Gestaltungsprinzipien für einen besonderen Sozialraum
Friedhöfe als Kommunikations- und Alltagsorte verstehen
von: Judith Pape, Prof. Dr. Constanze A. Petrow, Laura SchöngartDer Mann, der jeden Tag kommt und das Grab seiner Frau auch dann noch harkt, wenn es schon lange nicht mehr nötig scheint; die Frau, die ihre Enkelin beim Gießen anleitet; die muslimische Familie, die den Grabhügel eines Angehörigen unter großer körperlicher Anstrengung säuberlich aufschichtet; der neonfarbene Aufkleber, der eine bessere Grabpflege anmahnt, obwohl man im Herkunftsland des Verstorbenen anders mit Gräbern umgeht.
Der Friedhof ist viel mehr als nur Bestattungsort: Er ist ein Raum der tiefen Emotionen, der familiären Traditionsweitergabe, der Interkulturalität. Kaum ein Freiraumtypus ist derzeit so sehr im Wandel begriffen. Jahrzehntelang geltende Regularien und Restriktionen werden im Zuge der Pluralisierung der Trauer- und Sepulkralformen infrage gestellt. Zugleich entstehen durch die Friedwälder und Ruheforste als relativ neuen Alternativen zum Friedhof, aber auch aufgrund des Trends zur Urnenbestattung erhebliche Flächenüberhänge auf den städtischen Friedhöfen. Viel tut sich derzeit, um diese in ihrem Charakter zu bewahren und in ihrer Trauerfunktion zu schützen und sie zugleich weiterzuentwickeln und ökonomisch zu stabilisieren. Zu den gängigen Strategien gehören immer neue Bestattungs- und Grabpflegeangebote, die Umnutzung von Friedhofsgebäuden sowie die stärkere Öffnung von Friedhöfen als wohnortnahe Grünräume.
Bei all diesen Aktivitäten gibt es eine Leerstelle, die den Ausgangspunkt unseres Forschungsprojekts bildete: Um zukunftsweisende Konzepte für Friedhöfe zu entwickeln, muss der Friedhof als Sozialraum zunächst besser verstanden werden. Unser zwischen Landschaftsarchitektur und Sozialwissenschaften angesiedeltes, vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst gefördertes Projekt stellte daher das Alltaggeschehen auf Friedhöfen in den Mittelpunkt. Wir verfolgten einen sozialraumorientierten, ethnografischen Forschungsansatz. Friedhöfe sind demnach nicht nur physisch-materielle Orte innerhalb der Stadt, sondern auch sozial und kulturell konstruierte Räume des Trauerns, Gedenkens und Erinnerns, des Vergemeinschaftens, des Erfahrens gesellschaftlicher Diversität und des doing gender.
Die Forschung erfolgte in drei Schritten. Im Rahmen einer umfangreichen Empirie wurde das Alltagsleben auf verschiedenen Friedhöfen im Rhein-Main-Gebiet teilnehmend beobachtet, und es wurden qualitative Interviews mit Nutzer*innen sowie Expert*innen-Interviews geführt. Das Beobachtete wurde im zweiten Schritt gedeutet und im interdisziplinären Team gemeinsam reflektiert. Im dritten Schritt wurden daraus Schlussfolgerungen für die künftige Planung von Friedhöfen gezogen und anhand des Frankfurter Südfriedhofs in Gestaltungsprinzipien übersetzt. In der Kürze dieses Beitrags stellen wir Erkenntnisse in den Mittelpunkt, die von besonderem Interesse für die Planung von Friedhöfen sind: das Spannungsverhältnis zwischen dem als Privatraum behandelten Grab und dem umgebenen öffentlichen Raum des Friedhofs, die sehr unterschiedlichen emotionalen Zustände von Menschen auf dem Friedhof, die Multikulturalität bei gleichzeitiger religiöser Hegemonie sowie den mangelnden Komfort und das Fehlen kommunikationsfördernder räumlicher Situationen.
SUG-Stellenmarkt
Das Private im Öffentlichen
Der Friedhof weist als städtischer Freiraum eine sozialräumliche Besonderheit auf: Viele kleine, als Privaträume wahrgenommene und behandelte "eigene" Gräber liegen ungeschützt in einem öffentlichen Raum. Während am Grab oftmals tiefe Emotionen erlebt, Briefe an Verstorbene platziert und intime Gesten dargestellt werden, finden diese Handlungen exponiert in der Öffentlichkeit statt. Das Grab ist für viele Hinterbliebene ein wichtiger Bezugsort, und die aktive Grabpflege kann ein wesentlicher Teil der Trauerverarbeitung sein. Irrelevant ist dabei, für wie viele Menschen der Friedhof noch diese Bedeutung hat, denn das Begraben und Trauern stellen seine Kernfunktionen dar. Folglich sollte man dieses Bedürfnis - und damit die Privatheit und Intimität des Grabbesuchs - räumlich besser schützen. Das gelingt, indem man den Friedhof klarer strukturiert und Abstufungen zwischen den (gelebten) Öffentlichkeitsgraden herausstellt.
