Vom „Brot der Armen“ zur Delikatesse, Teil I
Castanea sativa - Baum des Jahres 2018
von: Dipl.-Ing. Renate ScheerWandert man durch die Dörfer des Odenwalds, entdeckt man sie in Gärten, auf Wiesenflächen und natürlich in den Weinbergen. Wird sie durch keinen Baumnachbarn eingeengt, breitet sie ihre wohlgeformte Krone mit den dunkelgrünen "spitzigen" Blättern in alle Richtungen aus. Trifft man sie zur Blütezeit, hat sie sich über und über mit weiß-gelblichen Kätzchen geschmückt. Den von manchen Autoren beschriebenen unangenehmen Geruch habe ich nie so empfunden. Bereits im Sommer lässt sich der Fruchtansatz deutlich erkennen, und beim herbstlichen Wiedersehen bieten die zwischen den Blättern eingebetteten stacheligen "Kugeln" ein lohnendes Fotomotiv. Diese Herbstspaziergänge dehnen sich aus: Schließlich möchte man einige der glänzenden dunkelbraunen Nussfrüchte mit nach Hause nehmen.
Seit rund 2000 Jahren dürfen auch wir "Nordländer" uns an dieser Köstlichkeit erfreuen: Griechen und Römer verbreiteten sie, letztere bis nach Großbritannien. Die Heimat der Kastanie ist - wie bei den meisten der lange in Kultur befindlichen Pflanzen - nicht ganz eindeutig einzugrenzen.
Entstehung des Namens
Bevor sich der Blick der Herkunft zuwendet, soll die Entstehung des Namens besprochen werden. Kastanie leitet sich vom lateinischen Wort castanea ab, das auf das griechische kastanon zurückgeht. Weitere griechische Bezeichnungen für die Frucht sind zum Beispiel kastaneion, kastanaïkon oder auch karya. Der antike Name vermischt sich mit demjenigen anderer hart- und glattschaliger essbarer Früchte, wie denen von Eiche (vermutlich Quercus aegilops, Walloneneiche) und Walnuss.
Im Armenischen lautet die Bezeichnung für die Ess-Kastanie kaskeni und für die Frucht kask, wobei zu berücksichtigen ist, dass im Altarmenischen das Wort kask nicht vorkommt. So könnte sowohl das griechische kastanon als auch das armenische kaskeni aus einer vorgriechischen ägäischen Sprache stammen. Im Althochdeutschen hieß sie chestina und seit dem 11. Jahrhundert wird sie chesten genannt. Ähnliche Formen findet man auch heute noch in vielen Regionen: Im Alemannischen zum Beispiel spricht man von der Käschte oder Keschta und der Kastanienwald ist das Keschtaholz. Zur Unterscheidung von der Rosskastanie wurde sie als Zahme oder Söte Kastanie (letzteres niederdeutsch) und in der Pfalz als Eßkeschde bezeichnet (Marzell, 1943; Genaust, 1989). Im Französischen ist sie die châtaigne, altfranz. chastaigne von dem das mittelhochdeutsche Wort castâne entlehnt ist. Auf die ausgedehnten Kastanienwälder führt auch die 1138 als Castinetum bezeichnete Stadt Châtenois - am Fuße der Vogesen - ihren Namen zurück.
Die Redensart "für jemanden die Kastanien aus dem Feuer holen", also eine unangenehme Aufgabe übernehmen, geht auf die Fabel "Der Affe und die Katze" (1668) von Jean de la Fontaine zurück, in der der Affe die Katze überredet, die Kastanien aus dem Feuer herauszuklauben.
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Arealgeschichte
Fossile Funde von Castanea-Arten wurden aus dem westlichen Nordamerika, Alaska und Nordkanada sowie aus Europa, Japan und Sachalin beschrieben. Für Mitteleuropa sind fossile Funde vor allem aus dem jüngeren Tertiär, besonders dem Pliozän belegt (Hegi, 1957).
