Lebensmittel konvertieren zu essbarer Stadtmöblierung
Mobiles Gemüse in der Kiste
von: Michael ScheerLandwirtschaft ist auf dem Land und nicht in der Stadt. In der Stadt werden landwirtschaftliche Erzeugnisse konsumiert. Was sich historisch als selbstverständliche Verteilung von Orten der Produktion und des Konsums etabliert hat, scheint sich einer Veränderung zu unterziehen. Die Lebensmittelproduktion kehrt zurück in die Metropolen.
850 Urban Gardening-Projekte alleine in Deutschland, 120 Hektar geplante urbane Landwirtschaft in Paris. Mittlerweile lassen sich im deutschen Städtebau sogar Credit Points im Rahmen einer Nachhaltigkeitszertifizierung erzielen, wenn signifikante Flächenvolumen zur Umsetzung von Urban Farming-Konzepten vorgehalten werden. Und so wundert es nicht, wenn sogar Gewächshäuser wie selbstverständlich in Bebauungsplänen auftauchen, selbst wenn zu Beginn der Planungen noch gar nicht klar ist, wer die Flächen oder Architekturen später bewirtschaften wird. Man ist überzeugt, dass es sich findet. Und so wird es vermutlich auch kommen. Denn es scheint wie in stiller Absprache gesetzt: die Landwirtschaft kehrt zurück in die Stadt. Und sie bringt Stadtmenschen in direkten Kontakt mit den Lebensmitteln, die sie tagtäglich konsumieren.
Vielleicht sollte es zum jetzigen Zeitpunkt noch etwas angemessener formuliert werden: eine klein skalierte, jedoch sehr enthusiastisch betriebene Lebensmittelproduktion kehrt zurück in die Stadt. Das Wort Landwirtschaft wäre in dreierlei Hinsicht fehlangebracht. Weder die momentan angebaute Menge an Lebensmitteln trägt signifikant zur innerstädtischen Versorgung bei, noch sind die dabei Beteiligten qualifizierte Landwirt:innen. Und ebensowenig können die Erlöse aus den erzielten Erntemengen einen wirtschaftlich nachhaltigen Geschäftsbetrieb sicherstellen. Denn sowohl die konventionelle als auch die ökologische Landwirtschaft bewirtschaftet mit schwerem Gerät viele Hektar, um über die Runden zu kommen. Wo hingegen die 'Stadtwirtschaft', wenn die Jagd nach innerstädtischer Fläche positiv verlief, nur ein paar hundert Quadratmeter zur Verfügung hat und auf oftmals versiegelten Flächen oder toxikologisch bedenklichen Böden agieren muss.
Der Wunsch nach dauerhafter Nutzung innerstädtischer Flächen konkurriert stets und zunehmend mit innerstädtischer Verdichtung und schlussendlich immobilienwirtschaftlichen Interessen. Einige Enthusiasten wissen sich zwar durchzusetzen, jedoch werden sie oftmals nur temporär als Zwischennutzende toleriert. Wenn man so will, ist dieser Status Quo die Geburtsstunde des mobilen Hochbeetes. Als bewegliches Substrat, dass stets zu befürchten hat, umziehen zu müssen. Und als Pflanzenbehältnis, dass eine Bewirtschaftung zulässt, selbst wenn die Fläche versiegelt oder der Boden toxikologisch belastetet ist.
Das Hochbeet konvertiert zum ikonischen Sinnbild. Es steht für eine zunehmende Anzahl an Hochbeetbepflanzenden, die ihrem großstädtischen Wunsch Ausdruck verleihen, dass sich Anbaumethoden und Lieferketten der konventionellen Landwirtschaft ändern müssen. Es steht für die Sehnsucht nach grüner Stadtentwicklung und dem Drang nach partizipativer Stadtraumgestaltung. Viele Großstädter:innen möchten aktiv an einer Ernährungswende mitarbeiten und ihren urbanen Lebensraum stadtökologisch mitgestalten. Sie möchten wieder selbst in Kontakt sein mit der Herstellung von landwirtschaftlichen Erzeugnissen, selbst wenn die Ernte nur einen kleinen Anteil des Eigenbedarfs abdeckt. Auf dem Balkon oder im Rahmen einer Mitarbeit an einem Stadtgartenprojekt.
