Landschaftsbewertung in der Metropolregion FrankfurtRheinMain
Zwischen Vogelzwitschern, ICE und Autobahn
von: Dr.-Ing. Sandra SieberDie metropolitane Landschaft als Realität
Die Metropolregion FrankfurtRheinMain ist eine von elf Metropolregionen in Deutschland, sie erstreckt sich über drei Bundesländer (Hessen, Rheinland-Pfalz und Bayern) und hat fast sechs Millionen Bewohnende. Im Kern der Metropolregion liegt der Ballungsraum Frankfurt/Rhein-Main mit 2,4 Millionen Bewohnenden. Die Region zählt sich zu den wirtschaftlich stärksten Regionen in Deutschland und Europa und bildet den Knotenpunkt wichtiger Nord-Süd- und Ost-West-Verbindungen im Schienen-, Straßen- und Luftverkehr. Entsprechend dicht ist hier das Geflecht an Siedlungs- und Infrastruktur. Nur das Ruhrgebiet weist in Deutschland eine größere Dichte auf.
Am östlichen Rand des Ballungsraums liegt im Main-Kinzig-Kreis das hessische Kinzigtal, eingebettet zwischen Spessart und Vogelsberg. Das hessische Kinzigtal ist touristisch noch eher unbekannt, aber alle, die einmal mit dem ICE zwischen Frankfurt und Fulda unterwegs waren, kennen das Tal. Neben der Bahntrasse – die aktuell zwischen Hanau und Gelnhausen von zwei auf vier Schienen ausgebaut wird und zukünftig bis Fulda auf einer komplett neuen Trasse verlaufen soll – verlaufen auch die A 66, eine Stromtrasse und eine Ferngasleitung im Talraum. Auch eine der historischen Linienführung der Hohen Straße oder Via Regia verlief hier. Obwohl der Main-Kinzig-Kreis zur Metropolregion FrankfurtRheinMain und in Teilen zum Regionalverband FrankfurtRheinMain gehört, wird der kommunale Zusammenschluss "SPESSARTregional" im Kreis seit 2008 durch LEADER gefördert und ist Mitglied im bundesweiten "Netzwerk Daseinsvorsorge", einer Arbeitsgemeinschaft für Daseinsvorsorge und Lebensqualität im ländlichen Raum.
SUG-Stellenmarkt
Mit Blick auf klassische Herangehensweisen an die Landschaftsbildbewertung, wie sie von Nohl oder auch Wöbse beschrieben werden, bietet das Kinzigtal eigentlich alle Mängel und Störfaktoren: Lärm, Flugverkehr, Zersiedelung und Versiegelung, Gewerbe- und Industriekomplexe, Auto- und Eisenbahn, Stromtrassen, bis hin zu unattraktiven Ortsausgängen und weithin sichtbarer Reklame. . . Dennoch erfüllt das Tal mit seinen Auen wichtige Funktionen für Arten- und Hochwasserschutz. Auch der Radfernweg R3 (Rüdesheim-Fulda-Tann in der Rhön) und die Kinzig-Route des Regionalpark RheinMain, die aktuell von der Kinzigmündung in Hanau bis Langenselbold reicht und perspektivisch bis zur Kinzigquelle weitergeführt werden soll, verlaufen im Talraum. Die kulturellen und landschaftlichen Angebote prädestinieren den Talraum in Kombination mit den zahlreichen Bahnhalten, Rad- und Wanderwegen für Naherholung und Tagestourismus im Kontext der Metropolregion. Die Weiterführung der Kinzig-Route gab Anlass für das Verbundprojekt NaTourHuK¹. Im Projekt soll im Sinne eines für alle Seiten positiven Stadt-Land-Ausgleichs eine nachhaltig ausgerichtete Strategie für Naherholung und Tagestourismus entwickelt werden, was immer auch die Lebensqualität der Ortsansässigen miteinschließt. Es gilt, die bestehenden Qualitäten, wie die Nähe zum Ballungsraum, den nahezu ebenen Radfernweg R3, die zahlreichen Bahnhaltepunkte, die Auenlandschaft, die historischen Ortskerne sowie die Kultur- und Freizeitangebote zu stärken. Gleichzeitig müssen bestehende Flächennutzungskonflikte zwischen Erholungssuchenden, Naturschutz und Landwirtschaft entschärft und weitere Konflikte vermieden werden.
