Entwurfspraxis als Bestandteil der Forschung
Doctor of Architecture?
von: Dipl.-Ing. (FH) Sebastian FeldhusenMan lernt Entwerfen maßgeblich durch das Entwerfen. Und das Entwerfen probiert man in Universitäten im Rahmen von Projekten aus, die einen speziellen Fall behandeln. Der spezielle Fall ist in der Regel ein konkreter Ort. So lautet etwa die Position der meisten Entwurfslehrstühle zur Lehre in Studiengängen der Architektur und Landschaftsarchitektur in der Bundesrepublik. Deshalb sind seit den 1980er-Jahren fast alle Studiengänge als sogenanntes "Projektstudium" konzeptioniert. Das bedeutet, dass im Zentrum des Studiums die zeitlich begrenzte Auseinandersetzung mit einem Ort steht: Er wird analysiert, an ihm werden Problem- und Fragestellungen entwickelt und Lösungen für Veränderungen erprobt. Die Projektarbeit ist von einem wechselseitigen Austausch zwischen Student und Dozent, manchmal auch zwischen Verantwortlichen aus der Verwaltung, anderen Institutionen oder Bürgern geprägt. Wenn alles gut verläuft, werden nach der Projektarbeit Prinzipien über das Entwerfen oder über den Entwurf herausgearbeitet, die über den speziellen Fall hinausgehen. Geschieht das, ist der spezielle Fall zum Beispiel geworden. Das ist seit Jahrzehnten - ergänzend zu Vorlesungen, Seminaren und Kolloquien - als eine mögliche Form der Lehre anerkannt. Aber ist das auch Forschung?
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Marcelo Stamm, Professor für Philosophie der Kreativität am Royal Melbourne Institute of Technology (RMIT), beantwortet die Frage - verkürzt ausgedrückt - folgendermaßen: Ja, und zwar dann, wenn unter "Forschung" in Disziplinen wie Architektur und Landschaftsarchitektur eine Suche nach einem Phänomen im Entwerfen oder in realisierten Entwürfen aufgenommen, gefunden, untersucht und nachvollziehbar einer zweiten Person vermittelt werden kann. So etwa argumentierte Stamm in einem Abendvortrag im Mai 2016 an der Technischen Universität Berlin.
Stamm wurde vom Fachgebiet Entwerfen Objektplanung eingeladen, das sich unter der Leitung von Jürgen Weidinger seit einigen Jahren mit der Entwurfsforschung beschäftigt. (Vgl. unter anderem Weidinger 2013) Die von Stamm vertretene Position ist nicht neu, aber in einer gewissen Weise radikal, da er sie mit einem Privileg von Universitäten zusammenbringt: der Verleihung des Doktorgrades.
Das Modell "Practise Research Symposium"
Seit etwa 20 Jahren existiert ein englischsprachiges Promotionskolloquium unter dem Namen "Practise Research Symposium", das weltweit agiert und aus Melbourne koordiniert wird.¹ Es ermöglicht praktizierenden Entwerfern einen Doctor of Philosophy (Ph.D.) zu erwerben. Das geschieht - und das ist besonders - indem die Kandidaten ihre Praxis und ihre Resultate als Gegenstand der Untersuchung auffassen. Derzeit umfasst das Kolloquium etwa 200 Kandidaten, die in der Regel jahrelange Erfahrungen in der Praxis gemacht haben und deren Abschlussarbeiten Jahre zurückliegen. Die Kandidaten stellen in der dreijährigen Promotionsphase ihren Arbeitsstand an sechs Kolloquien einem international besetzen Gutachtergremium, den anderen Kandidaten und der interessierten Fachöffentlichkeit vor, zuletzt im April 2016 im belgischen Gent. Die Kandidaten dokumentieren und diskutierten die Kolloquien visuell und schriftlich. Zusammen bilden sie den Kern der nach drei Jahren einzureichenden Dissertationsschrift.