Während des Endabschnittes des Pliozäns, im Reuver¹, herrschten sommergrüne, mit Nadelhölzern durchsetzte Laubwälder, für die auch Castanea belegt ist. Im darauf folgenden Prä-Tegelen-Glazial wurden diese Wälder durch einen Kälteeinbruch verdrängt. In der nachfolgenden Warmzeit, dem Tegelen-A-Interglazial², erreichten diese "tertiären" Gehölze in den sich wieder ausbreitenden Wäldern nur noch maximal 5 Prozent; Castanea kommt sowohl hier als auch in dem folgenden Waal-Interglazial vor.
Der Wandel zu relativ artenarmen Interglazialwäldern hat sich wahrscheinlich bereits im ersten Interglazial des Pleistozäns vollzogen. Dabei müssen allerdings die verschiedenen Regionen Europas getrennt betrachtet werden, denn Süd- und besonders Südost-Europa zeigen sich wesentlich artenreicher als Nord- und Nordwest-Europa. Dieses Gefälle entstand während des Quartärs allmählich, indem von Interglazial zu Interglazial einzelne Arten in immer geringerem Maße aus ihren Refugien nach Norden und Nordwesten vordringen konnten (Lang, 1994).
Während der letzten Kaltzeit des Jungpleistozäns, der Weichsel-Eiszeit (115.000 bis ca. 10.000 v. Chr.), konnten Gehölze die kältesten Stadien nur in sehr kleinen weit verstreuten und voneinander isolierten Populationen überdauern. Die folgenden Regionen kommen als Rückzugsgebiete infrage:
- die iberische und italienische Halbinsel,
- der südöstliche Balkan und das nordwestliche Anatolien,
- das Gebiet südlich des Kaukasus.
Für möglich erachtet werden auch Sizilien, Korsika sowie der Westrand Frankreichs (Lang, 1994).
Natürliche Verbreitung
Castanea ist eine häufige Baumart des sogenannten "kolchischen Waldtyps". Dieses Vegetationsgebiet mit ganzjährig gleichmäßigen und hohen Niederschlägen (2500 mm/a) erstreckt sich entlang der Schwarzmeerküste zwischen Suchum und Batum. Weitere Regionen, in denen sie vermutlich wild vorkommt, sind Kleinasien bis zu den Nordiranischen Gebirgen, eventuell Teile des Mittelmeergebietes sowie das nördliche Syrien und die Nordbereiche des Atlas. Als Nordgrenze des natürlichen Verbreitungsgebietes gelten die Pyrenäen und der Alpensüdrand, weiter die Gebirge Bosniens, die Rhodopen und der Kaukasus (Hahn, 2004). Engler kam ". . . zu dem Schluss, dass Castanea sativa nördlich der Alpen sowie im Bereich der Alpen einschließlich deren Südabdachung nirgends ursprünglich ist, sondern nur in Spanien, Südfrankreich, auf der Apenninen- und der Balkanhalbinsel" (Hegi, 1957, S. 214). In ihren warmen, sommertrockenen Heimatarealen gedeiht sie in Schluchtwäldern der unteren Waldstufen, in höheren Lagen tritt sie bestandsbildend an schattigen Hängen auf.
Im östlichen Verbreitungsgebiet gibt es drei Areale mit jeweils einheitlichem Genpool:
- in Griechenland,
- in der Nordost-Türkei,
- im Bereich der türkischen Mittelmeerküste.
Genetische Untersuchungen bestätigen frühere Annahmen, dass alle europäischen Bestände der letzten 2000 Jahre, außer den griechischen, mit kleinasiatischen Pflanzen begründet wurden (Wikipedia).
Standort
Die Esskastanie ist vor allem in der kollinen und submontanen Vegetationsstufe anzutreffen, wobei die südlicheren Vorkommen bis 1400 bis 1500 Meter (Peleponnes, Türkei) hinaufsteigen. Sie bevorzugt mittel- bis tiefgründige, mäßig trockene bis sickerfrische, mineralkräftige Stein- und Lehmböden, die durchlässig sein müssen: Sauerstoffmangel verträgt die Kastanie nicht. Sie ist kaliumbedürftig und phosphorliebend, meidet aber Kalk. Sommerwarme, wintermilde und luftfeuchte Lagen mit Jahresniederschlägen von 600 bis 1600 mm/a sowie Jahresmitteltemperaturen von 8 bis 15 Grad Celsius sagen ihr besonders zu, wobei die Temperatur in mindestens sechs Monaten über 10 Grad Celsius liegen sollte. Sie reagiert empfindlich auf Früh- und Spätfröste sowie Sommerdürre (Hahn, 2004; Wikipedia).