Die Qualitäten der Mängel?
Während die Stärken und Schwächen des Kinzigtals und seiner Kommunen gut in einer SWOT-Analyse erfasst werden konnten, stellt die Bewertung der "Landschaft" selbst eine Herausforderung dar. Das Kinzigtal mit seinen Siedlungs- und Infrastrukturen lässt sich eher dem weiten Landschaftsbegriff zuordnen, den auch die europäische Landschaftskonvention verwendet. Dieser weite, in Richtung des Sozial-Konstruktivismus gehende Begriff von "Landschaft" wertet nicht und schließt immer auch Elemente der Siedlungs- und Infrastruktur mit ein. Er steht im Gegensatz zum tradierten engen Landschaftsbegriff, der am Bild der kleinbäuerlichen (historischen) Kulturlandschaft orientiert ist und der sich auch in den oben beispielhaft genannten Bewertungsansätzen als Idealzustand widerspiegelt. Für das Kinzigtal wurde ein Bewertungs- oder besser Erfassungsansatz gesucht, mit dem es möglich wäre, die Charakteristik des Raumes herauszuarbeiten, ohne in deterministische Bewertungen des engen Landschaftsbegriffs (z. B. "unzerschnitten" von Infrastruktur = gut, "zerschnitten" = schlecht) zu verharren.
Atmosphäre – Das Greifbare im nicht Fassbaren?
Zur Erfassung der Charakteristik des Kinzigtals wurde eine Methode der Atmosphären-Forschung aus der Stadtgeographie adaptiert. Rainer Schönhammer² (Professor für Psychologie der Gestaltung) beschreibt die "Atmosphäre" als einen gleichermaßen diffusen wie spezifischen und typischen Gesamteindruck oder Umgebungscharakter, der nicht ohne weiteres auf einzelne Faktoren zurückzuführen ist, wie etwa das "Urbane" oder das "Ländliche/Dörfliche". Für Schönhammer ist eine – durch etwas oder durch eigene Anstrengung – herausgehobene Aufmerksamkeit oder Wahrnehmung ein wichtiges Element im Verständnis des Erlebens von Atmosphären. Damit ist aber auch das Grundproblem des Atmosphären-Begriffs angesprochen: Vermittelt der Gesamteindruck einer Umgebung "Stimmungen", die von Betrachtenden wahrgenommen/empfunden werden oder projizieren Betrachtende ihre Stimmung in den Gesamteindruck einer Umgebung?
Mit Blick auf die sozialkonstruktivistische Landschaftstheorie stellt sich auch die Frage, wie allgemein wahrnehmbar (intersubjektiv) Atmosphären tatsächlich sein können oder ob Personen nicht einfach ihre erlernte Landschaftssozialisation in die erlebten "Atmosphären" hineininterpretieren. Wären Atmosphären intersubjektiv erfahrbar, brächte es allerdings auch keine geschulten Personen zu ihrer Erfassung. Der Geograph Rainer Kazig³ versucht, differenziert auf die Möglichkeit der Intersubjektivität von Atmosphären einzugehen. Er verweist auf Orte mit hoher atmosphärischer Dichte und Homogenität, die dann auch von unterschiedlichen Personen erlebt werden können und nennt Kirchenräume als Beispiel. Andererseits können Sozialisation und individuelle Vorerfahrungen dazu führen, dass vorhandene Elemente, kulturell bedingt, unterschiedlich interpretiert werden. Unabhängig von Sozialisation oder Kultur seien aber elementare Atmosphären erfahrbar, wie die der Gefahr oder die von Schönhammer genannte emotionale Überwältigung. Hier berührt das Konzept der Atmosphäre auch Aspekte der Umweltgerechtigkeit, wenn der typische Gesamteindruck eines Ortes von dauerhaften Stressfaktoren wie Lärm und Gefahr geprägt ist.
