Am Bahnhofsareal zählt nicht nur Funktionalität, sondern auch Prestige

Macht und Ökonomie - symbolische Aufladung im Raum

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Großbaustellen Landschaftstheorie
Physisch-räumliche Manifeste des Protests im angrenzenden Schlossgarten. Die Bürger*innen protestierten im September 2010 gegen die Fällung der Bäume. Foto: Ulli Fetzer
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Die Kapitalsorten Bourdieus. Abbildung: Linda Baum

Theoretische Grundlagen

Der vorliegende Beitrag betrachtet die Landschaften des Großprojekts Stuttgart 21 (S 21) aus der Perspektive kritischer Geographie in Anschluss an Bourdieu. Dies bedeutet, dass soziale Macht- und Herrschaftsverhältnisse im Zusammenhang mit den räumlich-landschaftlichen Prozessen im Zentrum stehen werden. Der Soziologe Pierre Bourdieu thematisierte in seinem Werk verschiedentlich, inwieweit symbolische Aufladungen sozialer Positionen im physischen Raum zum Ausdruck kommen (Fröhlich und Rehbein 2014, S. 223).

Zunächst erfolgt eine Darstellung von Grundlagen der kritischen Theorie sowie eine Einordnung der Soziologie Pierre Bourdieus in diese Theorielinie. Es werden zentrale Konzepte und Begriffe Bourdieus vorgestellt, um eine Scharfeinstellung einer "kritischen Geographie-Brille" vorzunehmen, mit der anschließend auf einem Rundgang durch den Stuttgarter Hauptbahnhof auf die Stadtlandschaften des Großprojekts geschaut wird.

Die Kritische Theorie ist eine Forschungsperspektive, die am Sozialwissenschaftlichen Institut in Frankfurt am Main aus dem Neomarxismus der zwanziger Jahre als Abgrenzung zur traditionellen Theorie hervorging. Zu den Begründern der Kritischen Theorie zählt ein ganzer Kreis von Wissenschaftler*innen aus einer großen Bandbreite wissenschaftlicher Bereiche, beispielsweise der Philosophie, Soziologie und Sozialpsychologie (Bittlingmayer und Freytag 2019).

Von Beginn an handelt es sich um einen interdisziplinären Ansatz, in dem Abhandlungen zu einer Vielfalt an Themen stets die gemeinsame Basis haben, Erklärungsansätze und Erkenntnisse auf gesamtgesellschaftliche Gegebenheiten zurückzuführen (Baum et al. 2017). Sämtliche Teilbereiche des gesellschaftlichen Lebens werden aus der Perspektive der kritischen Theorie von den Macht- und Herrschaftsverhältnissen des kapitalistischen Wirtschaftssystems beeinflusst und maßgeblich bestimmt. Ein zentrales Merkmal kritischer Theorie als Abgrenzung zu traditioneller Theorie ist außerdem eine bewusste Normativität (ebd.). Eine gesellschaftskritische Forschung ist nur dann in der kritischen Theorie zu verorten, wenn sie über reine Deskription hinausgeht und das Streben nach grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen verlauten lässt.

Für Bourdieu stellt Marx ein wichtiger Bezugspunkt dar, er leitet seine Theorie jedoch nur zu einem Teil affirmativ aus Marx ab. Er befasste sich in seinen empirischen Forschungsarbeiten mit sozialen Ungleichheitslagen, wobei dies stets mit einem Rückbezug auf gesamtgesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse erfolgte (Bauer und Bittlingmayer 2000, S. 265). Bourdieu zeigt dabei die Gebundenheit alltäglicher kultureller Praktiken an Klassenzugehörigkeit und auf welche Weise diese Praktiken gesellschaftliche Klassenstrukturen und Machtungleichgewichte (re)produzieren (Bourdieu 1987, 1992). Bourdieus Klassenverständnis basiert im Vergleich zum traditionellen Klassenbegriff nicht nur auf der Position innerhalb der Produktionsverhältnisse. Stattdessen nehmen die sozialen Differenzen, die sich anhand von Eigenschaften wie dem Lebensstil und dem Geschmack in alltäglichen Kontexten zeigen, einen zentralen Stellenwert ein. Diese Eigenschaften spielen in Bourdieus Theorie eine maßgebliche Rolle bei der Vermittlung von Macht, womit er sich kritisch befasst.