Aber die Dissertationsschrift sei vielleicht gar nicht das Wichtigste in dem gesamten Arbeitsprozess, so Stamm. Viel wichtiger sei es, dass die Kandidaten durch die Arbeit neue Erfahrungen machen, mit sich selbst und mit ihrer Praxis. Dazu gehört zum Beispiel, dass die Kandidaten die Sprache überdenken sollen, mit der sie gewöhnlich über ihre Arbeiten in der Öffentlichkeit reden. Die Position, die Stamm hier vertritt, lautet etwa: Die teilnehmenden Entwerfer können zwar gut gestalten, aber bei der Verbalisierung ihrer Ergebnisse fallen sie häufig in eine Sprache, die eher der eines Verkäufers gleicht, nicht der eines Entwerfers. Dabei ginge es nicht darum, dass die Entwerfer richtig sprechen lernen sollen, vielmehr werden sie dazu befähigt, eine für ihre Arbeit adäquate "Stimme" zu finden, so Stamm. Das sei keine psychologische Selbstfindung, sondern ein notwendiger Schritt, um einen authentischen Zugang zum Gegenstand der Untersuchung zu gewinnen. Der Entwerfer versetzt sich dadurch erst in einen Modus der Untersuchung der eigenen der eigenen Praxis und Resultate, nicht in dessen Präsentation.
Das Modell "Practise Research Symposium" im Diskurs
Das Promotionskolloquium geht von der Annahme aus, dass in der Praxis ein Wissen erarbeitet wird, das noch nicht hinreichend bedacht wurde, sowohl vom Entwerfer selbst als auch von Personen in anderen Disziplinen, auch in solchen, die im engeren Sinne keine Entwerfer0 sind, zum Beispiel Geisteswissenschaftler. Das liegt daran, dass der Entwerfer in der Regel nicht über seine Praxis nachdenken, sondern Vorschläge für dingliche und räumliche Veränderungen macht. Das Arbeitsprogramm des Promotionskolloquiums lautet deshalb verkürzt ausgedrückt: Das, was in der Praxis implizit geschieht, soll explizit gemacht werden.
Das Interesse an einem solchen Arbeitsprogramm steht - zumindest in der Bundesrepublik - in einem Zusammenhang mit dem Begriff "Entwurfsforschung". Hierbei handelt es sich nicht um eine Disziplin, sondern um ein Forschungsfeld, an dem unterschiedliche Disziplinen an Fragestellungen im Themenfeld "Entwurf" arbeiten. Neben den gestalterischen Disziplinen gehören hierzu neben Naturwissenschaften insbesondere Geisteswissenschaften. In der Bundesrepublik hat diese Entwurfsforschung in den letzten zehn Jahren einen Aufwind erfahren. Das belegen diverse Tagungen und Publikationen. Die Entwurfsforschung steht aber wiederum in einem diskursiven Zusammenhang, der mit den zahlreichen Turns in den Wissenschaften verbunden ist. Mit diesem Begriff soll ein Einstellungswechsel auf den Gegenstand der Untersuchung nicht einzelner, sondern einer Vielzahl von Forschern oder sogar Disziplinen zum Ausdruck gebracht werden.
Thomas S. Kuhn hat so etwas 1962 einen "Paradigmenwechsel" genannt. (Kuhn [1962] 1996) Abgesehen davon, ob es sich im Einzelnen tatsächlich um einen Einstellungswechsel auf den Gegenstand der Untersuchung handelt, oder um graduelle Verschiebungen: Für die Diskussion zur Entwurfsforschung ist der Spatial Turn (vgl. Döring und Thielmann 2009) und Material Turn (vgl. Hahn 2015) einerseits und dem Practice Turn (vgl. Stern 2003) und Performative Turn (vgl. Volbers 2014) andererseits wichtig. Diese Turns, zu den noch andere hinzugezählt werden müssten, bilden etwas ab, was die Entwurfsforschung begünstigt: Auf der einen Seite eine verstärkte Aufmerksamkeit für Dinge und Räume bei der Untersuchung der Umwelt. Auf der anderen Seite die intensivere Zuwendung zu den Praktiken bei der Gestaltung von Dingen und Räumen als Teil der Umwelt. In diesem Klima wird seit den letzten Jahren verstärkt über die "Entwurfsforschung" diskutiert. Das "Practise Research Symposium" der australischen Universität ist hierfür ein Beispiel.