Schönhammer zählt aus der Perspektive der Wahrnehmungspsychologie einige Effekte auf, wie besondere Licht- und Glanzeffekte oder flüchtige/ephemere Effekte, wie Nebel oder Sonnenuntergänge, die als "hervorgehobene Aufmerksamkeit" bestimmte Stimmungen evozieren können. Auch sei es denkbar, dass der Gesamteindruck einer Umgebung durch das Abrufen von Erinnerungen zur (teilweisen) Änderung der eigenen Stimmung führen könne. Gernot Böhme4 hat in den 1990er-Jahren versucht, "Atmosphäre" als Ausgangspunkt einer neuen Ästhetik zu denken. Als Beispiel für die Herstellbarkeit von Atmosphären zieht Böhme die "Theorie der Gartenkunst" von Hirschfeld heran, in der dieser unter anderem beschreibt, mit welchen Mitteln spezifische Stimmungen (heiter, heroisch, sanft-melancholisch . . . ) im englischen Landschaftsgarten geschaffen werden könnten. Mit Blick auf Schönhammers Erläuterungen zur Wahrnehmungspsychologie ist dieses Schaffen von Stimmungen durchaus verständlich und erklärbar. Jürgen Weidinger greift diese Thematik in seinem Sammelband "Atmosphären Entwerfen" auf.
Der "kommentierte Spaziergang" – Chancen und Grenzen
Der Geograph Rainer Kazig sucht, in Abgrenzung zu eher konzeptionell-philosophischen Auseinandersetzung mit dem Atmosphären-Begriff, eine empirisch nachvollziehbare Methode, um die Charakteristik eines Ortes erfassen zu können. Er greift dabei den Ansatz des "parcours commentés" (kommentierter Spaziergang) auf, der es erlaubt, einen Ort in der Bewegung zu erleben und zu erfassen. Der Ansatz umfasst mehrere Schritte:
- die Probanden äußern (einzeln) auf einem festgelegten Parcours im öffentlichen Raum ihre Wahrnehmungen und Empfindungen (Tonaufnahme);
- es folgt eine Reflektion über zusammenhängende Abschnitte und die Wahrnehmung/Empfindung innerhalb dieser Abschnitte (Tonaufnahme);
- in einer Auswertung werden die Aussagen der Probanden abschnittsweise überlagert, um wiederkehrende Wahrnehmungen herauszuarbeiten (idealtypische Zuspitzung/Kondensat);
- dann werden vor Ort die materiellen Voraussetzungen der Wahrnehmungen abgeklärt (Rekontextualisierung);
- in einer abschließenden Gegenüberstellung der materiellen Voraussetzungen und der zugespitzten Wahrnehmungen lässt sich die "Atmosphäre" eines Ortes und ihre Auslöser erfassen.
Für das hessische Kinzigtal wurde dieser Ansatz im Sommer 2022 in einem Seminar mit Architektur-Studierenden der TU Darmstadt aufgegriffen und auf zwei Teststrecken von jeweils etwa 1 Kilometer Länge bei Gelnhausen und Bad Soden-Salmünster erprobt. Ziel des Experimentes war es, herauszufinden ob die "parcours commenté" Methode für einen Landschaftsraum wie das Kinzigtal anwendbar ist.
Der Wegabschnitt bei Gelnhausen startete in einer ehemaligen Landstraße mit alter Lindenallee (heute Fuß- und Radweg), führte an einem Wirtschaftsgebäude der Wasserwerke vorbei und verlief über einen längeren Abschnitt zwischen Auwiesen und Bahntrasse. Der Wegabschnitt bei Bad Soden-Salmünster startete mit dem Gang über eine Brücke, führte an Weiden vorbei und verlief zuletzt entlang und unter einer Brücke der A 66.
Im Seminar wurde vorab die Durchführung des Spaziergangs besprochen, während des experimentellen Spaziergangs ging es darum, die Charakteristik des Weges zu beschreiben und zu begründen, warum diese so wahrgenommen werden (Tondokumentation). Atmosphärisch prägende Elemente sollten fotografiert und am Zielort eine assoziative "mental map" skizziert werden. Methodische Probleme bei der Adaption von Kazigs Ansatz ergaben sich aus der räumlichen Ausdehnung des Untersuchungsraums und seiner eventuell zu geringen atmosphärischen Dichte und Homogenität, da Kazig sich in seinen Versuchen auf Stadtplätze mit klarerer Abgrenzung und höherer Erlebnisdichte bezieht. Eine Herausforderung für die analytisch geschulten Studierenden war es, nicht nur bauliche oder landschaftliche Fakten aufzuzählen ("Hier ist . . . " etc.), sondern die Wirkung der Wegstrecken auf die eigene Person zu benennen ("Das wirkt auf mich . . . ").