Wichtige Grundkonzepte der Bourdieuschen Soziologie

Eine wichtige Grundlage in Bourdieus Werk stellt sein Konzept der verschiedenen Kapitalsorten dar. Er unterscheidet drei Kapitalsorten, über die jedes Individuum in unterschiedlichen Anteilen verfügt und von dessen Zusammensetzung und Volumen die Position des Individuums im sozialen Raum abhängt (Bourdieu 1992, S. 52).

Der soziale Raum kann als eine Metapher für die Gesellschaft verstanden werden (Kühne 2008, S. 26), in dem Individuen ihre verfügbaren Kapitalsorten einsetzen, um die bestmögliche Position, die ihre Kapitalausstattung hergeben mag, zu erlangen. Darüber hinaus benennt Bourdieu eine weitere Kapitalart, die im Verbund mit den anderen Kapitalsorten auftritt: das symbolische Kapital (Fuchs-Heinritz und König 2014, S. 135). Darunter lassen sich die "Chancen soziale Anerkennung und soziales Prestige zu gewinnen und zu erhalten" (ebd.) verstehen. Abhängig von der Kapitalverfügbarkeit unterscheidet Bourdieu drei Klassen der Gesellschaft, die er als Bürgertum, Kleinbürgertum und Proletariat kennzeichnet (ebd., S. 142). Aufgrund des ungleichen Repertoires an Handlungsmöglichkeiten entspricht das Bürgertum in Bourdieus Klassenstruktur der herrschenden Klasse und das Proletariat der beherrschten Klasse. Zwischen diesen liegt die Mittelklasse.

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Bourdieus Klassenstruktur. Abbildung: Linda Baum

Die Angehörigen der drei Klassen verfügen jeweils über einen klassenspezifischen Habitus (Bourdieu 1987). Im Habitus äußern sich die unterschiedlichen Merkmale, die aufgrund ungleicher Kapitalverfügbarkeiten zwischen den sozialen Klassen bestehen und es treten diejenigen Eigenschaften und Verhaltensweisen zum Vorschein, die das Machtgefälle zwischen der herrschenden und der beherrschten Klasse ausmachen. Mit dem Begriff Habitus sind "Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsschemata" (Bourdieu 1987, S. 173) gemeint, die ein Individuum in seinem*ihrem sozialen Umfeld erlernt und ausübt. So kann der Habitus auch als das in das Subjekt eingegangene Soziale bezeichnet werden (Kühne 2008a, S. 63). Zeitlebens verinnerlichte, klassengebundene Muster, bestimmen die Art und Weise der Ausübung von Handlungen.

In seinem Hauptwerk "Die feinen Unterschiede" zeigt Bourdieu (1987) anhand einer Fülle an empirischen Daten, wie sich der klassenspezifische Habitus von Menschen in ungleichen Stellungen im sozialen Raum beispielsweise in der Körpersprache, dem Aussehen und Ernährungsgewohnheiten ausdrückt (Fuchs-Heinritz und König 2014, S. 94). Besonders der Eigenschaft des Geschmacks kommt bei der Ausdifferenzierung der sozialen Klassen und den spezifischen Habitusformen eine große Bedeutung zu. Dabei geht es Bourdieu nicht nur darum, das Gesellschaftliche in vermeintlich nebensächlichen Bereichen des Alltags aufzuzeigen und zu demonstrieren, wie das Leben des*der einzelnen von seiner*ihrer Klassenzugehörigkeit bestimmt wird (Bourdieu 1992; Treibel 2006). Geschmack wird durch die Praxis der Distinktion zu einer zentralen Grundlage zur Produktion und Reproduktion des Macht- und Herrschaftsgefälles in der Gesellschaft.

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Der Habitus als strukturierende und strukturierte Struktur nach (nach Deffner und Haferburg 2012). Abbildung: Linda Baum
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(Re)produktion von Macht anhand alltäglicher Praktiken wie dem Geschmack. Abbildung: Linda Baum


Bourdieus Raumkonzepte

Ausgehend von der Annahme, ein Phänomen (z. B. ein räumliches) sei nur im Verhältnis zu anderen Phänomenen zu verstehen (z. B. gesellschaftlichen), stellen sich Bourdieus Konzepte als gewinnbringend für geographische Forschungsfragen dar (Deffner und Haferburg 2012). Auseinandersetzungen mit Raum oder Landschaft im Spezifischen, die sich auf Bourdieu beziehen, haben zum Ziel, die Einschreibung sozialer Verhältnisse im Raum aufzudecken. Dabei bezieht sich das Erkenntnisinteresse in Verbindung mit dem Ansatz einer kritischen Forschung auf die verborgenen Mechanismen der Macht und Herrschaft in räumlichen Prozessen und Diskursen (Deffner und Haferburg 2012; Kühne 2008a, 2008b).

