Transparenz und Crossmedialität bei 90 Beteiligungsverfahren
Digitale Partizipation bei Wohnungsgesellschaft
von: Robert SchmaußDie größte hessische Wohnungsgesellschaft, die Unternehmensgruppe Nassauische Heimstätte | Wohnstadt, nutzt bei Beteiligungsverfahren digitale Werkzeuge - sowohl in der Stadtentwicklung als auch in der Mieterkommunikation.
"Erfolgreiche Bürgerbeteiligung ist transparent, ergebnisoffen, crossmedial, nah am Anwohner und geht mit einer konkreten Fragestellung an den Start." So formuliert Monika Fontaine-Kretschmer, Geschäftsführerin der Unternehmensgruppe Nassauische Heimstätte | Wohnstadt (NHW), das Credo des hessischen Marktführers im Bereich Stadtentwicklung in Bezug auf eine dialogische Planung. Dabei entwickeln Bürger, Politiker und Experten in einem iterativen Prozess, ähnlich einem kontinuierlichen Frage- und Antwortspiel, städtebauliche Lösungen und konkretisieren diese im Verlauf des Verfahrens. Die ProjektStadt - unter dieser Marke bündelt die NHW ihre Stadtentwicklungskompetenzen - setzt in diesem Kontext zunehmend auch auf Internet-Beteiligungsformen. Sie werden ergänzend zu Stadtrundgängen, Workshops und Bürgerversammlungen eingesetzt.
"Die Ergebnisse mit digitalen Formaten sind sehr vielversprechend", fasst Fontaine-Kretschmer die bisherigen Erfahrungen zusammen. Analoge Partizipation bleibe wichtig, ihre Reichweite lasse sich jedoch mit interaktiven Instrumenten um ein Vielfaches erhöhen. "Wir sehen uns in der Verantwortung, eine Verschiebung der Beteiligungsvorgänge voranzutreiben und neue Werkzeuge zu entwickeln. Damit erweitern wir unsere Möglichkeiten, Bürgerinnen und Bürger in Planungsprozesse einzubinden, um ein entscheidendes Medium", so die Geschäftsführerin weiter. Allein 2019 hat die ProjektStadt 90 Bürgerbeteiligungen auf die Beine gestellt - 45 davon, um die Entwicklung Integrierter Städtebaulicher Entwicklungskonzepte zu forcieren.
SUG-Stellenmarkt
Interaktion auf verschiedenen Ebenen
In Zeiten der Pandemie allerdings geraten in vielen Kommunen Planungen und Projekte ins Stocken, da die notwendige und oft auch gewünschte Beteiligung der Bevölkerung schlichtweg nicht realisierbar ist. Aufgrund anhaltender Kontaktbeschränkungen und Lockdowns verbieten sich Bürgerversammlungen, Diskussionsveranstaltungen, Foren, Workshops und Stadtteil-Spaziergänge. Die Wetterau-Stadt Friedberg hingegen kam dank digitaler Partizipation dennoch einen großen Schritt weiter. Dort ersetzte eine Online-Plattform ein Bürgerforum, das der Pandemie zum Opfer gefallen war. Denn auch in Corona-Zeiten sollten die Anwohner in die Arbeit am Konversionskonzept für die ehemalige amerikanische Militärsiedlung Ray Barracks einbezogen werden. 116 Ideen, 109 Kommentare und 186 Bewertungen sind das Ergebnis von www.friedberg-mitmachen.de.
Bürgermeister Dirk Antkowiak bewertet die große Resonanz sehr positiv: "Das ist ein wertvoller Input für die weiteren Planungen und zeigt, dass den Bürgern die Zukunft unseres Kasernengeländes am Herzen liegt. Durch ihr Mitwirken machen sie den Planungsprozess zu einem lebendigen Dialog."
Musikliebhabern ist Friedberg als die Stadt bekannt, in der der King of Rock 'n' Roll, Elvis Presley, seinen Militärdienst leistete. Seit dem Abzug der amerikanischen Soldaten im Jahr 2007 liegt jenes Areal im Süden der Kreisstadt brach. Mit seinen 74 Hektar bietet das Gelände jedoch viel Potenzial, das die Kommune nun entfalten will. Deshalb hatte sie die Bauland-Offensive Hessen (BOH) mit einer Machbarkeitsstudie beauftragt. Die ehemaligen Ray Barracks sollen sich in ein gemischt genutztes Quartier verwandeln. Vor allem bezahlbarer Wohnraum soll dort entstehen - zudem ein Elvis-Presley-Museum, Einzelhandel, ein neuer Feuerwehr-Stützpunkt, Kindertagesstätten, eine Grundschule, eine Sporthalle und der Campus der Technischen Hochschule Mittelhessen. Im Oktober vergangenen Jahres startete der Prozess mit einem "Tag der offenen Kaserne", bei dem erste Anregungen aus der Bevölkerung gesammelt wurden. Diese Vorschläge und weitere eigene Ideen strukturierten die Fachleute in den folgenden Monaten und verdichteten sie zu einem städtebaulichen Rahmenplan.
