Ein Flussufer wird wieder zugänglich
Zurück am Fluss: Gießen an der Lahn
von: Dipl.-Ing. Steffan RobelAuf zu neuen Ufern! Unter diesem Motto steht die Landesgartenschau Gießen 2014 entlang von Wieseck- und Lahnaue (s. a. SuG 04-2014, S. 9ff).
"Auf zu neuen Ufern" ist d i e Haltung der europäischen Stadtentwicklung seit den 1990er Jahren. Dabei sind die Strategien durchaus unterschiedlich: mal ist die zeitweise Öffnung der Flussufer wie im Projekt "Paris Plage" das Mittel, Lebensqualität in die Innenstadt zu tragen. Mal ist es die Renaturierung eines Flusses wie der Isar in München, die mit ihren Sandbänken, Ufern und Auen zum "zentralen Natur- und Erholungsraum der Stadt" wurde. Meist sind es jedoch die großen Projekte der Immobilienentwicklung wie die Docklands in London oder die Hafencity Hamburg, der Duisburger Binnenhafen oder der Düsseldorfer MedienHafen, die eine neue Dynamik der Stadtentwicklung begründen.
Der Fluss als Lebensader der Stadt ist erneut entdeckt worden. Längst hat diese Entwicklung auch die mittelgroßen und die Kleinstädte erreicht. Allenthalben wird geplant, debattiert und gebaut, überall wird die Lage am Fluss zu einem strategischen Element. Denn ein Fluss - das ist Teil unserer Siedlungsgeschichte - ist der Ursprung fast jeder Ansiedlung.
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Entwicklungspotenzial durch Wasser in der Stadt
Flüsse gliedern die Städte. Flüsse stehen für die Geschichte einer Stadt, sind Ursprung und Lebensader. Schon diese Begriffe zeigen, welche Bedeutung den Flüssen zukommt. Die Furt ist bis heute in vielen Stadtnamen erhalten. Auch der Name der Stadt Gießen leitet sich aus einer Wasserlage ab, denn als "Giezzen" wurden Wasserbäche und Rinnsale bezeichnet, die von den Lahnterrassen in die Täler von Lahn und Wieseck flossen.
Auf dem Gebiet des heutigen Gießen beherrschte eine Wasserburg die strategische Lage. Am Lahnübergang kreuzten sich wichtige Handelswege. Die Geschichte nahm ihren Lauf: Verwaltungs- und Wirtschaftszentrum, Militärstandort und Universität (aufgrund von Konfessionsstreitigkeiten und Landesteilungen wurde Gießen schon zu Beginn des 17. Jahrhunderts hessische Landesuniversität) prägen Gießen bis in die Gegenwart. Verwaltung, Wirtschaft und Universität sollen auch die Zukunft der Stadt bestimmen. Daraus entstehen Anforderungen an das Stadtbild.
Das Industriezeitalter hatte die Bedeutung der Flüsse im Stadtbild massiv verändert. Bei wachsender Dichte der Bewohner wie der Arbeitsstätten in den Städten wurde der Fluss zum wichtigsten Funktionsraum. Kanalisierungen und Kloaken machten die Flussauen meist unansehnlich, die Bewohner wandten sich ab. Stattdessen nutzte man die Stadtmorphologie und legte weitere Funktionen entlang der Flüsse an: Straßen, Bahntrassen - der Weg durch die Stadt war entlang des Flusses oft der kürzeste und am wenigsten aufwändig zu nutzende. Natürlich gab es Gefahren, Hochwasser mussten bewältigt, die Stadt vor dem Fluss geschützt werden. Mit der Wiederentdeckung der Flussareale für die Stadtentwicklung sind in der Regel erhebliche wasserbauliche Maßnahmen, Gründungsbauwerke und Bautechniken verbunden, die vor Jahrzehnten noch undenkbar waren. Während die Transportfunktion und die Bedeutung der Flüsse für Ver- und Entsorgung zurückgehen, steigen die Attraktivität und die Nachfrage nach Wasserlagen.