Der von Menschen bewohnte und genutzte Raum, der in seiner Erscheinung untrennbar verbunden ist mit vergangenen und gegenwärtigen sozialen Verhältnissen, bezeichnet Bourdieu als "angeeigneter physischer Raum" (Bourdieu 1991, 1998).

Der angeeignete physische Raum funktioniert "wie eine Art spontane Symbolisierung des Sozialraums" (Bourdieu 1998, S. 18), weshalb Bourdieu ihn auch als "physisch verwirklichte[r] beziehungsweise objektivierte[r] Sozialraum" (ebd., S. 19) bezeichnet. Machtunterschiede treten dabei zentral hervor: "In einer hierarchisierten Gesellschaft gibt es keinen Raum, der nicht hierarchisiert ist und nicht die Hierarchien und sozialen Distanzen zum Ausdruck bringt [. . . ]" (Bourdieu 1991, 26f.). Räume beziehungsweise Landschaften können, wie Deffner und Haferburg (2012, S. 170) es in Anschluss an Bourdieu zusammenfassen, sowohl als Bühne als auch Repräsentation sozialer Praktiken verstanden werden. Die Fähigkeit den Raum zu beherrschen, hängt von Kapitalbesitz in seinen verschiedenen Formen ab (Bourdieu 1998, S. 22) und die im Raum verteilten Objekte sind durch Macht manifestiert und wirken zugleich Macht manifestierend (Kühne 2008b, S. 42).

Naheliegend erscheint das soziale Machtgefälle in Verbindung mit Raum und Landschaft bezüglich der Nutzungsmöglichkeiten und -formen im angeeigneten physischen Raum aufgrund von Kapitalverfügbarkeiten beziehungsweise Mittellosigkeit (Deffner und Haferburg 2012; Dirksmeier 2007; Kühne 2008b), wobei nicht zuletzt auch hier die spezifischen Habitusformen einen erheblichen Einfluss auf Handlungsmöglichkeiten innerhalb des Raums ausüben (Bourdieu 1991, S. 32). Die eingeschriebene Machtsymbolik im Raum tritt dagegen viel subtiler und verschleiert auf und bleibt für die meisten Menschen aufgrund des Naturalisierungseffekts unsichtbar (Bourdieu 1991, 1998).

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Die Raumkonzepte Bourdieus. Abbildung: Linda Baum
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Der Bonatzbau – objektifiziertes symbolisches Kapital. Foto: Ulli Fetzer

Auf der Suche nach verborgenen Mechanismen der Macht beim Rundgang durch den Stuttgarter Hauptbahnhof

Städtische Bahnhöfe sind Orte, an denen Symbolisierungen im angeeigneten physischen Raum in besonderer Weise zur Geltung kommen können und inszeniert werden, da sie ein "Tor zur Stadt" (Korn 2006, S. 45) darstellen, an dem viele Besuchende ihren ersten Eindruck des Orts gewinnen. Über die Einschreibung sozialer Verhältnisse im S21 Areal, insbesondere in Form von Macht und Herrschaft, soll im Folgenden ein Eindruck vermittelt werden. Ein solcher verschafft bereits die riesige Ausdehnung der Baustelle und das gigantische Volumen der Grube, in der aktuell das neue Tunnelsystem des Durchgangsbahnhofs entsteht.

Stuttgart 21

Als der Plan für S21 im Jahr 1994 der Öffentlichkeit zum ersten Mal präsentiert wurde, sprach man von "einem ,Jahrhundertprojekt', vom ,Beginn eines modernen, komfortableren, schnelleren Zeitalters', von ,grandiosen Chancen für Stuttgart, einer Art zweiter Stadtgründung'" (Reuter 2001, S. 30). Mit der Umwandlung des Kopfbahnhofs in einen unterirdischen Durchgangsbahnhof, der Anbindung des Flughafens an das neu gegliederte Fern- und Regionalnetz sowie der Entstehung neuer Stadtviertel mitten in der City, wird das Interesse an Zuwachs von ökonomischem und symbolischem Kapital auf dem Konto der herrschenden Klasse verfolgt. Die Vorteile, die sich aus dem Großprojekt ergeben, begünstigen in erster Linie dahingehende Gewinne und sie sind gleichzeitig Ausdruck für die allgemeine "Ökonomisierung der Gesellschaft" (Schlager 2010, S. 26) und "die Beschleunigung des Lebens [als] ein Signum des aktuellen Kapitalismus" (ebd.). Gemeint sind damit zum einen die stattlichen Profite, die Investor*innen auf der großen freigewordenen Fläche in wertvoller Lage erzielen können.