Verbreitung durch den Menschen
Die Kultivierung als Fruchtbaum begann zwischen dem 9. und 7. Jahrhundert v. Chr. vermutlich im Gebiet zwischen Kaspischem und Schwarzem Meer. Die edleren Früchte fanden schnell Verbreitung, Plinius beschreibt Kastanien aus Sardes (heute Türkei), die als "sardische Eicheln" bezeichnet wurden (N. H., XV). Breiten Raum nimmt die Edelkastanie im ägäischen Küstengebiet ein (Euböa, Chalkidike und besonders auf der Athos-Halbinsel), soweit dieses zur Quercion frainetto-Zone gehört. Bei diesen griechischen Beständen wurde vielfach davon ausgegangen, dass sie einheimisch seien beziehungsweise die Kastanie wenigstens vereinzelt in den Eichen-Mischwäldern natürlich vorgekommen sei. Diese These wird seit einiger Zeit bezweifelt. Die Küsten waren die Bereiche, wo die Griechen ihre ersten Handelsniederlassungen begründeten, so im vierten Jahrhundert v. Chr. auch in Dalmatien; zum Schutz gegen die Illyrer riefen sie das römische Militär zu Hilfe, das die Illyrer um 228 v. Chr. besiegte.
Mit der sich nun rasch ausbreitenden Besiedlung veränderte sich die Landschaft. Neben Roggen, Hanf und Walnuss spielte Castanea sativa eine wichtige Rolle. Vor allem die Römer setzten sich für einen großflächigen Anbau und die Veredlung des vielseitig nutzbaren Baumes ein (Horvat et al., 1974). Mit der Ausdehnung des römischen Reiches "eroberte" die Kastanie nach und nach weitere Gebiete: Die Eichenmischwälder der Tieflagen des Südalpenrandes der Schweiz wurden während der Römerzeit oder im Laufe des Mittelalters in Edelkastanien-Niederwälder umgewandelt, die als "Palinen" die Pfähle für den Weinbau lieferten. Auf den besseren Standorten, wo neben den Eichen wahrscheinlich Esche und Schwarzerle die von Natur aus herrschenden Baumarten bildeten, wurden hochstämmige Kastanienhaine angelegt (Ellenberg & Leuschner, 2010). Die Esskastanie spielte während des Mittelalters und der frühen Neuzeit eine wichtige Rolle in den Tälern des Tessins. Einer der schönsten und größten Kastanienwälder Europas ist der Brentan, der sich von Soglio nach Castasegna hinunterzieht.
Nördlich der Alpen wächst die Edelkastanie angepflanzt in milden Lagen der Schweiz, des Elsass, in West- und Südfrankreich und hat sich selbst in Großbritannien etabliert (Guggenbühl, 1963).
In Deutschland findet man größere Vorkommen am Westabhang des Schwarzwaldes und in der Pfalz, im Mosel-, Saar- und Nahetal sowie an dem Mittelgebirgszug der Haardt. In Hessen begegnet man ihr im Odenwald, größere waldartige Bestände gab es aber nur im Vordertaunus, im Rheingau und an der Bergstraße. Alte Gemarkungskarten dokumentieren, dass noch bis Anfang des 20. Jahrhunderts viele Ortschaften von Kastanienhainen umgeben waren (Bouffier, 2004). Sie umkränzten auch Heidelberg, wie der Geheime Hofrath Hausrath 1921 anschaulich beschreibt: "Das Landschaftsbild Heidelbergs, wie es einst Goethe schaute, . . . trug . . . einen ausgesprochen südlichen Zug. Hervorgerufen wurde er durch die zahlreichen alten Ess-Kastanien mit ihren mächtigen runden dunklen Kronen . . . , die bis dicht vor die Tore der damals noch kleinen Stadt Vorberge und Hügel bedeckten" (zitiert in Bouffier, 2012, S. 212/3). Castanea hat sich im Bonner Raum eingelebt und gelangte im Hochmittelalter bis in das norddeutsche Flachland.