Fragen an das Modell "Practise Research Symposium"
Abgesehen davon, dass Stamm in seinem Vortrag aus Zeitgründen keine abgeschlossenen Arbeiten vorstellen konnte, bleiben noch viele weitere Frage an das Modell offen, zum Beispiel: Welche Quantität und Qualität muss die Arbeit - der Entwurf und der realisierte Entwurf - besitzen, um sie zum Gegenstand einer Forschung zu machen? Und was macht man, wenn man noch keine Landschaftsarchitektur realisiert hat, was bei fast allen Master-Absolventen der Fall ist? Reicht es, einen Entwurf in Form von Texten, Zeichnungen und Arbeitsmodellen entwickelt zu haben?
Hilfreich war hier Stamms Hinweis, dass man zwischen drei verschiedene Forschungsarbeiten in ihrem Modell "Practise Research Symposium" unterscheiden müsse: (1.) Forschungen über das Entwerfen, (2.) Forschungen für das Entwerfen und (3.) Forschung durch das Entwerfen. Damit ist schlicht gemeint, dass es einen Unterschied macht, ob man über das Entwerfen reflektiert, ob man über das zukünftige Entwerfen
nachdenkt oder ob man entwirft und das als Forschung auffasst. Das trifft auch die gängige Differenzierung in der Entwurfsforschung, die sich in Formeln wie "Research about Design", "Research for Design" und "Research through Design" seit langem ausdifferenziert hat. (vgl. Frayling 1993/1994) Hierbei handelt es sich um verschiedene Untersuchungsgegenstände im gemeinsamen Forschungsbereich "Entwurfsforschung", wobei Mischformen nicht ausgeschlossen sind.
Teile der deutschsprachigen Entwurfsforschung in der Architektur und Landschaftsarchitektur haben sich in den letzten Jahren insbesondere um den ersten Bereich bemüht - der Reflexion des Entwerfens - wobei eingeräumt werden muss, dass es sich dabei in vielen Fällen um eine gängige Forschungsfrage einer geisteswissenschaftlich orientierten Theorie der Architektur handelt (vgl. bspw. Wolkenkuckucksheim 1999).
Und genau hierfür ist es nicht Voraussetzung, dass der Forschende selbst Gebäude oder Freianlagen realisiert hat. Leitfragen solcher Untersuchungen sind beispielsweise: Was ist Entwerfen? Wie werden im Entwerfen Entscheidungen getroffen? Was unterscheidet das Entwerfen von anderen Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben oder Rechnen? Was für ein Wissen erarbeitet sich der Entwerfer durch das Entwerfen? Weniger erprobt ist der dritte Ansatz, bei dem im Mittelpunkt der Entwerfer und seine eigene praktische Arbeit und dessen Resultate stehen.
Voraussetzung hierfür ist eine Praxis, die Master-Absolventen gar nicht haben können. Genau in diesem Punkt dürfte übrigens der größte Zündstoff liegen, da er sich von Forschungsarbeiten mit breit anerkannter Methodologie stark unterscheidet.
Ausblick
Im Folgenden werden zum Schluss drei Themen angesprochen, die in der Diskussion nach dem Vortrag nur angeschnitten werden konnten, aber für eine weitere kritische Auseinandersetzung mit dem Modell "Practise Research Symposium" hilfreich erscheinen:
(1.) Damit sich jede Person, nicht zuletzt die Gutachter der Promotion, ein Bild von der Untersuchung machen können, muss die "Anatomie der Forschung" am konkreten Fall veranschaulicht werden. Das heißt der Forscher muss - verkürzt formuliert - folgendes herausstellen: (a) die Problem- und Fragestellung und gegebenenfalls die zur Diskussion stehenden Thesen oder Hypothesen, (b) die Beziehung des Forschers zum Forschungsgegenstand, (c) die Methoden und Werkzeuge der Forschung, (d) die Gliederung sowie Schlüssigkeit der Übergänge zwischen Gliederungspunkten, (e) die Form der Arbeit sowie (f) die Ergebnisse der Arbeit. Die meisten der genannten Punkte sind bei der Abfassung einer Forschungsarbeit obligatorisch. Von besonderer Art sind eher die Punkte (b) und (f). Sie sind besonders, da gerade in der Entwurfsforschung klar werden muss, ob der Gegenstand der Untersuchung selbst entworfen wurde oder nicht (b) und in welche Form die Dissertationsschrift vorliegt, eher visuell, eher schriftlich, eher dinglich oder eher räumlich (f)?