Modular aufgebautes Werkzeug
Marius Reinbach, Projektleiter der ProjektStadt: "Die Zahlen belegen, dass trotz Corona und Kontaktbeschränkungen ein virtueller Dialog zwischen Stadt und Bürgerschaft entstanden ist." Das Team entwickelte gemeinsam mit der Verwaltung zusätzliche, analoge Mitmachmöglichkeiten - wie etwa die Nutzung städtischer Litfaßsäulen und die Schaltung eines Anrufbeantworters. Dank ihres Partners, der "wer denkt was GmbH" aus Darmstadt, konnten die Stadtentwickler innerhalb von vier Wochen Konzeptions- und Entwicklungszeit die interaktive Webseite www.friedberg-mitmachen.de ins Netz stellen.
14 Tage lang hatten die Bürger Gelegenheit, sich anzumelden und Vorschläge sowie Anmerkungen für das ehemalige Kasernenareal einzugeben. Kernstück der Internet-Befragung ist das sogenannte Crowdmapping. Auf dem digital hinterlegten Rahmenplanentwurf konnten die Nutzer Marker setzen, Ideen formulieren, kommentieren und mit anderen Interessenten diskutieren. Zudem sind auf der Plattform die wesentlichen Informationen über das Vorhaben, das Gelände und den bisherigen Prozess dargestellt.
"Digitale Lösungen benötigen Vorbereitung", sagt Theresa Lotichius, Geschäftsführerin der "wer denkt was" GmbH, "mit einem passgenauen Konzept und einer guten Öffentlichkeitsarbeit, vor allem seitens der Kommune, lassen sich derart hohe Beteiligungszahlen erreichen." Darüber hinaus sei die Flexibilität der Verwaltung von großem Vorteil gewesen.
Transparenz als oberstes Gebot
Über den Erfolg einer interaktiven Bürgerbeteiligung entscheiden viele Parameter. Markus Eichberger, Leiter des Unternehmensbereichs Stadtentwicklung der NHW: "Zunächst einmal fordern die Nutzer*innen vollständige Klarheit bezüglich des Ablaufs. Sie wollen heute nicht mehr nur wissen, was entschieden wird, sondern auch, wie dies zustande kam." Die Menschen seien oft erst dann bereit zur aktiven Teilnahme, wenn sie die Beteiligungs- und Rückkopplungsmöglichkeiten im Verlauf des Verfahrens genau kennen. Noch wichtiger aber sei die Dokumentation des Prozesses: Es muss nachvollziehbar sein, wie die bisherigen Ergebnisse entstanden sind. Eichberger: "Fachleute sprechen dabei von einem sogenannten Beteiligungsgedächtnis."
"Wir verstehen die Erarbeitung eines städtebaulichen Konzepts als einen dialogischen Planungsprozess, in den die Bürger, lokale Organisationen und Verbände in einem iterativen Ablauf von Anfang an intensiv eingebunden sind. Anwohner, Initiativen und Vereine bringen ihre Vorschläge vor Ort ein - aber eben auch digital. Die Planer bewerten, überarbeiten und verdichten diese, bereiten sie auf und stellen sie erneut zur Diskussion", erläutert Marius Reinbach (siehe Interview auf Seite 32/33). Weiterer Vorteil: Ist eine solche Internetseite erst einmal konfiguriert und online, lässt sie sich bedarfsgerecht und mit überschaubaren Kosten nach dem Baukasten-Prinzip um zusätzliche Module erweitern.
Trotz der gewünschten Offenheit von derartigen Beteiligungsformaten im Web - ein gewisses Maß an Verbindlichkeit ist nötig. "In Friedberg und in anderen Städten haben wir eine sehr niederschwellige Registrierung mit einer E-Mail-Adresse vorgeschaltet", berichtet Reinbach. Die elektronische Anschrift sei schon deshalb sinnvoll, weil Bürgerinnen und Bürger sich nicht immer ganz klar ausdrücken - so können die Stadtentwickler per Mail kurz nachfragen. Zudem sei die Hemmschwelle, unerwünschte Beiträge oder beleidigende Kommentare abzugeben, so deutlich höher. Insgesamt aber, so die Erfahrungen, seien die Menschen auf solchen Plattformen sachorientiert, sehr ernsthaft und konstruktiv unterwegs.
