Verzicht auf Monumentalität
  • Verzicht auf stark fokussierende Elemente wie Säulen, Achsen, Symmetrie
  • Hinwendung zur Landschaft
  • Schaffung von Genussräumen
  • Leichte Baukörper, organische Dachformen
  • Wechsel der Maßstäbe zwischen Nähe - Weite
  • ganzheitliche Raumwahrnehmung

Lüfer-Fisch und Judasbaum

Ahmed Hamid Tanpinars Roman "Seelenfrieden" gilt als eine der besten Beschreibung von Istanbul. So wollen wir ihm auch das Schlusswort überlassen, denn besser kann man die Wirkung der Stadt auf die Bewohner wohl nicht charakterisieren. Und für den Planer ergibt sich daraus vor allem die Frage: Wie müssen Räume beschaffen sein, um solche Wirkungen hervorzurufen? "In den Herbstmonaten denkt man immer daran, dass die Zeit der Lüfer-Fische beginnen wird. Im April weiß man, dass an den Hängen des Bosporus die Judasbäume blühen. Solche Gedanken genügen schon, den Augenblick, den wir erleben, in ein Märchen zu verwandeln."

Anmerkungen

1 Die englische Diplomatengattin und Reisende Lady Wortley Montagu 1717 in einem Brief.

2 Zur türkischen Musiktherapie: www.tumata.com (dt., engl., türk.)

3 Als anschauliches Beispiel für den osmanischen Städtebaus eignet sich besonders die Stadt Safranbolu.

4 Fundgrube für (meist englische) Texte zu islamischer Kunst und Architektur: www.archnet.org

Literatur

Aktas, Ugur: Istanbul`un 100 bahcesi. Istanbul 2010 (türkisch mit zahlreichen historischen Abbildungen).

Atasoy, Nurhan: Osmanli bahceleri ve hasbahceler. Istanbul 2005.

Cerasi, Maurice: Der osmanische Garten im Spiegel der Landschaft des Bosporus. S. 217-231. In: Attilio Petruccioli (Hg.): Der islamische Garten. Stuttgart, 1995.

Morison, Patricia: A Man for three cultures - Portrait of a gardener (Fergus Garret, Obergärtner in Great Dixter, GB). In: Cornucopia 13 - (The Turkish Garden Issue), Bd. 3. 1997.

Schoser, Gustav (Hrsg.): Osmanische Blumen - Ein Beitrag zur Kulturgeschichte von Pflanzen aus Vorderasien. In: Der Palmengarten-Zeitschrift des Palmengartens der Stadt Frankfurt am Main. Frankfurt 1985.

Pamuk, Orhan: Das Schwarze Buch. München 1995.

Ebd.: Istanbul. München 2006. (Auch als Hörbuch, gelesen von Ulrich Noethen).

Ebd.: Diese Fremdheit in mir. München 2016.

Tampinar, Ahmed Hamdi: Seelenfrieden. Zürich 2008.

Vogt, Göknil (Hrsg.): Istanbul. Zürich 1990.

Dipl.-Ing. Karla Krieger
Autorin

Gesellschaft zur Förderung der Gartenkultur e.V.

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