All das bestimmte die Überlegungen der Stadt Gießen, sich der Lahn wieder bewusst zu werden. "Gießen an der Bahn" statt "Gießen an der Lahn" hieß es durchaus spöttisch, nachdem in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein Bahndamm entlang der Lahn angelegt worden war, der die Innenstadt von der Lahnaue trennt und nicht nur Sichtbeziehungen, sondern auch Wegebeziehungen unterbindet sowie den Flussraum schwer erreichbar macht. Mit dem leisen Spott waren aber auch andere verkehrstechnische und infrastrukturelle Einrichtungen gemeint, wie die Anlage eines Schlachthofs, des städtischen Betriebshofes und diverser Parkplätze für den ruhenden Verkehr, die Gießen von seiner Flusslandschaft abrücken ließen. So glich die Flussaue lange eher einer innerstädtischen Peripherie als einem hochwertigen Natur- und Erholungsraum.
Heute ist die Konkurrenz der Städte nicht mehr nur eine Konkurrenz der Standorte, der Erschließung und Erreichbarkeit, sondern immer auch eine Konkurrenz um Lebensqualität, Identität und Image. Keine Stadt kann da ihre Qualitätsreserven ignorieren, und es gibt bewährte Mittel, diese zu erschließen. Gartenschauen gehören seit langem dazu. Kaum eine Landes- oder Bundesgartenschau, die nicht einen See oder Fluss neu entdeckt.
Die Wiederentdeckung der Lahn in Gießen erfolgte relativ spät. Bedingt durch die Hochwassergefahr wurden die Flussauen in Gießen lange Zeit als Resträume betrachtet, was durch den Bau des Bahndamms noch verstärkt wurde. Mit der Entwicklung und Umsetzung des Rahmenplans Lahnaue machte sich die Stadt daran, eine regelrechte Raumstrategie für die Räume entlang der Lahn zu entwickeln.
2010 wurden wir, das Landschaftsarchitekturbüro A24 Landschaft aus Berlin, beauftragt, den "Rahmenplan Lahnaue" zu entwickeln. Die Ziele konnten rasch formuliert werden: die Stadt Gießen, städtebaulich stark geprägt durch die 1950er und 1960er Jahre, sollte wieder stärker auf die Lahn bezogen werden. Es gilt, den Fluss wieder in die Stadt und ins städtische Leben hineinzuholen. Weil die Lahn die Stadt strukturiert, teils auch trennt und gliedert, ist der Fluss nicht nur als Abfolge von Ufern zu lesen. Daher analysierten wir den Einfluss der Lahn auf die gesamte Stadtstruktur, also auf alle Formen des Bewegens, Wohnens, Arbeitens, Erholens. Zu verbinden waren drei Bedeutungen: Der Fluss in der Stadt ist potenziell ein wichtiger Verkehrsweg in der Stadt; er ist Attraktionsraum als mögliches Wohnumfeld und er ist wesentlicher Bestandteil des Erholungsraums.
Rahmenplan Lahnaue
Der Rahmenplan, der von der Stadtverordnetenversammlung 2011 beschlossen wurde, bildet die Leitlinie für die Planung der kommenden Jahrzehnte. Die Flussufer werden Schritt für Schritt durch die Entwicklung einer durchgängigen Parkanlage wieder erlebbar gemacht. Die Umsetzung erfolgt in Teilabschnitten, sobald Grundstücke frei werden. Da die Lahnaue zumeist mit Flächen für Kleingärten und Rudervereinen "privatisiert" wurde, dauert dies Jahrzehnte. Wir hielten im Rahmenplan fest, dass sich eine zukünftige Bebauung entlang der Lahn stets der Durchgängigkeit der Parkanlage unterordnet. Auf Grundlage dieser städtebaulichen Vorgaben wurde die Bebauung am Rodheimer Platz bereits ausgeführt. Diesem Platz gegenüber entsteht als nächste bauliche Maßnahme ein Wohnturm.
