Architekturbiennale in Venedig - Sozialkritik und Schlichtheit
"Report von der Front"
von: Prof. Dr. Jürgen MilchertUnter diesem Titel findet im Jahr 2016 bis zum 27.11. die Architekturbiennale in Venedig statt. Nicht nur der Titel, sondern auch große Teile der Ausstellung sind sehr ungewöhnlich, denn der diesjährige Kurator der chilenische Architekt Aleajandro Aravena hat nicht zur traditionellen weltweiten Architekturleistungsschau aufgerufen, in denen immer großartigere und innovativere Architektur, Städtebau und Landschaftsarchitektur zu sehen sind, sondern er konfrontiert die weltweit vorhandene Alltagsarchitektur mit den heutigen Anforderungen einer wachsenden Weltbevölkerung, die sich vor allem in städtischen Agglomerationsräumen ständig vergrößert. Ein Bild der Welt wird vermittelt, in der die Schere von Arm und Reich sich immer weiter öffnet, ja wo es überall Fronten und Kriege, Armut und Gewalt gibt. Es geht also in diesem Jahr in Venedig um eine soziale Architektur, die angesichts der globalen Verarmungs- und Verelendungstendenzen und den gewaltigen Flüchtlingsströmen und dem daraus entstehenden Bedürfnis nach preiswertem und funktionalem Wohnraum, nach städtebaulichen, architektonischen und ökologischen Lösungen sucht.
Vielleicht leben wir ja wirklich in einer Zeit des epochalen Übergangs, also einer Wendezeit, wo sich vieles grundlegend ändert. In der diesjährigen Biennale ist nicht nur im großen Ausstellungspavillon des Kurators, sondern auch in vielen Länderpavillons die Faszination an der amateurhaften Architektur spürbar. Wie haben es die Menschen oft ganz selbständig und oft gegen die Behörden - fast ohne finanzielle Mittel und ohne profiarchitektonische Hilfe in den Favelas Südamerikas, in den afrikanischen und asiatischen Vorstädten und in den Armenviertel der Städte unserer Welt - geschafft, eine durchaus funktionsgerechte Architektur zu improvisieren, die auch fachlichen Respekt erzeugt. Stehen wir vor einer neuen laienbewegten Bauhausbewegung einer Do-It-Yourself-Architektur im Weltmaßstab?
In diesem Zusammenhang gewinnt die amateurgemachte oft improvisierte Architektur eine wachsende Bedeutung. Die Zukunft des Architekten liegt darin, die Rolle eines sozial orientierten, technisch geschulten Raummoderators anzunehmen, der zusammen mit den Stadt- und Landbewohnern preiswerte Architektur schafft, die sich stetig verändert und so Raum lässt für sich ändernde Ansprüche. Der diesjährige Pritzker-Preisträger Aravena scheint dies auch in seiner eigenen Architektur zu leben, denn sie lässt ihren späteren Bewohnern Raum, die Häuser zu komplettieren, (s.a. Stadt+Grün 05/2016, S. 58). Das utopische Moment der Architektur liegt vielleicht gar nicht in der Konzeption neuer Stadtstrukturen, neuer Materialien oder buntglitzernden Tempel und Museen, sondern im ganz konkreten Anpacken, möglichst preiswerten und lebensgerechten Wohnraum zu gestalten und zu organisieren. Dies alles ist vor einer Verstädterung der Welt zu sehen. Dem soll insbesondere in der sogenannten Dritten Welt nicht Hochhausschluchten, sondern eine kleinteilige Architektur entgegenwirken, die aus regionalen Baukulturen entwickelt wird. Es gibt keine Patentlösungen, sondern der Architekt soll an seine Architektur herangehen als wäre es immer das erste Mal. Beispielgebend wird hier der Schweizer Architekt Peter Zumthor genannt, dessen Büro in einem kleinen Dorf angesiedelt ist und der Region und Landschaft feiert und vor allem mit Holz baut.
