Die sozialkonstruktivistische Perspektive auf Stuttgart 21

Heimat und Ästhetik - Deutungsmuster erkennen

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Großbaustellen Landschaftstheorie
Abb. 1: Blick von Osten auf den Bonatzbau und die Baustelle der neuen Gleisanlagen. Foto: Lara Koegst 2021

Landschaft und Raum sozial konstruiert

Das Großprojekt Stuttgart 21 hat in den letzten Jahren große mediale Aufmerksamkeit erhalten: Berichte über die Planung des neuen Hauptbahnhofs, sowie Kostenerhöhung aber auch Proteste, die insbesondere den Baubeginn begleiteten, wurden angesprochen. Doch wie wird das Projekt heute wahrgenommen und welche individuellen und gesellschaftlichen Deutungs- und Zuschreibungsmuster sind präsent? Aus der Perspektive der sozialkonstruktivistischen Landschaftstheorie lassen sich unterschiedliche Deutungen des Projekts Stuttgart 21 untersuchen und ästhetische und heimatliche Bezugnahmen betrachten. Im nachfolgenden Absatz wird in einer kurzen Einführung die sozialkonstruktivistische Landschaftstheorie vorgestellt. Im Anschluss daran werden nach einer ersten Betrachtung von Google-Bilder-Treffern der Schlagwortsuche zu Stuttgart 21 die Kommentare zu diesen Bildern analysiert und Deutungs- und Bewertungsmuster zu Stuttgart 21 herausgearbeitet.

Je nach Perspektive lässt sich unterscheiden, wie Räume verstanden werden. Während aus essentialistischer Sicht ein betrachter*innenunabhängiges Eigenwesen vorhanden ist und positivistisch empirisch erfassbare Gegenstände untersucht werden, wird Raum und insbesondere Landschaft heute von vielen Forschenden als Konstrukt verstanden (unter vielen: Aschenbrand 2017; Cosgrove 1998; Greider und Garkovich 1994; Kühne 2019b; Kühne et al. 2013; Weber 2015). Konstruktivistische Weltsichten gehen davon aus, dass Wirklichkeit sozial erzeugt ist, dabei besteht eine enge Verbindung mit "der Zusammenführung von Sinneseindrücken zu einem Gesamtbild" (Kühne 2018, S. 9).

Darüber hinaus wird angenommen, "dass in jede Wahrnehmung Abstraktionen in Form von Vorwissen über die Welt einfließen" (Kühne 2019b, S. 70; Schütz 1971). Die Interpretation von Sinneseindrücken, beispielsweise als Landschaft, erfolgt demnach auf der Grundlage von gesellschaftlichen Deutungs- und Zuschreibungsmustern, die von Individuen durch den Prozess der Sozialisation erlernt werden müssen (Kühne 2018). Burckhardt (2006, S. 20) schließt daraus: "Der Naive kann die Landschaft nicht sehen, denn er hat ihre Sprache nicht gelernt". Landschaft wird aus sozialkonstruktivistischer Perspektive als "eine Art, die Welt zu sehen" (Cosgrove 1998, S. 13) verstanden, als ein Konstrukt, das sozial und kulturell erzeugt und vermittelt wird (unter vielen Kühne 2018; 2019b; Kühne et al. 2013).

Es gibt demnach aus sozialkonstruktivistischer Perspektive nicht "den einen physischen Raum", der als Landschaft bezeichnet werden kann. Landschaft umfasst vielmehr eine Vielzahl an Möglichkeiten, je nach wahrgenommener Objektkonstellation den Ausschnitt eines physischen Raumes als Landschaft zu deuten (Wojtkiewicz und Heiland 2012, S. 135; Kühne 2018). Anhand erlernter gesellschaftlicher Deutungs- und Bewertungsmuster sowie individuellen Erfahrungen schreiben Individuen bestimmten Objekten ästhetische Urteile zu (Kühne 2017, S. 54; 2019b). Das Wahrgenommene erscheint den Betrachtenden dabei als Wirklichkeit und nicht als soziale Konstruktion, da diese unbewusst abläuft (Ipsen 2006, S. 31).

Bei der Zusammenschau verschiedener Objekte, die dann, in Rückgriff auf die erlernten gesellschaftlichen Deutungsmuster als Landschaft gedeutet werden, verweisen Weber et al. (2017, S. 248) im Anschluss an Ipsen (2006) auf drei wesentliche Komponenten: kognitive, emotionale und ästhetische Dimensionen der Deutungen. Die emotionale Dimension beschreibt gefühlsmäßige Bezugnahmen zu landschaftlichen Veränderungen oder auch der Wahrnehmung als Heimat. Eine weitere Dimension beschreibt ästhetische Zuschreibungen und Bewertungen, ob ein als Landschaft wahrgenommener physischer Raum beispielsweise als "schön" oder "hässlich" gedeutet wird.