Das Gebiet des Rahmenplans umfasst den gesamten innerstädtischen Flussraum. Die sechs gewählten Teilabschnitte leiten sich aus der Stadtmorphologie heraus ab.
Im Uferpark Nord entsteht nach dem Rückbau stark verbauter Uferkanten ein Wiesen- und Kleingartenpark. Für das Areal Große Bleiche sieht der Rahmenplan eine städtebauliche Neuordnung vor. Es dient künftig als grünes Stadtentrée mit wenig Bebauung, jedoch mit einer durchgängigen Parkgestaltung. Aufgrund der starken Tradition Gießens im Rudersport entsteht hier ein Wassersportzentrum. Den Teilbereich Zu den Mühlen charakterisieren zwei repräsentative Plätze, die durch einen Boulevard miteinander verbunden werden. Dieser Boulevard führt vorbei an der Klinkel'schen Mühle. Der geplante Stadtplatz vor dem Bootshaus der Gießener Rudergesellschaft 1877 e. V. ist Teil der künftigen "Lahnarena". Die "Lahnarena" dient mit ihren wassernahen Bauten insbesondere dem großen Besucheraufkommen bei der traditionellen Pfingstregatta sowie weiteren jährlichen Festen. Durch die hier entstehenden neuen öffentlichen Aufenthaltsbereiche werden die derzeit öffentlich genutzten Vereinsstege entlastet. Sitz- und Aufenthaltsbereiche am Wasser laden zum Verweilen ein. Die Uferzonen selbst bleiben naturnah belassen, die Übergänge hin zur Stadt erhalten eine neue gärtnerische Gestaltung.
Die Entwicklung des Uferparks West hängt maßgeblich mit der Entwicklung des alten Schlachthofareals zusammen. Durch eine Verlegung der Schlachthofnutzung kann das Areal langfristig einer neuen Nutzung zugeführt werden. Denkbar sind Nutzungen wie Wohnen oder Kultureinrichtungen, die der innenstadtnahen Lage gerecht werden. Der Rahmenplan sieht für diesen Teilabschnitt eine Aufwertung der Parkanlage sowie einen durchgängigen Uferweg vor.
Der Uferpark Lahnstraße bildet den Kern des neuen Stadtparks. Es entstehen Sport- und Spielangebote, gärtnerisch gestaltete Flächen sowie Wasserbalkone, die ein Herantreten ans Wasser ermöglichen. Um den Uferpark als durchgängigen Grünraum zu vernetzen, wird der Weg über die neue Wieseck-Brücke fortgesetzt und mit dem Uferweg des Uferparks Süd verbunden.
Der weiträumige Uferpark Süd ist geprägt durch die Lahnwiese unterhalb des Gießener Bahnhofs. Mit der Entwicklung des Güterbahnhofs wird sich das Bahnhofsareal künftig stark entwickeln. Der Uferpark Süd wird auch künftig seinen naturnahen Charakter als offene Wiesenfläche beibehalten, aber durch eine großzügige Rampe und Treppenanlagen eine Verbindung zwischen dem Bahnhofsplatz und der Auewiese schaffen. Der Altbaumbestand bleibt erhalten und wird künftig von einem skulpturalen Zaun geschützt. Zudem entstehen durch eine Aufweitung der Lahn Buchten als zusätzliche Laichräume. Der Uferpark Süd wird behutsam für Naherholungssuchende geöffnet.
Entwicklung der Wissenschaftsstadt
Zur Landesgartenschau konnten bereits erste Bausteine des Rahmenplans umgesetzt werden, so dass der Fluss schon heute wieder näher an die Stadt heranrückt.