Zwischen tiefer Trauer und Alltagsmodus
Trauer findet heute noch "auf dem Präsentierteller" statt, und Menschen sehr unterschiedlicher emotionaler Zustände treffen auf dem Friedhof unvermittelt aufeinander. Eine Person in tiefer Trauer kann Jogger*innen nur schwer ertragen. Kommunikation erfolgt dann zumeist nonverbal - durch "böse Blicke". Das Aufeinandertreffen geht auf Kosten des Vulnerableren. Auch die Gruppe der Trauernden ist heterogen, und ihre unterschiedlichen Ansprüche bergen Konfliktpotenzial. Für Kinder gibt es beispielsweise kaum Flächen zum Spielen oder Angebote zu kindgerechter Trauer. Dieser Wunsch kollidiert wiederum mit dem Ruhebedürfnis eines anderen Teils der Friedhofsnutzer*innen. Auch diese Gegensätzlichkeit verlangt nach einer besseren Zonierung.
Zwischen Multikulturalität und religiöser Hegemonie
Die ethnisch-kulturelle Vielfalt der Gesellschaft spiegelt sich auch auf dem Friedhof wider. Sie zeigt sich unter anderem in für die Mehrheitsgesellschaft ungewohnten Arten der Bestattung, der Grabgestaltung und Grabpflege. Während jedoch die kulturellen und religiösen Hintergründe der Menschen auf dem Friedhof zunehmen, stellen die christliche Symbolik sowie das Grab mit Grabstein und Bepflanzung weiterhin die Norm dar. Kulturell codiertes, von der christlich sozialisierten Mehrheit internalisiertes Verhalten dominiert den Raum. Gerade an christlichen Feiertagen wird das deutlich. Diese Hegemonie zeigt sich auch im Umgang mit den Grabpflege-Routinen von Muslim*innen, die nicht immer der herrschenden Norm entsprechen - und dafür von der Friedhofsverwaltung sanktioniert werden. Eine diskriminierungsfreie Governance von Friedhöfen steht also noch aus.
Einsamer Ort der mühevollen Arbeit
Bei aller Schönheit vieler Friedhofsanlagen sind diese dennoch rational organisiert. Gerade für ältere Menschen mangelt es an Komfort. Das Schleppen schwerer Gießkannen über weite Wege hinweg ist ein typisches Bild auf Friedhöfen. Auch sind die Wege in der Regel die einzigen Orte der informellen Begegnung. Der Friedhof könnte nicht nur komfortabler, sondern auch deutlich kommunikativer sein. Während frei bewegliches Mobiliar den längeren Aufenthalt in direkter Nähe zum Grab ermöglichte, könnten Sitzplätze zum längeren Bleiben einladen und Menschen in ähnlichen Lebenssituationen zusammenbringen. Der Friedhof würde dann auch als Erholungsraum attraktiver. Das wiederum verlangte einmal mehr nach einer stärkeren Zonierung. Zugleich hieße es, den Friedhof endlich wie einen normalen städtischen Freiraum zu finanzieren: nicht mehr vorrangig über die Grabgebühren, sondern aus dem kommunalen Budget.
Eine neue Szenografie für den Friedhof der Zukunft
Wie sähe eine sozialraumorientierte, gendersensible Friedhofsplanung aus? Das Vokabular der Landschaftsarchitektur ist hervorragend geeignet, um zwischen den angesprochenen Gegensätzen zu vermitteln und kommunikative Räume in den heute noch monofunktional gedachten Raum des Friedhofs zu integrieren. Drei Strategien erscheinen uns dabei zentral: die stärkere Zonierung, die Einfügung kommunikativer Aufenthaltsangebote sowie das Ausprägen von Schwellenräumen als Mittlern zwischen den unterschiedlichen emotionalen Zuständen und Bedürfnissen der Menschen auf dem Friedhof.
Aufbauend auf einer räumlichen Analyse wurden zunächst die Parameter unserer exemplarischen Planung für den Frankfurter Südfriedhof definiert. Trauer und Erinnerung stehen auf dem Friedhof als dem Raum zwischen Leben und Tod weiterhin im Zentrum. Daneben ist er aber auch ein Ort, an dem (vereinsamte) Hinterbliebene in einer aktiven Friedhofsgemeinschaft aufgefangen werden können. Ein Ort, an dem unabhängig vom Vorhandensein eines Grabes verstorbener Menschen gedacht werden kann. Ein Ort des sozialen Miteinanders. Ein Grünraum inmitten eines Wohngebiets und städtischer Verbindungsraum.