Die kognitive Dimension der Deutung bezieht sich auf Wissen, das über Landschaft vorhanden ist und in die Zusammenschau physischer Objekte zu Landschaft einfließt. Die emotionalen und ästhetischen Komponenten der Deutung sind dabei überwiegend, wenn keine tiefgreifendere Befassung mit Landschaft vorhanden ist, beispielweise beruflich. Demnach müssen nicht alle Dimensionen in gleicher Weise bei der Deutung eines als Landschaft wahrgenommenen Raumes von Relevanz sein (Weber et al. 2017, S. 248).

Bei der Wahrnehmung eines physischen Raumes als Landschaft können zwei Deutungsebenen miteinbezogen werden: Die der "heimatlichen Normallandschaft" und die der "stereotypen Landschaft" (u. a. Kühne 2006; 2017). Ergänzt werden können diese beiden Ebenen durch expertenhafte Sonderwissensbestände, die im Zuge einer Landschaft betreffenden Ausbildung erworben werden kann (u. a. Kühne 2019b). Die Deutungsebene der heimatlichen Normallandschaft beginnt bereits im Kindesalter mit der Deutung der Umgebung des Wohnortes als Landschaft. Die Bezugnahme zur heimatlichen Normallandschaft ist demnach insbesondere eine emotionale, denn sie ist erfüllt von vertrauten Sinneseindrücken und den mit ihr verbundenen Erinnerungen (Kühne 2019a, S. 305; Hüppauf 2007, S. 1129).

Veränderungen der physischen Grundlage der "heimatlichen Normallandschaft" gilt es dementsprechend zu verhindern. Gerät die Norm der Stabilität einer heimatlichen Normallandschaft auf Grund von Veränderungen in Gefahr, so wird dies häufig mit "Heimatverlust" in Verbindung gebracht (u. a. Kühne 2019a, S. 305). Bedeutend für physische Räume, die als heimatliche Normallandschaften gedeutet werden, ist nicht deren etwaige ästhetische Schönheit, sondern vielmehr ihre Vertrautheit. Erfolgt eine Veränderung des physischen Raums, so erfolgt auf eben dieser Grundlage eine veränderte Deutung der heimatlichen Normallandschaft der folgenden Generationen (Kühne 2019a, S. 306).

Die Deutungsebene der "stereotypen Landschaft" ist hingegen insbesondere von in der Gesellschaft vorhandenen ästhetischen Normen geprägt, die im Zuge des weiteren Heranwachsens durch Sekundärinformationen (bspw. den Schulunterricht, das Internet, Bücher oder Filme) vermittelt werden (Kühne 2019a, S. 305; 2008). Dabei erfolgt die Vermittlung davon, wie Landschaft auszusehen hat, damit ästhetische Zuschreibungen erfolgen können und sie beispielweise als ästhetisch schöne Landschaft gedeutet werden kann. Je nach Sozialisation können sich die Normen, nach denen ästhetischen Zuschreibungen erfolgen, unterscheiden, da diese auf die Erwartung zurückzuführen ist, bestimmte Dinge zu sehen. Elemente, die den erlernten Normen und damit verbundenen stereotypen Vorstellungen nicht entsprechen, werden negativ bewertet.

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Großbaustellen Landschaftstheorie
Abb. 2: Der Blick auf die Baustelle der neuen Gleisanlagen vom Informationsturm an Gleis 16 zeigt die Größe der Baustelle auf der Höhe des Mittleren Schlossgartens. Dass sich die Baustelle und das Projekt jedoch unterschiedlich deuten lässt, wird in den ausgewerteten Kommentaren besonders deutlich. Foto: Lara Koegst 2021

Im Vergleich dazu können in der Ebene der heimatlichen Normallandschaft auch als stereotyp negativ bewertete Elemente einer "positiv-emotionalen Bezugnahme unterliegen" (Kühne 2019a, S. 306). Liegt eine Befassung mit Landschaft in Ausbildung oder Beruf vor, so werden die beiden bereits angesprochenen Deutungsebenen durch die Aneignung expertenhafter Sonderwissensbestände ergänzt (Kühne 2019a, S. 306). Diese fachspezifischen Sonderwissensbestände sind insbesondere kognitiv geprägt und "sind nicht stabil, sondern unterliegen konkurrierenden paradigmatischen Grundausrichtungen" (Kühne 2019a, S. 306).