Einmal eingeführt, erkannte man schnell den vielseitigen Nutzen dieses schönen Baumes:
Der Langobarden-König Rothari (um 606-652) führte die Kastanie in seiner Liste der geschützten Bäume, und selbstverständlich findet man sie in dem Capitulare de villis vel curtis imperii (812 n. Chr.), der Landgüterverordnung Karls des Großen in der, sofern klimatisch möglich, der Anbau von castanearios angeraten wird. Hildegard v. Bingen (1098-1179) empfiehlt ihre Früchte allgemein zur Kräftigung, Albertus Magnus (um 1200-1280) kennt sie, und Konrad von Megenberg (1309-1374) vergleicht in seinem "Buch der Natur" (ca. 1349-1350) das Aussehen des kestenpaums mit dem der puoch (Buche). Schon Jahrhunderte früher beschrieb Plinius der Ältere (um 24-79 n. Chr.) sie in der Naturalis Historia (N. H. ca. 77 n. Chr.), und auch Vergil (70 bis 19 v. Chr.) wusste ihre Früchte zu schätzen.
Nutzung: Früchte
"Aber du kannst ja bei mir die Nacht hier pflegen des Schlummers. Auf grünlaubigem Lager: da sind mildschmeckende Äpfel, weiche Kastanien auch, und gefestete Milch zur Genüge" (Vergil, Bucolica, ecl. 1, Vers 79 ff.).
Zu den honiggelben Kernen vorzudringen, ist nicht ganz einfach, wie bereits Plinius zu berichten weiß: ". . . das am Kern befindliche Häutchen aber verdirbt, wenn man es nicht abzieht, . . . den Geschmack.- Jetzt gibt es von ihnen mehr Arten. Die tarentinischen sind leicht und mühelos zu verspeisen, flach von Gestalt. Eine runder gestaltete, die Eichelförmige [balanítis] genannt, ist am besten auszuschälen und springt von selbst sauber hervor" (N. H., XV, S. 169). Dies war die Vorgabe für die weitere Züchtung: Sorten heranzuziehen, bei denen sich die adstringierend wirkende Samenhaut leicht lösen lässt. Nach einer Vorbehandlung durch Kochen, Rösten oder Trocknen sollen sich Schale und Samenhaut in einem Griff entfernen lassen - Maronen sind im Gegensatz zu Kastanien solche "Wunderfrüchte". Auch wenn der Name nicht einheitlich verwendet wird, meint man damit im Allgemeinen die größeren Kulturfrüchte. Das Wort marroni tritt im 12. Jahrhundert in der Lombardei auf, mit ihm wurden große Kastanien hoher Qualität bezeichnet, die süß, schmackhaft und leicht zu schälen sind. In Frankreich werden mit marron Kastanien etikettiert, bei denen die Samenhaut nicht eingewachsen ist und weniger als 12 Prozent der Nüsse gespalten sind. Über 700 Sorten sind inzwischen registriert. Meistens bringen Maroni nur eine Nuss hervor im Unterschied zu Kastanien, die zwei bis drei Nüsse bilden (Wikipedia).