Auch aus landschaftsarchitektonischer Sichtweise ist dies ein vielversprechender Ansatz. Noch schneller, noch näher sind im Freiraum die Möglichkeiten von Eigengestaltungen. Auch ist der Garten traditionell ein Bereich, wo man allein, in der Familie oder mit Nachbarn zusammen Eigengestaltung einübt. Diese großen inhaltlichen Chancen bergen leider auch berufspolitische Gefahren, denn der Garten und sein Aufgabenumfeld werden damit immer weiter entprofessionalisiert. Seinen Garten, seinen Park braucht man nicht professionell gestalten und pflegen lassen, da dies besser, einfacher, preiswerter oder geräuschloser in Nachbarschaftshilfe geht. Die vielen Erfahrungsebenen in den Kleingärten, Mietergärten, Urban-Gardening oder Green Guerillas verdichten sich so zum mächtigen Selbsterfahrungspaket, das uns Landschaftsarchitekten eigentlich immer entbehrlicher macht.
SUG-Stellenmarkt
Einfachere Botschaften in schlichteren Ausstellungsarchitekturen
Nicht nur inhaltlich, sondern auch was die Architekturen in den konkreten Pavillons betrifft, ist eine neue Schlichtheit und Nachdenklichkeit anzutreffen, eine Rückbesinnung auf Präsentationsstrategien, die beispielsweise in den 1920er Jahren oder in den 1960er-Jahren in der Architektur und Landschaftsarchitektur üblich waren und die man auch wieder vermehrt bei Wettbewerben oder in den Werkstätten und Zeichensälen der Hochschulen findet. Versuchte man sich in vergangenen Architektur-Biennalen oft gegenseitig an technischer Raffinesse und virtueller Potenz zu übertreffen, so erhalten heutzutage Modelle aus Holz, Metall und Papier den Vorzug. Es geht weniger um bunte Modenschauen, sondern um Handwerklichkeit, Authentizität und Verständlichkeit. Das Einfache gibt in komplizierten Zeiten mit ihren vielfältigen visuellen Möglichkeiten Halt. Man kommt sich in vielen Pavillons vor wie in einer Präsentation von Manufaktum. Vielleicht deutet sich auch bei uns eine Art aktuellen Bildersturms gegen die Gewalt der grellen Farben, schrillen Töne und unerträglichen Schnelligkeiten unseres virtuellen Alltags an. Wahrscheinlich befinden wir uns in einem Zeitenwechsel wie in der Uhrenindustrie. Dort führte die Inflation der quarz- und elektronisch Uhren zur Anerkennung der guten alten Mechanik.
Die Faszination an der virtuellen Zauberei, der immer leistungsfähigeren Rechner, Zeichenprogrammen, Videos scheint zu schwinden. Gäbe es nicht das Heer der handybestückte Besucherinnen und Besucher der Biennale, die aus allen Lagen fotografieren, filmen, telefonieren und Selbstgespräche führen, so ist auf dieser Biennale in einigen Pavillons eine gewisse Zeitlosigkeit spürbar. Erstaunlicherweise wird in manchen Pavillons und Ausstellungsräumen auch das Einzelbild gefeiert, als großformatige Darstellung aber auch postkartengroße Kleinbildserien, die interessierte Besucher kostenlos mitnehmen können.
Interessantes, Neues, Nachdenkliches und Fragwürdiges im Stadtpark
Die beiden großen Ausstellungsgelände, der Giardino (also im historischen Stadtpark Venedigs) und das Arsenale-Gelände (historisches Hafen- und Werftgelände Venedigs) bieten eine Vielzahl an interessanten Ausstellungen. Rechnet man die außerhalb gelegenen Ausstellungen meist kleinerer Staaten und Regionen und spezielleren Architekturen im Stadtgebiet hinzu, so werden es fast 200 Besichtigungsorte sein. Ein Gang durch die klassischen Länderpavillons des Giardino macht sehr starke Unterschiede in den einzelnen Schauen deutlich.
Der Pavillon Russlands prunkt mit den vermeintlich großartigen Architekturen der stalinistischen Zeit (1930 bis frühen 1950er-Jahre) in dem Vielvölkerstaat Sowjetunion. Es ist diesmal eine Propagandavorstellung des "sozialistischen Realismus" und wohl auch eine Machtdemonstration des Restimperiums an die Besucher, vor allem aus den inzwischen staatlich selbstständigen ehemaligen Sowjetrepubliken. Prächtige Herrschaftsbauten im Zuckerbäckerstil, kombiniert mit monumentalen Denkmalen glücklicher Arbeiter und Bauern. Es ist auch ein Bericht von einer neuen Front im sogenannten kalten Krieg, den man eigentlich längst überwunden glaubte.