Bereits bei der Betrachtung der Deutungsebenen der heimatlichen Normallandschaft und der stereotypen Landschaft werden unterschiedliche Schwerpunkte deutlich: Zum einen der Fokus auf Vertrautheit, zum anderen beispielsweise stereotype Schönheit. Unterschiedliche Deutungen und Zuschreibungen resultieren nicht selten in Konflikten, beispielsweise um den Bau von Windenergieanlagen, den Abbau mineralischer Rohstoffe oder in urbanen Kontexten im Zuge einer Umgestaltung (u. a. Berr und Jenal 2019; Weber et al. 2017). Letzteres lässt sich dabei in Stuttgart bei Neubau und Umgestaltung des Hauptbahnhofs im Zuge des Großprojekts Stuttgart 21 beobachten. Vorhandene Deutungs- und Zuschreibungsmuster dieses Projekts sollen nun in den nächsten Absätzen betrachtet werden.

Methodisches Vorgehen

Um mit der in den vorigen Absätzen vorgestellten sozialkonstruktivistischen Perspektive das Großprojekt Stuttgart 21 genauer zu betrachten, erfolgte die Kombination einer quantitativen Bildanalyse mit einer qualitativen Inhaltsanalyse von Kommentaren zu den jeweiligen Bildern. Als erste Einordnung aktueller Deutungsmuster fand die quantitative Betrachtung der ersten 150 Bilder einer Google-Bilder Stichwortsuche zu Stuttgart 21 statt. Die quantitative Analyse ist innerhalb sozialkonstruktivistischer Forschungszugänge eher untypisch, stellt hier jedoch für einen ersten Überblick eine gute Möglichkeit dar. Es muss jedoch beachtet werden, dass es sich hier nicht um individuelle Deutungen handelt, sondern medial vorhandene Muster. Darüber hinaus erlangen Bilder erst im Kontext ihrer Anwendung eindeutige Aussagekraft (Schlottmann und Miggelbrink 2015, S. 21).

Um darauf aufbauend die gesellschaftlichen und insbesondere individuellen Deutungs- und Zuschreibungsmuster zu Stuttgart 21 herausarbeiten zu können, wurden beispielhaft die Kommentare zu drei der anhand der Google-Bilder Suche generierten Bilder analysiert und deren Inhalt qualitativ ausgewertet. Der Großteil der untersuchten Bilder der Google-Bilder Stichwortsuche wurde im Zuge von Artikeln in den Medien veröffentlicht. Die betrachteten Kommentare zu den Bildern wurden dabei über die Kommentarfunktion unter dem das Bild beinhaltenden Artikel, sowie über dessen Veröffentlichung auf Facebook generiert. Anhand der Reichweite der Medien, die die Bilder und ihre Artikel veröffentlichten, kann davon ausgegangen werden, dass die Kommentare entsprechend von Personen auf nationaler sowie lokaler Ebene abgegeben wurden.

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Abb. 3: Zusammenstellung der Bilder 1 bis 9 der Google-Bilder Stichwortsuche zu \'Stuttgart 21\'. Kommentare zu den Bildern 1, 2 und 7 wurden qualitativ analysiert. (Eigene Zusammenstellung auf Grundlage von Google-Bilder). Quellen: 1: tagesschau.de; 2, 5, 7: stuttgarter-zeitung.de; 3, 4: sueddeutsche.de; 6: tagesspiegel.de; 8: t-online.de; 9: baulinks.de
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Abb. 4: Thematischer Fokus (l.) und abgebildete Objekte, inkl. Menschen (r.) der 150 untersuchten Google-Bilder zu Stuttgart 21 (Mehrfachnennungen möglich). Grafik: Lara Koegst 2021

Auswertung

Die quantitative Auswertung der ersten 150 Bilder der Google-Bilder Stichwortsuche zu Stuttgart 21 fand primär hinsichtlich des thematischen Fokus der Bilder statt, darüber hinaus wurden abgebildete Objekte untersucht (s. Abb. 3). Thematisch ist der große Teil an Bildern auffallend, die die Baustelle der neuen Gleisanlagen abbilden, sowohl direkt als auch als Luftbild (53 Prozent der untersuchten Bilder). Dementsprechend häufig sind auf den Bildern Baustellenobjekte abgebildet. Ein Großteil der Bilder stellt folglich den Bau des neuen Bahnhofs in den Mittelpunkt und bilden den Fortschritt des Baus ab. Als Symbol für den Baufortschritt und architektonische Leistungen sind dabei die Kelche der neuen Bahnsteighalle zu sehen, die in 14 der untersuchen Bilder in unterschiedlichen Bauphasen fokussiert sind (s. Abb. 4).