So erfolgte im Uferpark Nord der Bau der dritten Lahnbrücke, die eine Verbindung für Fußgänger und Radfahrer zwischen Weststadt und Nordstadt ermöglicht. Die öffentlichen Freiflächen um diese so genannte Nordstadtbrücke stellen einen wichtigen Baustein für die Erschließung des Lahnufers dar. Sie sind Teil des geplanten Wiesen- und Kleingartenparks. Zwei Auftaktplätze beidseitig der Lahn verbinden die grünen Korridore mit den Stadtquartieren der Nord- und Weststadt. An die Plätze schließt sich ein Wiesenbereich mit Gehölzgruppen und Obstgehölzen an.
Im Teilbereich Zu den Mühlen entstand ein repräsentativer Stadtplatz, der als Entrée in die Innenstadt Gießens dient. Der gärtnerisch gestaltete Mühlgarten wird zur Lahn hin durch eine Sitzkante abgeschlossen. Zusätzlich lässt ein geräumiges Holzdeck Besucher nah ans Wasser herantreten. Auch entstand in diesem Teilbereich ein ansprechender Kinderspielplatz auf 900 Quadratmetern. Durch diesen sanft zur Lahn abfallenden, terrassierten Spielplatz wird der bisher als Zäsur wahrgenommene Geländesprung beseitigt und die Lahn durch neue Sicht- und Wegebeziehungen wieder an die Stadt herangeführt.
Der Auenspielplatz besteht aus vier unterschiedlich gestalteten Spielterrassen, die jeweils typische Bestandteile einer Auenlandschaft abbilden. Auf der obersten Terrasse, der "Sandterrasse" mit großem Matschbereich, können die Kleinsten mit Wasser und Sand experimentieren. Auf der "Kiesterrasse" steht ein großes Klettergerüst, bestehend aus Eichenhölzern, die in der Anordnung an Treibholz erinnern. Die "Weidenterrasse" bildet den Bereich der Ufervegetation ab und lädt mit dichten Formationen von Weidensträuchern zum Verstecken und Herumtollen ein. Ein hölzerner Steg, der als Verbindungsweg barrierefrei durch den Spielplatz führt, dient gleichzeitig zum Sitzen und Sonnen. Der letzte Abschnitt, die "Wiesenterrasse", ist als Spielwiese mit Picknickplattformen ausgestaltet und leitet zum Uferbereich der Lahn über.
Durch diese bereits umgesetzten Maßnahmen erhalten die Bewohner Gießens sowie Besucher der Stadt einen Vorgeschmack, wie die Lahn zukünftig als integraler Bestandteil der Stadt wahrgenommen werden kann. Für Gießen ist mit diesem Rahmenplan Lahnaue sowie ersten gestalterischen Maßnahmen eine Aufwertung der Stadt vorgezeichnet. Nach dieser Initialzündung in 2014 wird die Umgestaltung des Stadtraumes weiterhin mit erheblichem Aufwand betrieben werden müssen. Die nächsten Abschnitte der städtebaulichen Neuordnung der Flüssestadt Gießen machen planungsrechtliche Anpassungen und neue Bebauungspläne erforderlich. Der Impuls, der von dem 2009/10 durchgeführten europaweiten Ideen- und Realisierungswettbewerb "Landesgartenschau Gießen 2014" ausgeht, ist also enorm. Denn das Ergebnis dieses Wettbewerbs war der Anlass, die Entwurfsplanung von uns in einen neuen Rahmenplan für die gesamte Lahnaue in Gießen zu überführen. Die Stadt wird als traditionsreiche "Universitätsstadt Kulturstadt Einkaufsstadt" mit dieser landschaftsarchitektonischen Rahmenplanung wieder an die Quellen ihres Wohlstandes und ihrer Entwicklung herangeführt. Der beidseitig der Lahn verlaufende, durchgängige Uferweg ist gestalterisches Kernelement und letztlich auch die Bewährungsprobe der Planung für das zukünftige Gießen an der Lahn.