In deutlichen Gegensatz dazu steht in diesem Jahr der Pavillon der USA. Im Mittelpunkt steht Detroit als "failed Town", die als Stadt im Jahre 2013 in Konkurs ging. Dies wird gar nicht so sehr beklagt, sondern in US-amerikanischem Pragmatismus, als weltweites Modell gesehen, wie man aus einem Desaster ein Gewinn machen kann. Die beiden Kuratorinnen Cynthia Davidson und Monica Ponce de Leon erklärten in einem Interview in der "Bauwelt" 20/2016 hierzu "Das heutige Bild Detroits ist das einer verlassenen Millionenstadt, ein Relikt mit dem Glanz vergangener Zeiten, bestimmt von Ruinen, Leere und dem Einzug der Natur in die gebaute Stadt. Der "Ruin Porn" wie die Medien Detroit nennen, wird zur Modellstadt der Zukunft. Die Stadt bietet heute viel Raum für Experimente." Vier Architekturbüros stellen meist pragmatische Zukunftsentwürfe für einige Stadtsituationen in Detroit vor, während eine Postkartenserie eine Art Poesie des Niedergangs illustriert.
Das Thema Flüchtlinge und daraus resultierende Integrationsstrategien sind vor allem im deutschen und im österreichischen Pavillon zu finden. Der österreichische untersucht vor allem die vielen Möglichkeiten, Zwischenlösungen für die Aufnahme von Flüchtlingen aufzuzeigen. Der deutsche Pavillon, ein klassisches Beispiel faschistischer Herrschaftsarchitektur, öffnet sich in eine eindrucksvolle Geste den Besuchern: Die herrschaftliche Architektur wird zeitgemäß geöffnet, also öffentlich gemacht. Jede Seite des Pavillons wird geöffnet und die herrschaftliche Haupteingangssituation zurückgebaut, sodass aus einer repräsentativen Raumsituation eine Art überdachter Basar baulicher und integrationsfördernder Ideen, Maßnahmen und Gebäuden geboten wird. Neun qualitätsbetonte Projekte neuer Baulichkeiten zur Flüchtlingsaufnahme werden anhand großformatiger Bilder gezeigt. Unterstrichen wird dies durch eine kostenlose Fotoserie, die den Besuchern mit dem Wandel und mit dem gesellschaftlichen Gewinn hin zu einer multikulturellen Gesellschaft vermittelt.
In vielen von Immigranten bewohnten Stadtquartieren ist eine Art "Neue Heimat" entstanden, ein Begriff der nicht rückwärtsgewandt interpretiert wird, sondern als eine neue spannende Mentalität. Hierbei wird insbesondere der kulturelle Gewinn einwandernder Kulturen für deutsche Städte gezeigt. Leider kommen in diesem Zusammenhang die öffentlichen und halböffentlichen Parks und Gärten und ihr Integrationspotenzial zu kurz. Wo anders als in den öffentlichen Parks und Spielplätzen, in den Kleingartenkolonien und internationalen Gärten lässt sich alltagsbetont das Nebeneinander verschiedener Kulturen leben. Die Pavillons Österreichs und Deutschlands sind "Begrüßungspavillons" und Statements für Asylanten und Emigranten und kulturelle Vielfalt. Angesichts der sich inzwischen deutlich kritischeren politischen Stimmungslage im Umgang mit den Flüchtlingen ist abzulesen, wie schnell sich heutzutage politische Akzeptanz verändern kann. Vermutlich würde Deutschland und Österreich heute weniger optimistische Beispiele zeigen.
Im Schweizer Pavillon wird eine Installation des Raumkünstlers Christian Kerez gezeigt. Während bei der letzten Architekturbiennale der Basler Soziologe Lucius Burckhardt seine Interventionen im Bereich von sozialer Stadtplanung, Landschaftsarchitektur und architektonischem Diskurs gezeigt wurden, stellt man diesmal eine künstlerische Inszenierung vor. In einem komplexen Prozess ist eine amorphe begehbare Betonskulptur entstanden. Angesichts des Themas "Bericht von der Front" passt sie eigentlich in diesem Jahr nicht so sehr in diese Ausstellung, anderseits stellt sie einen ziemlich seltenen besinnlichen Ruhepol auf dieser sozialkritisch lauten Biennale dar. Man wird an vielen Stätten auf der Architekturbiennale mit Beispielen bekannter aber auch zu ent-deckender Schweizer Architektur und Architekten konfrontiert. Es gibt wohl kein Land und keine Architekten die stärker auf dieser Biennale gefragt sind als die Schweiz und Schweizer Architekten. In der Architektur scheint dieses kleine Land in der Mitte Europas eine Großmacht zu sein. Vielleicht ist dies dem Bemühen der Schweiz als innovatives Land international zu verdanken, das man hiermit weltweit Früchte erntet.