Wir schlagen vor, dass neue Raumtypen den Friedhof gliedern, nach außen öffnen und Teilräume partiell miteinander verbinden oder trennen. Die klassische Typologie öffentlicher und privater Freiräume - Promenade, Stadtplatz, Stadtgarten, Vorgarten und Privatgarten - dient als Referenz für die Zonierung des Friedhofs. Landschaftsarchitektonische Elemente wie Bäume, Hecken, Vegetations- und Belagsflächen, topografische Elemente und viele, sozial sinnvolle Sitzmöglichkeiten differenzieren Räume der Öffnung und Verbindung, Räume der Begegnung, individuelle Räume, Räume der Grabpflege sowie Trauerräume. Diese Raumcharaktere sind in der Szenografie des Friedhofs nicht nur visuell ablesbar, sondern auch räumlich spürbar. Der Friedhof würde damit zu einem Park der Ruhe und Kontemplation, des Gedenkens und der Trauer. Er böte ein vielfältiges Angebot für die unterschiedlichen Bedürfnisse von Hinterbliebenen sowie potenzielle Nutzer*innen. Erlebbar wäre er als ein Mosaik aus verschieden charakterisierten Räumen, in denen auch ethnische Communities selbstverständlich ihren Platz fänden.
Dynamik des Schwellenraums
Den Schwerpunkt des Konzepts bilden die Schwellenräume. Weder lassen sich zwischen allen Raumtypen klare Grenzen ziehen noch ist dies notwendig, denn die Gruppe der Nutzer*innen ist in ihren Ansprüchen divers und ihre Bedürfnisse überschneiden sich. Der Typus der Schwellenräume soll ähnlich einer permeablen bis semipermeablen Membran zwischen öffentlichen bis privaten sowie geselligen bis individuellen Räumen filtern und vermitteln. Ein Gestaltungskatalog, der nach der Methode des Morphologischen Kastens entwickelt wurde und auf andere Friedhöfe übertragbar ist, klassifiziert unterschiedliche landschaftsarchitektonische Elemente nach ihrer räumlichen Wirkung, sodass die Schwellenräume je nach den örtlichen Gegebenheiten angelegt werden können. Einzelne Heckenelemente bis hin zu zusammenhängenden Heckennetzen helfen, eine klare und verständliche Struktur zu schaffen. Die Räume der Trauer werden durch eine zusätzliche Schwelle als solche kenntlich gemacht und bieten Trauernden die nötige Privatsphäre. Gleichzeitig wird der weitläufige Friedhof auf ein nachbarschaftliches Verhältnis heruntergebrochen und das Gemeinschaftsgefühl innerhalb einer mit Hecken gerahmten Grabflächeneinheit gestärkt. Öffnungen im Heckennetz bilden einen lockeren Rahmen für individuelle oder gemeinschaftliche Treffpunkte. Sie ermöglichen den ungezwungenen Austausch und stärken dadurch die Friedhofsgemeinschaft. Höhe, Dichte, Durchlässigkeit und Wuchs dieser Elemente bestimmen maßgeblich den Charakter eines Schwellenraums und müssen mit Bedacht gewählt werden, auch um geschlossene, nicht einsehbare Angsträume zu vermeiden. Während die individuellen Schwellenräume einen Übergang zu den Trauer- und Grabräumen ausbilden, sind sie zugleich informeller Treffpunkt der Trauernden dieser Grabflächeneinheit. Der Heckenrahmen ist hier dichter, und nur wenige Öffnungen führen in einen geschützten Vorraum. Frei bewegliche Stühle stehen um einen Brunnen. Dieser verbindet Aufenthaltsqualität mit Praktikabilität, denn der Weg zum Grab ist nicht weit. Das bewegliche Mobiliar ermöglicht ein ungezwungenes Beisammensein und kann auch mit zum Grab genommen werden. Die geselligen Schwellenräume sind hingegen durchlässiger gestaltet. Der Heckenrahmen wird zum Heckensockel, durch lockere Bepflanzung ersetzt oder der Raum erhält ein Baumdach. Lange Bänke und mobile Stühle ermöglichen Kommunikation und Interaktion. Zugleich fungieren diese Räume als Filter zum beschleunigten Treiben entlang der Wege.
Fazit
Die hier umrissene Strategie zielt auf die Aktivierung von Friedhöfen als Alltagsorten, basierend auf deren genauerem Verständnis als Sozialraum. Am Beispiel einer konkreten Friedhofsanlage wurde ein Gestaltungskatalog entwickelt, der durch einen morphologischen Aufbau geprägt und auf andere Friedhöfe übertragbar ist. Nicht unterschätzt werden sollte stets der Unterschied zwischen (Groß-)Stadt und ländlichem Raum. Es gibt nicht "den Friedhof", sondern sehr unterschiedliche sozialräumliche Kontexte, in die ein Friedhof jeweils eingebettet ist.
Die Grafiken veranschaulichen die Möglichkeiten einer sozial sinnvollen Raumbildung durch Vegetation, Topografie und neue Nutzungsangebote. Eine membranähnliche Raumstruktur mit Schwellenräumen vermittelt zwischen den unterschiedlichen Bedürfnissen und emotionalen Zuständen der Menschen auf dem Friedhof. In der Summe erhielte dieser eine deutlich höhere Aufenthaltsqualität, bessere Lesbarkeit und Eindeutigkeit der Teilräume. Die Vielfalt bekäme eine Rahmung. Erwachsen könnte daraus eine neue Resonanz zwischen dem Raum und seinen Nutzer*innen, vor allem aber zwischen den Menschen auf dem Friedhof.
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