Wenn die Kommune sich eine möglichst breite Debatte zum Ziel gesetzt hat, sollte sie immer mehrere Partizipationsformate gleichzeitig umsetzen - "sie potenzieren sich gegenseitig". Zur Beteiligungsarchitektur bei größeren und länger anhaltenden Prozessen empfiehlt es sich heute, zusätzlich auch ein begleitendes Fachgremium einzusetzen. Dieser Rat setzt sich zusammen aus Initiativen, Vereinen sowie Verbänden und begleitet inhaltlich und verfahrenstechnisch den gesamten Ablauf. In jedem Fall aber sollte die Bürgerbefragung ergebnisoffen sein, die eingebrachten Ideen und Anregungen sollten sorgsam und transparent fachplanerisch geprüft werden, um auch tatsächlich in die Planungen einfließen zu können. "Beteiligung, die als Feigenblatt herhalten soll, frustriert die Bewohner und erschwert zukünftige Aktivitäten", stellt Reinbach klar.
Mieterversammlung im Live-Stream
Nicht nur in der Stadtentwicklung leistet das Internet in Pandemie-Zeiten wertvolle Dienste. Im Frankfurter Stadtteil Sachsenhausen stockt die NHW auf vorhandene Wohngebäude in der Fritz-Kissel-Siedlung ein bis zwei zusätzliche Stockwerke in Holzmodul-Bauweise auf. 82 neue Wohnungen sollen auf diese Art in citynaher Lage entstehen. Wolfgang Koberg, Leiter des zuständigen NHW-Servicecenters, erläutert: "Wir wollen unsere angestammten Mieter bestmöglich informieren und ein Meinungsbild erhalten."
Daher schaltete das größte hessische Wohnungsunternehmen im August eine eigens eingerichtete Webseite frei: www.fritz-kissel-siedlung.de. Über einen Link konnten die Bewohner an zwei virtuellen Mieterversammlungen teilnehmen. Die Live-Streams verfolgten im Schnitt rund 50 Personen, die sich auch aktiv am Diskussionsprozess beteiligten und zahlreiche Fragen stellten. Die Möglichkeit, die Aufzeichnungen nachträglich anzusehen, nutzten weitere knapp 100 Personen. Holger Lack, Leiter des Regionalcenters Frankfurt: "Wir haben eine sehr gute Alternative gefunden und eine große Zahl der betroffenen Bewohner erreicht."
Während der Veranstaltungen war es möglich, Anliegen direkt online einzusenden. "Erwartungsgemäß drehten sich die meisten Mails um den Ablauf der Baumaßnahmen, um zu erwartende Einschränkungen und Lärm sowie die Frage, inwieweit sich diese Arbeiten auf die Mieten auswirken." Die Servicecenter-Mitarbeiter hatten auf alles eine Antwort. Viele der Informationen finden sich jetzt auch auf der Webseite unter der FAQ-Rubrik. Beispiele: Durch die Modulbauweise kann die NHW die neuen Stockwerke schnell errichten. Die Bewohner profitieren sogar von einigen Maßnahmen: Im Zuge der Aufstockung lässt die Wohnungsgesellschaft die Fassaden streichen sowie Wohnungstüren und Abwasserleitungen erneuern. Und natürlich, so hebt Koberg hervor: "Der Quadratmeterpreis für unsere Mieter ändert sich nicht."
Interview mit Marius Reinbach, Projektleiter der ProjektStadt, über passende Formate und die Voraussetzungen, die eine Bürgerbeteiligung zu einem guten Ergebnis führen.
Stadt+Grün: Herr Reinbach, wie können Bürgerinnen und Bürger eingebunden werden?