16 Prozent der untersuchten Bilder zeigen Visualisierungen der geplanten Bahnsteighalle. Die Betrachtung des Projektes aus der Luft, insbesondere mit Stadtteilen Stuttgarts stellen das Projekt als Teil Stuttgarts dar, veranschaulichen aber auch die Größe der Baustelle. Durch die häufige Abbildung (48 Prozent der untersuchten Bilder) nimmt der Bonatzbau eine besondere Rolle ein: Er verdeutlicht den Unterschied zwischen der Baugrube der neuen Bahnsteige und dem bisherigen Hauptbahnhof Stuttgarts und macht darauf aufmerksam, dass Teile der alten Bahnhofsgebäude erhalten bleiben. Deutlich gering repräsentiert sind dagegen die Proteste des Baubeginns: Erst Bild Nr. 94 stellt diese dar.

Betrachtern dieser Bilder wird suggeriert, dass es sich bei Stuttgart 21 um eine Großbaustelle handelt, die sich gerade mitten im Bau befindet und architektonisch besondere Merkmale des neuen Bahnhofs gebaut werden. Die Proteste zu Beginn des Baus, die den medialen Diskurs zu Stuttgart 21 dominierten, werden kaum dargestellt. Erst bei der Betrachtung der Bildunterschriften erhalten Betrachtende einen Einblick in den Kontext der Bilder, denn hier werden Bauverzögerungen und Kostensteigerungen angesprochen.

Um Einblicke in die individuellen Deutungs- und Zuschreibungsmuster in der Diskussion des Projektes zu erhalten, findet die ergänzende qualitative Inhaltsanalyse von Kommentaren der Bilder statt. Beispielhaft wurden hierfür die Kommentare der Bilder 1, 2 und 7 genauer untersucht, da hier eine angemessene Zahl an Kommentaren vorzufinden war. Bei Bild 2 und 7 handelte es sich um insgesamt 110 analysierte Kommentare der jeweiligen Veröffentlichung der Artikel auf der Facebook-Seite der Stuttgarter Nachrichten. Bei Bild 1 wurde die Kommentarfunktion auf der Website der Tagesschau nach 149 Kommentaren durch die Redaktion geschlossen, was die Diskussionsbedürftigkeit und Kontroversität des Themas verdeutlich.

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Abb. 5: Blick vom Informationsturm bei Gleis 16 auf den Bonatzbau und den Bau der Kelche im Bereich der neuen Gleisanlagen, die medial als Symbol des Baufortschritts und der architektonischen Leistung dargestellt werden. Foto: Lara Koegst 2021
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Abb. 6: Die Diskussion um das Projekt Stuttgart 21 ist auch elf Jahre nach den großen Protesten vor Ort noch erkennbar. Vor Ort werden sie an einem Banner, das an einem Bauzaun befestigt ist und die Details der Baustelle darstellt, besonders deutlich: per Hand wurden die Kommentare "Ort der Polizeigewalt" und "Milliardengrab" ergänzt. Foto: Lara Koegst 2021

Insgesamt ließen sich vier Deutungsmuster zu Stuttgart 21 herausarbeiten, die deutlich machen, welche teils gegensätzliche Zuschreibungen das Projekt erhält. Dabei zeigt sich auch, dass nicht ein etwaiger Baufortschritt im Vordergrund steht: Stuttgart 21 wird sowohl befürwortet als auch sehr kritisch gesehen. Innerhalb jedes Deutungsmusters wird nach Rechtfertigungen für die eigene Sichtweise gesucht, um zu begründen, warum das Projekt positiv oder negativ zu sehen ist.

1. Stuttgart 21 als Vorteil für die Stadt: Für die Vertreter*innen des ersten Deutungsmusters stehen die Vorteile des Projektes im Vordergrund und Stuttgart 21 wird positiv gerahmt: Ihm wird Zukunftsorientiertheit und Leistungsfähigkeit zugeschrieben. Insbesondere die Schaffung von Wohnraum auf den freiwerdenden Gleisflächen wird angesichts der begrenzten Kessellage Stuttgarts als Vorteil erachtet. In Teilen erfolgt eine direkte Ablehnung der Proteste und Gegenargumente, da diese als unbegründet betrachtet werden. Die Vorteile des Projekts sind für Vertreter dieses Deutungsmusters überwiegend.