"Eine Delikatesse für Fürsten und eine die Manneskraft hebende Speise für Landleute. Bei Frauen sorgt sie für eine gesunde Gesichtsfarbe." So beschrieb der englische Autor und Gartenbauer John Evelyn (1620-1706) die Vorzüge der Früchte. Auch heute sind die gerösteten Kerne "pur" mit ein wenig Salz und Butter ein Genuss, daneben lassen sie sich hervorragend mit Rot- und Rosenkohl kombinieren, generell eignen sie sich gut als Beigabe zu Gemüse. Der mit Kastanien und Äpfeln gefüllten Gans entspricht der in Amerika zum Thanksgiving-Essen gefüllte Truthahn. In China gibt es Mitte September das traditionelle Familienfest, den "Tag des Mondes", an dem Huhn mit gekochten Kastanien gegessen wird. Der Verwendung der Früchte sind keine Grenzen gesetzt: Kastanienbrot (ca. 7 bis 10 Prozent Kastanienmehl), Crème de Marrons (Brotaufstrich) oder die berühmten Marrons glacés (kandierte Maronen) sind nur eine kleine Auswahl. Auf dem jährlich stattfindenden Kastanienfestival im Bergell (Graubünden) darf man sich neben Kuchen, Keksen, Eis und Likör auch an einem mit Kastanienmehl gebrauten Bier erfreuen. Nicht ganz so geläufig ist die Polenta di neccio, die Polenta aus Kastanienmehl - leicht süßlich schmeckend (zarter als Maispolenta) und sehr sättigend eignet sie sich sowohl zu Herzhaftem als auch zu Obst.
Die Kastanie sicherte einst den Bergbauern in Spanien, Italien, im Tessin, in Zentral- und Südfrankreich das Überleben im Winter. Mit der Bevölkerungszunahme im 11. bis 13. Jahrhundert stieg der Kastanienanbau in den Gebieten kontinuierlich an, in denen kein Getreide mehr wuchs. Dabei wurden die Kastanien zunehmend das "Brot der Armen". Im 16. bis 18. Jahrhundert weitete sich der Anbau noch einmal aus, in den Cevennen zum Beispiel bildete die Kastanie nach den Pestepidemien im 16. Jahrhundert die Überlebensgrundlage für eine wieder anwachsende Bevölkerung. In den genannten Regionen war die Kastanie vielfach das einzige Nahrungsmittel. Der französische Historiker Emmanuel Le Roy Ladurie (*19.07.1929) bezeichnete diese Gebiete als "Internationale der Armut und der Kastanie" (Wikipedia). Sicher mag die ausschließliche Ernährung zur Winterzeit mit Kastanien eintönig gewesen sein, mangelhaft war sie nicht; Kastanien sind außerordentlich gehaltvoll - das Mehl unterscheidet sich in der Zusammensetzung kaum von Roggenmehl - und sie können Brot gleichwertig ersetzen. Ein gesunder Baum im Alter zwischen 70 und 140 Jahren bringt auf gutem Boden einen Fruchtertrag von 150 bis 200 Kilogramm. Um die Früchte möglichst den ganzen Winter zur Verfügung zu haben, wurden sie gedörrt. Dies erfolgte im Tessin in Steinhütten, den Cascinen, wo sie auf einem Holzrost aufgeschichtet drei bis vier Wochen über einem offenen Feuer getrocknet wurden (Guggenbühl, 1963).
Das "Armutsimage" hat die Kastanie inzwischen gründlich abgeschüttelt, sie ist heute zu einem Leckerbissen aufgestiegen: Bei Preisen von rund 15 Euro pro Kilogramm (Bioladen) ließe sich damit keine Familie mehr ernähren.
Alle gewünschten Produkte zu jeder Jahreszeit zu erhalten, ist für uns zur Selbstverständlichkeit geworden. Doch auch mit den empfindlichen Kastanien gab es bereits seit der Renaissance einen regen Fernhandel. Umschlagplatz für die Niederlande und England war Bordeaux, für Paris und den Norden Lyon, ein weiterer Handelsweg führte von Italien über die Alpen (Hahn, 2004). Selbst Deutschland exportierte im 19. Jahrhundert: Brachten die Heidelberger Kastanienhaine mehr Früchte als benötigt, kauften Händler die überschüssigen auf und beförderten sie nach Norddeutschland und Russland (Bouffier, 2012). "Nachdem dißmahl die Castanien so außerordentlich gerathen sind; so überschicke ich hiermit eine Noble Quantität . . .", schreibt Goethes Mutter im Oktober 1806 an ihre Lieben in Weimar (Bouffier, 2004, S. 112). Nicht nur Goethe erhielt Liebesgaben aus der Heimat, während des Ersten Weltkrieges versorgte der Pfälzer Waldverein alle Heerführer mit Mandeln und den besonders schmackhaften Hardter Edelkastanien (MDDG, 1933).