Für viele Kritiker*innen besteht darin der zentrale Beweggrund, weshalb das Projekt S21 ins Leben gerufen und durchgesetzt wurde, weit vor allen anderen Faktoren, die als Gründe für die Notwendigkeit eines Umbaus des Bahnhofs angeführt wurden (Ohme-Reinicke 2014; Schlager 2010). Die Beschleunigung des Verkehrsflusses zeugt vom allgegenwärtigen Streben nach Effizienzsteigerung in der heutigen Gesellschaft, wobei auch dies primär einen ökonomischen Hintergrund hat, denn es dient im Wesentlichen dazu Wirtschaftswachstum anzukurbeln. Die Reisezeitminimierung von einigen Minuten je nach Strecke, die ohnehin infrage gestellt wird, wird aus dieser Perspektive als "ein zum Fetisch gewordener Systemprozess" (Schlager 2010, S. 26) interpretiert.

Der Bonatzbau

Auf diesem Rundgang durch den Stuttgarter Hauptbahnhof, den wir als Bühne und Repräsentation machtimmanenter sozialer Praktiken und Strukturen verstehen, bildet der Bonatzbau, der im Zuge des S21 Projekts im Inneren und Äußeren modifiziert wird, den Mittelpunkt. Das Gebäude insgesamt sowie einzelne seiner Elemente, können als objektiviertes symbolisches Kapital gelesen werden, das durch Macht manifestiert wurde und Macht manifestiert. Beim Eintritt in die historische Empfangshalle des Bahnhofs, wird dies bereits an dessen Höhe und Größe deutlich.

Des Weiteren spielte der Bonatzbau eine wichtige Rolle in den massiven Konflikten um das Projekt S21 und er wurde mehrfach zur Stätte der unmittelbar physisch-räumlichen Dimension der Konflikte. Die Entstehung des Gebäudes erfolgte im Zeitalter der Moderne im Kontext der Auseinandersetzungen über die Bewahrung traditioneller Architekturformen gegenüber neuen Wegen in der Architektur. Das große, kantige und harte Bauwerk stellt ein imposantes Manifest konservativer Bauweisen dar. Architektonische Räume sind Bourdieu zufolge "die zweifellos wichtigsten Komponenten der Machtsymbolik und der ganz und gar realen Wirkung symbolischer Macht" (Bourdieu 1998, S. 21).

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Ein Ausschnitt der großen Baustelle direkt am Hauptbahnhof. Foto: Sven Endreß
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Der Bahnhofsvorplatz als Bühne und Repräsentanz machtimmanenter räumlicher Prozesse. Foto: Ulli Fetzer
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Ein physisch-räumlicher Machtakt ersten Grades? Der Abriss des Nordflügels am Bonatzbau im August 2010. Foto: Ulli Fetzer

Von dem Uhrturm der Bahnhofshalle aus, welcher als ein Wahrzeichen Stuttgarts gilt, wird über weite Teile der Stadt ein bedeutender symbolischer Ausdruck prädominierender sozialer Werte der Gegenwart ausgesendet. Auf ihm thront ein Mercedesstern von der Größe von fünf Metern im Durchmesser, welcher Innovationskraft und ökonomische Leistungsfähigkeit zum Ausdruck bringt.

Während die Entstehung des Bonatzbaus und der symbolische Ausdruck der Architektur des Gebäudes sowohl vergangene als auch gegenwärtige Macht- und Herrschaftsverhältnisse der kapitalistischen Gesellschaftsordnung repräsentiert, wurde indessen die Veränderung an diesem Gebäude zu einem der zentralen explosiven Konfliktpunkte mit sozialhierarchischer Bedeutung in der Anfangsphase von S21. Die massive Veränderung des öffentlichen Raums durch den Umbau des Bonatzbaus sowie des Bahnhofsvorplatzes, wurde von kapitalismuskritischen S21 Gegner*innen als der Inbegriff einer unternehmerischen Gestaltung des angeeigneten städtischen Raums empfunden (Ohme-Reinicke 2014, S. 112).