2. Stuttgart 21 als Fehlplanung: Innerhalb des zweiten Musters überwiegt die Deutung von Stuttgart 21 als "Planungsdesaster" (KT02): Die Nachteile und Komplikationen bei der Durchführung des Projektes werden als überwiegend erachtet. Insbesondere der Anstieg der Kosten sowie die Verlängerung der Bauzeit werden bemängelt, darüber hinaus werden Bedenken hinsichtlich des Brandschutzes geäußert. In Teilen wird dem Projekt auf Grund der Steigung der Gleise und Bahnsteige ein Sicherheitsrisiko vorgeworfen. Die entstehenden Wohnungen auf dem Areal der Gleise sind auf Grund hoher Mietskosten negativ konnotiert und dem Bahnhofsplatz über den Gleisen wird eine geringe Aufenthaltsqualität zugeschrieben. Von einigen wenigen wird nach wie vor der Baustopp des Projektes gefordert.

3. Stuttgart 21 als demokratisch beschlossenes Projekt: Für Vertreter*innen des dritten Deutungsmusters steht der Volksentscheid über das Projekt Stuttgart 21 vom November 2011 im Vordergrund. Hohe Bedeutung wird dem demokratisch erzielten Ergebnis der Abstimmung zugesprochen: Da von der Mehrheit für das Projekt gestimmt wurde, soll dieses nun auch realisiert werden. Proteste und weitere Diskussionen werden als unnötig erachtet, da in demokratischer Abstimmung die weitere Finanzierung des Projektes beschlossen wurde.

4. Stuttgart 21 als politische Fehlentscheidung: Vertreter*innen des letzten Deutungsmusters sehen Stuttgart 21 als Zeichen für das Versagen der Politik in Deutschland. Für einige Vertreter*innen ist die negative Assoziation mit Stuttgart 21 Anhaltspunkt für Demokratiekritik: Es wird die Meinung vertreten, Stuttgart 21 hätte besonders verdeutlicht, dass der gesellschaftliche Protest nicht mehr von der Politik beachtet und in Entscheidungen mit eingebunden wird. Ein direkter Bezug zum Projekt Stuttgart 21 ist nebensächlich, politische Belange und die Beachtung beziehungsweise die als zu wenig erachtete Berücksichtigung der gesellschaftlichen Meinung stehen im Vordergrund.

Fazit

Auch elf Jahre nach den großen Demonstrationen gegen Stuttgart 21 ist die Diskussion über das Thema noch immer präsent. Auf medialer Ebene werden visuell vor allem die Baufortschritte dargestellt und erst in den Bildunterschriften auf Bauverzögerungen und Kostensteigerungen verwiesen. Individuell und gesellschaftlich wird das Projekt nach wie vor kontrovers deutet. Zuschreibungen des Projektes als Vorteil für Stuttgart und als demokratisch beschlossenes Projekt stehen Deutungen als Fehlplanung und politische Fehlentscheidung gegenüber. Deutlich wird auch, dass sich die Perspektive der sozialkonstruktivistischen Landschaftstheorie besonders gut zur Untersuchung verschiedener Deutungsmuster zu landschaftsbezogenen, bisweilen konfliktträchtigen Projekten eignet. Insbesondere bei der Veränderung der physischen Grundlage von Räumen, die als heimatliche Normallandschaft gedeutet werden, können Veränderungen, wie die des Hauptbahnhofs, negative Zuschreibungen erhalten.

Großbaustellen Landschaftstheorie
Abb. 7: Je nach Deutung kann die Baustelle von Stuttgart 21 beispielsweise als räumliche Auswirkung eines Projektes interpretiert werden, das positive Auswirkungen auf die Stadt Stuttgart nach sich zieht, ebenso kann es jedoch aufgrund der Veränderung der physischen Grundlage eines als heimatliche Normallandschaft gedeuteten Raumes negativ gedeutet werden. Foto: Lara Koegst 2021

Literatur

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Markus Ritter und Martin Schmitz. Kassel: Martin Schmitz Verlag, S. 19-32.

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B. Sc. Lara Koegst
Autorin

Studentin & Projektmitarbeiterin Humangeographie/Global Studies, Uni Tübingen

Eberhard Karls Universität Tübingen

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