Die beiden bevölkerungsreichsten Länder - China und Indien - treten diesmal mit eher ungewöhnlichen Fragestellungen an die Öffentlichkeit der Architektenwelt. China, das sich bisher mit viel technischem Aufwand als neue Weltmacht präsentiert, besinnt sich in diesem Jahr auf seine kulturellen Grundlagen und stellt vor allem seine taoistischen Wurzeln in einen alltagstauglichen heutigen anwendungsbezogenen Kontext. In der chinesischen Halle auf dem Arsenale-Gelände sind verschiedene kleine Stationen entstanden, wo man sich über chinesische Hausarchitekturformen Formen und architektonische Traditionen informieren kann. Vor der Halle in dem vor wenigen Jahren entstandenen Außengarten wird das Thema "Urban Gardening" mit Gemüse, Obst und Kräutern in allerlei Kübel und Töpfen präsentiert. Der Landschaftsarchitekt erhält eine neue Rolle als Berater der Bewohner.
Indien trat bisher bei der Architekturbiennale kaum in Erscheinung. Das hat sich sichtbar verändert. So wird das Werk von Anupama Kundoo im indischen Musterstädtchen Auroville gezeigt. Ein großer Raum in den Arsenale-Hallen nimmt einen steinernen Garten in den Mittelpunkt, der eine Mischung naiver volkstümlicher Kunst und Landschaftsarchitektur ist. Der Ingenieur Nek Chand zauberte im indischen Chandigarh eine Art Garten als Gesamtkunstwerk. Wo Le Corbusier eine Idealstadt der Moderne gestaltet hat, wurde mit volkstümlich hinduistischer eine Welt der Götter geschaffen. Über viele Jahre hat der Ingenieur Nek Chand auf einem gut 30 Hektar großen Gelände eine Art Zaubergarten errichtet, in der sich in naiver Formensprache die innere Welt des Hinduismus entfaltet. Man könnte dies als Kitsch bezeichnen, man kann sie aber auch mit Gartenkunstwerken vergleichen, wie beispielsweise Antoni Gaudis Parc Güell in Barcelona, wo die Kräfte der Erde visualisiert werden.
Für uns Landschaftsarchitekten wird auf dieser Biennale auf den ersten Blick erstaunlich wenig geboten. Beim zweiten Blick relativiert sich die Beobachtung, denn das Grün findet als Teil größerer Bauprojekte insbesondere im sozialen Wohnungsbau Beachtung. So beispielsweise in Japan, in Südamerika, in China und in einigen afrikanischen Ländern. Außerdem finden sich vor allem im Centralpavillon im Stadtpark fast überall interessante Details, wie man den Raum in die Landschaft einbeziehen kann, so ein neuer Schulraum in Chile, bei dem man einfach das Dach entfernen kann, so dass man in einer Art Cabrioklassenraum befindet und sich die Schüler einer heilenden Natur öffnen können. Oder im chinesischen Chengdu, wo aus einer Ansammlung von Häusern erst eine Stadt wurde, als ein offene Fläche als im doppelten Sinne genutzter Freiraum entstand, der als eine gute und vielfältige Neuigkeit definiert wird. Am Stadtrand von Barcelona entstand auf einer zerstörten Hanglandschaft eine neue Terrassenlandschaft.
Am Eingang in das Arsenale-Gelände findet man eine Installation von Werner Sobek, die aus einem Strahl von Licht und Nebel besteht und mühelos und schwerelos Aufmerksamkeit auf sich zieht. Sozusagen die helle Seite architektonischer Macht erzeugt ein Projekt in Mexiko-City, wo quer durch Gewalt und Armut gekennzeichnetes Brachgelände linear von einem Weg überquert werden soll, als eine Art Highline, wo die dunkle Seite beobachtet werden kann.