Wie Schlager (2010) anführt, entsteht durch die Gefühle, die durch diese Veränderung im angeeigneten physischen Raum bei den Menschen auf der gegnerischen Seite hervorgerufen werden, "die Möglichkeit, einen abstrakten Prozess an den lebensweltlichen Erfahrungen der Menschen zu konkretisieren" (Schlager 2010, S. 26). Die Konsequenzen der Ökonomisierung der Gesellschaft durch Imperative der Kapitalverwertung werden im Nahraum, indem sich der größte Teil des Lebens der Menschen abspielt, unmittelbar spürbar (ebd.), was sich in einem kollektiven Kampf um den angeeigneten physischen Raum manifestiert, wie es immer wieder bei Fragen öffentlicher Infrastrukturentwicklung geschieht (Bourdieu 1998, S. 25).

Die Menschen fühlen, dass sie gezwungen werden, sich einem Systemprozess der kapitalistischen Gesellschaftsformation zu unterwerfen, der direkt im angeeigneten physischen Raum vor ihrer Haustüre stattfindet und sie begehren gegen den damit verbundenen Verlust lebensweltlicher Sicherheiten und Ankerpunkte auf (Schlager 2010, S. 26).

Der Bahnhofsvorplatz

Einen Höhepunkt erreichten die immer mehr zu einem Massenphänomen heranwachsenden Proteste gegen S21 ab Juli 2010. Auf dem Gelände vor dem Bonatzbau befinden sich zu dieser Zeit rings um das Gebäude physisch-räumliche Manifeste der Macht in Form von Bauzäunen, welche die Ausgrenzung der Bevölkerung aus dem angeeigneten physischen Raum aufgrund der bald beginnenden Umbaumaßnahmen symbolisch markieren (vgl. Kühne 2008b, 42f.). Zugleich äußert sich der Protest an demselben Objekt physisch-räumlich, als die Bauzäune von der Bürgerbewegung in Besitz genommen und mit tausenden ironischen, witzigen und wütenden Protestäußerungen in Form von Texten und Kunstwerken aller Art behängt werden (Weitz 2020).

Die ersten sichtbaren S21 Bauarbeiten entfalten schließlich eine enorme Wirkung einer physischen Demonstration von Macht und Herrschaft auf die vielen Protestierenden. Ein riesiger Abrissbagger wird angeliefert, mit dem am 25. August 2010 der Nordflügel des Bonatzbaus unter lautstarkem Protest abgerissen wird, was die S21 Gegnerschaft als ein berechneter Machtakt interpretiert, der die Unumkehrbarkeit des Projekts ausdrücken soll und woraufhin die Intensität des Protests ein weiteres Mal stark anwächst (Schlager 2010, S. 17).

Die Masse an S21 Protestierenden bildete nie eine homogene Gruppe, denn die starke Ablehnung des Projekts beruht bei manchen Gegner*innen vor allem auf den Auswirkungen auf die Umwelt, andere stellen sich primär gegen die Veränderung im städtischen Landschaftsbild oder die Art der Durchführung des Projekts. Ein verbindendes Element unter weiten Teilen all der Menschen dieser Protestbewegung, die bis heute andauert, scheint jedoch in der Nichtakzeptanz der scheinbar vordergründigen Orientierung an Kapitalverwertungsinteressen in S21 zu bestehen.

In dem von Politiker*innen und Bahnverantwortlichen geführten Diskurs zeigt sich das Bemühen um Distinktion hinsichtlich ihres vermeintlich höhergestellten Wahrnehmungs- und Bewertungsschemas des Projekts dieser der herrschenden Klasse angehörigen Gruppe. So werden die europäische Idee und die Zukunftsorientierung hinter dem Projekt hervorgehoben, während die Gegnerschaft als "selbstgenügsame Provinzler[*innen]" (Schlager 2010, S. 14) diskreditiert werden. In solchen Äußerungen werden jedoch die hinter dem räumlichen Prozess stehenden systemischen Prozesse, die die Reaktionen der Bevölkerung hervorrufen, außer Acht gelassen.