(2.) Die Entwurfsforschung ist aber auch aus eigenem Interesse gut beraten, inhaltliche Kritik ernst zu nehmen, um nicht wissenschaftstheoretische Fehlschlüsse zu ziehen. Ernst nimmt sie das unter anderem dann, wenn das Promotionskolloquium durch wissenschaftstheoretische Begleitforschungen reflektiert wird, die auf eine herkömmliche wissenschaftliche Weise vollzogen wird. So wie es beim "Practise Research Symposium" der Fall ist: Zum Ende des Jahres 2016 soll ein "Glossarium" erscheinen, in dem wichtige wissenschaftstheoretische Begriffe der Entwurfsforschung erläutert werden. Dabei besteht die Aufgabe dieser Begleitforschung nicht darin Arbeiten und das Modell zu legitimieren, sondern Stärken und Schwächen herauszuarbeiten und sie für Veränderungen transparent zu machen.
(3.) Stamm wird nicht müde zu betonen, dass diese Art von Promotion keinesfalls die herkömmlichen Doktorandenverfahren in der Architektur und Landschaftsarchitektur ersetzen solle, die in den meisten Fällen auf eine erfolgreiche Geschichte zurückblicken könnten. Es ginge vielmehr um Ergänzung. Könnte darin nicht ein Schlüssel liegen, solche Promotionen auch in der Bundesrepublik zu diskutieren und auch zu praktizieren?² Das heißt, dass es - im Bereich der Architektur und Landschaftsarchitektur - neben dem eher empirisch, geschichtlich oder theoretisch orientierten Doktor der Philosophie (Dr. phil) oder der Ingenieurwissenschaften (Dr.-Ing.) auch ein Doctor of Philosophy (Ph.D.) gibt, der dann aber entwurfsbasiert ist? Vielleicht heißt dieser dann "Doctor of Architecture"? Das würde womöglich unnötige Auseinandersetzung vermeiden, zum Beispiel, dass der Ph.D. mit dem eingeführten Doktor verglichen wird. Der Ph.D. wäre damit eine weitere Ausdifferenzierung nach der Bologna-Reform: Neben den etablierten Graden, die nach einem Bachelor- und Master-Studium, oder eben nach dem erfolgreichen Verteidigen einer herkömmlichen Dissertationsschrift von den Universitäten verliehen werden könnte. Dabei stellt sich allerdings auch die Frage - wie vielfach von Kritiker angemerkt - wofür ein Entwerfer ein Ph.D. überhaupt benötigt? Das ist aber eine andere Diskussion.
Literatur
¹ Siehe auch die Internetseite des Programms: www.rmit.edu.au/about/our-education/academic-schools/architecture-and-design/research/practice-research-symposium-prs
² Das Fachgebiet von Jürgen Weidinger an der TU Berlin wird ab Oktober 2016, in Zusammenarbeit mit Entwurfsfachgebieten des Instituts für Architektur der TU Berlin, das Promotionskolloquium "PEP - Programm Entwurfsbasierte Promotion" veranstalten.
Literatur
Döring, Jörg und Tristan Thielmann (Hg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Zweite Auflage. Bielefeld 2009.
Frayling, Christopher: Research in Art and Design. In: Royal College of Art Research Papers. Jg. 1, Heft 1, 1993/1994, Seiten 1-5.
Hahn, Hans-Peter (Hg.): Vom Eigensinn der Dinge. Für eine neue Perspektive auf die Welt des Materiellen. Berlin 2015.
Kuhn, Thomas S.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen [1962]. Frankfurt am Main 1996.
Schneidewind, Uwe und Mandy Singer-Brodowski: Transformative Wissenschaft. Klimawandel im deutschen Wissenschafts- und Hochschulsystem. Zweite und durchgesehene Auflage. Marburg 2014.
Stern, David G.: The Practical Turn. In: Turner, P. Stephen und Paul A. Roth, (Hg.): The Blackwell Guide to the Philosophy of the Social Sciences. Oxford, Melbourne, Berlin 2003, S. 185-206.
Volbers, Jörg: Performative Kultur. Eine Einführung. Wiesbaden 2014.
Weidinger, Jürgen: Entwurfsbasiert forschen. 2013.
Wolkenkuckucksheim, Internationale Zeitschrift zur Theorie der Architektur. Jg. 4, Heft 6, www.cloud-cuckoo.net/openarchive/wolke/deu/Themen/themen991.html (zuletzt abgerufen am 20.07.2016).