Urbane Agrikulturen haben das Hochbeet neu erfunden
Seit etwa 15 Jahren werden bundesweit innerstädtische (Grün-) Flächen von einer zunehmenden Vielfalt an Akteur:innen zusätzlich oder im Bestand neuartig erschlossen, gepflegt und multifunktional bespielt. Die große Anzahl an urbanen Agrikulturen stehen für diesen Trend, bei dem vorhandene oder neu gestaltete Flächen von sozialen Gemeinschaften nicht nur aufgesucht, sondern auch, und das ist städtebaulich neu, aktiv gestaltet, eigenwillig möbliert und vorwiegend mit essbaren und trinkbaren Nutzpflanzen begrünt werden. Es gilt dabei, Lebensmittel regional und saisonal herzustellen, ein Stück Stadtraum zu erobern, eine Grünfläche selbstständig zu entwickeln und sich auf diese Art mit dem 'eigenen' urbanen Lebensraum zu identifizieren. Im Rahmen dieser breiten und kraftvollen Bewegung sind ehrenamtliche und zum Teil gewerbliche Betriebsstrukturen beziehungsweise Wertschöpfungsketten entstanden, die projektbezogen Unterhalt, Verkehrssicherheit und Pflegeaufwand einer jeweiligen Fläche gewährleisten. Urbane Agrikulturen betreibende soziale Gemeinschaften rekrutieren sich traditionell aus ortsnahen Nachbarschaften, wobei sich auch neue Betriebsgemeinschaften, wie beispielsweise soziale Dienstleister oder Wohnungsbaugesellschaften, dazu gesellen. Ihnen allen ist es gemein, dass sie Teilnehmenden städtebauliche Mehrwerte wie umweltgerechten Zugang zu urbanem Grün, naturnahe Erholung, nachbarschaftliche Sozialisation, stadträumliche Gestaltung, gemeinwohlorientierte Handlungsspielräume oder inklusive Beschäftigungsmöglichkeiten bieten. Urbane Agrikulturen und die dahinterstehenden Gemeinschaften können auf diese Weise Quartiersentwicklungen stadtökologisch und soziologisch mitprägen und bieten neue Formen von Betriebs- und Finanzierungsmodellen, die sich von der kommunalen Grünflächenpflege abheben.
Die urbanen Agrikulturen haben sich zu einer Art Showroom für Lebensmittel entwickelt und marktwirtschaftliche Prinzipien sind ihnen in der Mehrheit erst einmal egal. Sie repräsentieren städtebauliche Mehrwerte für eine Stadtbevölkerung, die ihren Stadtraum nicht ausschließlich konsumieren sondern aktiv gestalten möchte. Das ist neu. Und für Traditionalist:innen im Städtebau oft nur schwer in den Griff zu kriegen.
Gemüse in der Kiste, was soll das denn?
Es wäre untertrieben zu behaupten, dass Landwirt:innen mit dem Kopf schütteln werden, Gemüse und Kräuter in ein paar Kisten anzubauen. Der Anbau in Hochbeeten birgt im Vergleich zum Anbau im Boden eine Vielzahl an gärtnerischen Nachteilen. Die Pflanztiefe ist gering, die Substratmenge begrenzt. Die darin sich befindenden Nährstoffe sind endlich und eine permanente Nachdüngung ist essentiell. Die Zuwanderung von Mikroorganismen oder Regenwürmern muss organisiert werden, nichts geschieht von alleine. Die Bildung einer natürlichen Humusschicht ist fast aussichtslos. Zudem ist das Substrat im Hochbeet sehr viel stärker Umweltschwankungen durch die zusätzliche Exponierung an vier Seiten ausgesetzt, unterliegt somit stärkeren Temperaturschwankungen und trocknet im Vergleich zum Erdreich sehr viel schneller aus. Es muss stets gewässert werden, ansonsten ist das Substrat nach kurzer Zeit betonhart. Die am häufigsten verwendeten Materialien beim Hochbeetbau sind Euro-Paletten, Paletten-Aufsetzrahmen und Euro-Normbehälter (die Bäckerkiste) und sie sind allesamt nicht für einen Einsatz als Hochbeet konzipiert worden.
Nach ein paar Jahren Einsatz tragen Niederschläge, Frost, UV-Strahlung, Bakterien, Insekten und Wurzelwerk zu ihrem unabwendbarem Verfall bei. Warum also haben sie sich so dermaßen breit und schnell im Stadtraum durchgesetzt? Ganz einfach, weil sie gerade da und erst einmal ganz praktisch und günstig waren. Und weil sie durchaus ein paar Jahre halten. Diese neue Form der städtischen Bepflanzung wurde nicht betriebswirtschaftlich geplant. Sie wurde von Laien umgesetzt, die sich sukzessive professionalisiert haben, die sich durch ihr Machen auszeichnen und einfach das genommen haben, was man gerade kriegen konnte. Und das ist das ganz Entscheidende, denn Innovation zeichnet sich durch Handeln und Tüfteln aus. Sie sind Pioniere und städtebaulich betrachtet 'zarte Pflänzchen', die auf überraschenderweise Art und Weise durchhalten.
Denn trotz aller gärtnerischen Nachteile bringt der Anbau in Hochbeeten auch Vorteile, insbesondere wenn es gilt, Bepflanzungen auf versiegelten innerstädtischen Flächen vorzunehmen.