Fazit

Bourdieu zeigt in seinem umfassenden Werk vielfach, wie verschiedenste Lebensbereiche sozialer Akteur*innen von gesellschaftlichen Bedingungen beeinflusst werden, so auch Raum und Landschaft. Die ungleiche Verteilung von Kapital bringt eine Klassenstruktur der Gesellschaft hervor, die sich anhand von klassenspezifischen Eigenschaften von Individuen und besonders im Ungleichgewicht von Macht und Herrschaft zeigt. Diese sozialen Verhältnisse sind in Raum und Landschaft eingeschrieben und beherrschen räumliche Prozesse maßgeblich, was ein hohes Konfliktpotenzial mit sich bringen kann und sich an S21 wie an kaum einem anderen Beispiel in Europa zeigt.

Am Eingangstor zur Stadt Stuttgart wird objektifiziertes symbolisches Kapital als Ausdruck von Macht inszeniert, beispielhaft konnte dies am Bonatzbau erkannt werden. Der Stuttgarter Hauptbahnhof wird außerdem wiederholt zu einer wichtigen Bühne des sozialen Kampfs um angeeigneten physischen Raum.

Ein Blick zurück auf bedeutsame Stationen der Protestbewegung erinnert an physisch-räumliche Ausprägungen des Konflikts, mit einer hohen symbolischen Aussagekraft bestimmter Objekte und Vorgänge, wie sie beispielsweise die ersten sichtbaren Bauarbeiten ausstrahlten.


Literatur
  • Bauer, U. & Bittlingmayer, U. H. (2000): Pierre Bourdieu und die Frankfurter Schule. Eine Fortsetzung der Kritischen Theorie mit anderen Mitteln? In: C. Rademacher & P. Wiechens (Hrsg.), Verstehen und Kritik. Soziologische Suchbewegungen nach dem Ende der Gewissheiten. Festschrift für Rolf Eickelpasch (S. 241-298). Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.
  • Baum, M. et al (2017): Kritische Theorie heute. In: ZPTh - Zeitschrift für Politische Theorie 8 (1), S. 47-112. Doi:10.3224/zpth.v8i1.04.
  • Bittlingmayer, U. H. & Freytag, T. (2019): Einleitung. In U. H. Bittlingmayer, A. Demirovic & T. Freytag (Hrsg.), Handbuch Kritische Theorie (1st ed. 2019, S. 3-38). Wiesbaden: Springer VS.
  • Bourdieu, P. (1987): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft (4. Auflage). Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
  • Bourdieu, P. (1991): Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum. In M. Wentz (Hrsg.), Stadt-Räume (Die Zukunft des Städtischen, Bd. 2, S. 25-34). Frankfurt am Main: Campus Verlag.
  • Bourdieu, P. (1992): Die verborgenen Mechanismen der Macht. Hamburg: VSA Verlag.
  • Bourdieu, P. (1998): Ortseffekte. In V. Kirchberg & A. Göschel (Hrsg.), Kultur in der Stadt. Stadtsoziologische Analysen zur Kultur (S. 17-26). Opladen: Leske + Budrich.
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  • Dirksmeier, P. (2007) : Urbaner Raum und Inklusion - zu einer Paradoxie der Moderne. Geographische Zeitschrift 95 (4), 199-210.
  • Fröhlich, G. & Rehbein, B: (2014). Bourdieu Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler.
  • Fuchs-Heinritz, W. & König, A. (2014): Pierre Bourdieu. Eine Einführung (3., überarb. Aufl.). Konstanz: UVK.
  • Korn, J. (2006): Transiträume als Orte des Konsums - eine Analyse des Standorttyps unter besonderer Berücksichtigung der Bahnhöfe. Berlin: Humboldt-Universität zu Berlin (Univ. Diss.).
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  • Reuter, W. (2001): Öffentlich-privates Partnerschaftsprojekt "Stuttgart 21". Konflikte, Krisen, Machtkalküle. disP - The Planning Review 145 (37), 29-40.
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  • Treibel, A. (2006): Kultur, Ökonomie, Politik und der Habitus der Menschen (Bourdieu). In A. Treibel (Hrsg.), Einführung in soziologische Theorien der Gegenwart (7., aktualisierte Auflage, S. 219-244). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Weitz, U. (2020): Tausendfach anonyme Massenkunst. Kontext: Wochenzeitung (489).
    www.kontextwochenzeitung.de/schaubuehne/489/tausendfach-anonyme-massenkunst-6927.html Zugegriffen: 26. Februar 2021.
 Linda Baum
Autorin

Studentin Humangeographie/Global Studies, Projektmitarbeiterin Uni Tübingen

Eberhard Karls Universität Tübingen

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