Marius Reinbach: Der Grundsatz lautet: Nicht die Bürgerschaft muss zur Beteiligung kommen, sondern die Beteiligung zur Bürgerschaft. Da das Publikum der Stadtgesellschaft vielfältiger wird, sollten die Bewohner über verschiedene Kanäle und Medien angesprochen werden - erfolgreiche Partizipation arbeitet also mehrstufig und crossmedial. Und sie ist zugleich aufsuchend: Gegen eine klassische Bürgerversammlung von 19 bis 21 Uhr ist nichts einzuwenden, sie stellt aber nur einen möglichen Baustein dar. Wenn Sie hingegen am Samstagmorgen mit einem Stand in der Fußgängerzone stehen oder einen Aktionstag durchführen, sprechen Sie eine andere Klientel an und erhalten so deutlich mehr und zudem verschiedenartige Ergebnisse. Digitale Plattformen eröffnen - im Vergleich zu herkömmlichen Formaten - Zugang zu neuen Zielgruppen. Speziell Jüngere, aber auch die Generation zwischen 30 und 40, die wegen Kindern und Job nicht drei Stunden lang eine Veranstaltung besuchen können, fühlen sich so besser angesprochen.
Stadt+Grün: Welche Inhalte sind gefragt?
Reinbach: Am Anfang eines Planungsverfahrens kann die Stadt oder die Gemeinde innerhalb spezifischer Grenzen schon einmal allgemein die "Wünsch dir was"-Frage stellen, um zu sehen, was die Bewohner bewegt. Dadurch öffnet sich ein Themenspeicher, der recht gut alle Problemfelder umfasst. Nach einer solchen, eher allgemeinen Fragestellung muss die Kommune sich dann auf Einzelthemen fokussieren.
Stadt+Grün: . . . und konkreter werden?
Reinbach: Genau - das ist äußerst wichtig! Egal, ob es sich um eine Veranstaltung vor Ort oder ein Online-Format handelt, der Beteiligungsgegenstand sollte eindeutig definiert sein. Es muss für den Bürger absolut transparent sein, wie die Planung aussieht, was die Stadtentwickler von ihm wissen wollen und welchen Einfluss all dies auf die folgenden Abschnitte und auf den gesamten Prozess hat. Deshalb sollten die Verantwortlichen auch immer die Beteiligungsarchitektur nachvollziehbar gestalten - und sich möglichst durchgängig daranhalten.
Stadt+Grün: Wie viel Bürgerbeteiligung sollte eine Kommune einplanen?
Reinbach: Nach unseren Erfahrungen empfiehlt es sich, zunächst die Anregungen aufzunehmen, fachplanerisch abzuwägen, um sie nach Prüfung im besten Fall in das Konzept zu integrieren. Im nächsten Schritt erfolgt dann die Rückkopplung an die Bürgerinnen und Bürger. So sollte ein iterativer, dialogischer Planungsprozess aussehen. Sehr gute Ergebnisse haben wir mit einer Kombination aus Präsenzveranstaltungen (Workshops, Werkstätten, Spaziergängen) und interaktiven Internet-Werkzeugen erzielt: Die Resultate pflegen wir in die Webseite ein, die Anwohner können sie so gleich kommentieren oder konkretisieren. Allerdings funktionieren digitale Formate alleine nicht besonders gut, auch wenn das in den aktuellen Corona-Zeiten manchmal unumgänglich ist. Der persönliche Kontakt ist nach wie vor sehr wichtig. Überhaupt sollten immer mehrere Kanäle genutzt werden. Es kommt eben darauf an, die jeweils richtigen und das passende Maß zu finden. Man darf die Bürgerschaft auch nicht überfordern.
Stadt+Grün: Was sind die größten Fehler, die eine Verwaltung machen kann?
Reinbach: Zu wenig Kommunikation und mangelnde Transparenz. Nehmen wir an: Bürgerinnen und Bürger haben vor vier Monaten etwas eingebracht, heute sieht die Planung aber ganz anders aus. Wenn die Verwaltung jetzt nicht erläutert, warum sie zu diesem neuen Ergebnis gekommen ist, dann frustriert das die Menschen. Solche Entwicklungsprozesse sind immer mit einem erheblichen und kontinuierlichen Kommunikationsaufwand verbunden.
Stadt+Grün: Was sind Ihre Erfolgskritierien für Partizipation?
Reinbach: Die Kunst ist es, die Leute so anzusprechen, dass sie über ihre persönlichen Interessen hinaus auch das große Ganze sehen. Besonders erfreulich ist für mich, wenn Bürger sich auf Perspektivwechsel einlassen und sich dadurch ihre eigene Meinung relativiert. Dann entstehen lebendige Diskussionsprozesse, die dazu führen, dass alle beteiligten Gruppen die Sichtweise anderer nachvollziehen können und eventuell umdenken. Nur so kann die Kommune einen Konsens für ihre Planung erzielen.