Palettenhochbeete können ganz einfach per Lkw und Hubwagen auf innerstädtischen Parkplätzen, asphaltierten Straßenzügen, in Einkaufsmeilen oder auf öffentlichen Plätzen positioniert werden.
Selbst wenn dies nur zeitlich befristet sein sollte und die Beete nach ein paar Wochen wieder abgefahren werden müssen. Denn die Stadt muss sich im anscheinend unumkehrbarem Wachstumsprozess gerade neu erfinden. Und bauen. Ganz plötzlich verlangen Kommunen, Marketing-Strategen, Verkehrsplaner:innen, Landschaftsarchitekt:innen und Kulturschaffende nach zeitgenössischen Produkten und Dienstleistungen zur Umsetzung von grünen Innenstädten.
Sei es im Rahmen der 'Essbaren Stadt' oder bei der (temporären) Stilllegung von Straßenzügen oder Parkplätzen. Stadtökologische Probleme wie die Entstehung von Hitzeinseln, der Bedarf an grünen Lösungen zur Attraktivierung deutscher Innenstädte oder im Rahmen der Push- und Pull-Methoden zur Verdrängung des Autoverkehrs aus zentralen Lagen sind allesamt Katalysatoren für neue Produkte und Dienstleistungen des urbanen Gartenbaus. Das mobile Hochbeet bietet trotz aller technischer Unausgereiftheit hier ganz konkrete Lösungen. Denn nun geht es nicht mehr nur um den Anbau von Lebensmitteln, sondern auch um urbane Aufenthaltsqualitäten. Es geht um landwirtschaftliche Stadtraumgestaltung. Oder vielleicht trefflicher formuliert um 'stadtwirtschaftliche' Stadtraumgestaltung.
Von der Land- zur Stadtwirtschaft
Landwirt:innen konvertieren zu Stadtwirt:innen? Zu einem Beruf, den es eigentlich noch gar nicht gibt? Zumindest steht dieser bislang in keiner Handwerksrolle. Der Job, wenn man denn von einem solchen sprechen will, hat sich selbst generiert. Weil Stadtmenschen ihn machen wollen. Und selbst dann, wenn sich damit nicht oder noch nicht der eigene Lebensunterhalt bestreiten lässt. Klingt vielleicht desillusionierend, ist aber auch gut. Denn der Wunsch und Wille ist erst einmal nicht Teil von Wertschöpfung sondern Ausdruck von Wandel. Die Aufgaben sind hochkomplex und reichen vom Gemüseanbau bis zur Pressearbeit. Es gilt erst einmal, Wertschöpfungsketten zu erkennen und im Rahmen ganz neuer Bedarfszusammenhänge zu erfinden.
Sicherlich spielt der urbane Gartenbau zukünftig dabei eine ganz tragende Rolle. Denn es braucht definitiv Erwerbsarbeit, damit sich eine Lebensmittelproduktion nachhaltig in der Stadt durchsetzen kann. Nur wie kann dies gelingen, wenn die innerstädtischen Anbauflächen vermutlich stets zu klein bleiben werden und logischerweise die Erlöse ausschließlich aus dem Anbau von Obst, Gemüse und Kräutern alleine nicht ausreichen?
Einige urbane Agrikulturen haben sich auf den Weg gemacht, ihre hochindividuellen 'stadtwirtschaftlichen' Businesspläne auszufeilen und haben Finanzierungsmodelle entwickelt, die Geschäftsfelder wie Jungpflanzenverkauf, Gemüsekisten, Gartengastronomie und Hochbeetbau sowie soziale und bildende Dienstleistungen umspannen. Hinzu kommen oft auch Fördermittel, die befristete Anstellungsverhältnisse und grundlegende Investitionen ermöglichen. Investoren tragen ihren Teil dazu bei, indem sie innerstädtische Flächen, Architekturen oder ganze Produktionsmodelle (bspw. im Rahmen des Indoor-Farming oder bei Aquaponik-Modellen) vorfinanzieren und auf deren mittelfristigen wirtschaftlichen Erfolg setzen.
Alles wird in diesem Segment gerade neu erfunden, von der Gestaltästhetik über die Wertschöpfung bis hin zur Materialkunde und Betriebstechnologie. Es gibt bislang noch keine finalen Antworten und sicherlich ist der Wunsch nach Finalität zum jetzigen Zeitpunkt fehlangebracht. Klar scheint zu sein, dass weder die konventionelle Landwirtschaft noch der klassische Gartenbau bei dieser Entwicklung eine führende Rolle einnehmen werden. Und klar ist, dass der Karotte im Hochbeet im Städtebau nicht nur eine ernährende Rolle zukommt. Es ist schlichtweg eine neue Idee und neues geistiges Substrat. Dahinter stehen Meinungen und Haltungen, die es bislang so noch nicht gab. Wir werden uns sicherlich und zum Glück noch wundern, wohin das führt.