Für die Vollreife der Früchte ist ein eher mildes und niederschlagsreiches Weinklima erforderlich. Nördlich des 48. bis 50. Breitengrades fruchtet Castanea nur noch an günstigen Stellen, hier wird sie zur Zierde in Parkanlagen, teilweise auch an Straßen gepflanzt. In Berlin (West) gab es 1959 stolze 41 Esskastanien (Kühn, 1961). Diese Anzahl hat sich zwischenzeitlich deutlich erhöht; denn an weniger belebten Straßen und in Siedlungen wird sie gern verwendet. So kamen zum Beispiel in Marzahn-Hellersdorf, mit Schwerpunkt Marzahn und Biesdorf, in den 1980er- bis 1990er-Jahren 82 Kastanien neu hinzu, in Lichtenberg, Ortsteil Alt-Hohenschönhausen, waren es 42 Bäume (2006). Einige Veteranen lassen sich ebenfalls noch aufspüren: Die älteste Castanea, auf 1895 datiert, darf man in Dahlem bestaunen, und aus den 1920er- und 30er-Jahren existieren ebenfalls noch einige Vertreter: in Wannsee, Friedrichsfelde und selbst an dem verkehrsreichen Columbiadamm (Neukölln) haben sich noch sieben Bäume erhalten (Grünflächen- und Informationssystem, Berlin, 2018).
Eine der ältesten Edelkastanienalleen in Deutschland befindet sich zwischen Schloss Dyck und dem Nikolauskloster (Rhein-Kreis Neuss). Die circa 1,7 Kilometer lange Straße wurde 1811 mit 224 Kastanien bepflanzt.
"Man kann sich zur Blütezeit oder im Spätherbst, wenn das weithin leuchtende Brokat dieser Allee die Landschaft beherrscht, kaum etwas Wuchtigeres vorstellen" (Löffler zitiert in Kühn, 1961, S. 110).
Bei den noch verbliebenen 180 Bäumen lässt sich Löfflers Begeisterung nachempfinden. Kastanienallee bei Schloss Dyck. In: KuLaDig, Kultur.Landschaft.Digital. URL: www.kuladig.de/Objektansicht/O-62563-20130319-2.
Eine ebenfalls imposante Allee befand sich bei dem Städtchen Lindenfels im Odenwald: "Eine 3 Kilometer lange Chaussee . . . ist mit riesigen gesunden, reich fruchtenden und 100 Jahre alten Stämmen eingerahmt" (Bouffier, 2004, S. 109/110). Nach dem Sturm 2013 mussten die meisten Bäume aus Sicherheitsgründen gefällt werden (Helbig, 2018). Die Nachpflanzung erfolgte erfreulicherweise wiederum mit Castanea sativa, wobei die Anzahl der Bäume sich sogar erhöhte (Moritz, 2018).
Keine dieser Kastanien kann sich jedoch mit dem Kastanienbaum der hundert Pferde messen, der am Osthang des Ätna steht unweit der Stadt Sant'Alfio (nördl. Catania, Sizilien). Er gilt als der dickste und älteste Baum Europas und wird je nach Gutachter auf ein Alter zwischen 2000 bis 4000 Jahren geschätzt. 1636 wird er erstmalig von dem Schriftsteller und Priester Don Pietro Carrera (1574-1647) in seinem Buch über den Ätna beschrieben "als Baum mit imposantem Stamm"; heute wird der Umfang mit 22 Meter angegeben (Wikipedia, Kastanienbaum der hundert Pferde).
Anmerkung
Teil II dieses Artikels erscheint in der Stadt+Grün 8/2017.
¹ Benannt nach der niederländischen Stadt.
² Nach dem Ort Tegelen in Holland, wo zahlreiche Überreste wärmeliebender Pflanzen und Tiere gefunden wurden.
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