Die Tondokumente wurden nachfolgend von den Studierenden transkribiert und die Aussagen der jeweiligen Gruppe in Abschnitte unterteilt, so dass einheitliche aber auch abweichende Empfindungen und Wahrnehmungen ablesbar wurden ("Kondensat" des Spaziergangs). Die beiden "Kondensate" wurden vertiefend nach wiederkehrenden Stichwörtern untersucht, die einen Vergleich der beiden Wegstrecken erlauben. So wurden zur Wegstrecke bei Gelnhausen zum Beispiel verstärkt Begriffe rund um die Bahntrasse und zur Raumweite (Erleben von Weite) genannt, bei der Strecke nahe Bad Soden-Salmünster wurden unter anderem verstärkt die Autobahn und die gesehenen Tiere (Kühe, Hühner) thematisiert. Für beide Gruppen spielte die Geräusch- und Lärmkulisse (Vogelgezwitscher – Autobahn), aber auch die hybride Gleichzeitigkeit von "Stadt" und "Land" eine große Rolle.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Ansatz durchaus geeignet war, um Aussagen über Qualitäten des Kinzigtals für die Naherholung abzuleiten. Die "Spaziergänge" der Studierenden liefern erste, durchaus differenzierte Anhaltspunkte zur Wertung der Wegstrecken und ihrer Merkmale, die nicht im Sinne einer Landschaftsbildanalyse Elemente werten, sondern den Raum multisensorisch charakterisieren. Unklar bleibt allerdings, inwieweit die im Seminar stattgefundene Thematisierung der Lärmbelastung im Kinzigtal, die Wahrnehmung der Studierenden vor Ort beeinflusst hat. Möglich wäre sowohl eine erhöhte "Sensibilität" gegenüber der Lärmbelastung, als auch eine abwägende Haltung im Sinne eines "So schlimm wie erwartet, war es dann doch nicht". Die "Kondensate" liefern hierzu keine Hinweise. Was sich aus den "Kondensaten" herauslesen lässt, ist die tradierte Gleichsetzung von "Natur" und nicht bebauter Umgebung mit dem Begriff der "Landschaft" (enger Landschaftsbegriff) seitens der Studierenden, die in der Nachbereitung von den Studierenden auch thematisiert wurde. Wobei bestehende Infrastrukturelemente in der Reflektion einerseits als Quelle einer störenden Lärmbelastung genannt, aber auch als spannende, ortsbildprägende Elemente des Kinzig-Auentals mit eigenständigem Erlebniswert gewertet wurden.5 Aussagen zum Erleben unterschiedlicher Nutzergruppen (Wandernde/Radfahrende) lassen sich aus dem Spaziergang allerdings nicht ableiten, da hier dezidiert das Erleben "zu Fuß" im Fokus stand und akustische Elemente wie der Autobahnlärm bei Touren mit dem Rad anders wahrgenommen und gewertet werden.
Mit dem Experiment sollte auch geklärt werden, ob sich diese Analyse-Methode, die bislang im urbanen Raum eingesetzt wurden, auch auf größere Raumeinheiten übertragen lässt. Dies muss mit Blick auf den Aufwand des Experiments (Zeit- und Personeneinsatz) eher verneint werden, da der Ablauf mit Freiwilligen vor Ort und nachbereitenden Workshops als Methode der Landschaftsbewertung in der Praxis kaum realisierbar wäre. Hilfreich und im Aufwand vertretbar, könnte ein solch differenziertes Vorgehen aber möglicherweise im Rahmen von Partizipationsprozessen zur Landschaftsentwicklung sein.
Anmerkungen
1 Das Verbundforschungsprojekt „Nachhaltiges Tourismuskonzept für Hanau und den westlichen Teil des Main-Kinzig-Kreises im Kontext des Regionalparks RheinMain“ (NaTourHuKi) wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert. Weitere Informationen sind verfügbar unter www.natourhuki.de.
2 Siehe zum Beispiel: Schönhammer, R. (2013): Einführung in die Wahrnehmungspsychologie, Sinne, Körper, Bewegung. 2., überarbeitete, aktualisierte und erweiterte Auflage, Wien, Facultas Verlags- und Buchhandels AG.
3 Siehe zum Beispiel: Kazig, R. (2007): Atmosphären – Konzept für einen nicht repräsentationellen Zugang zum Raum. In: Berndt, C. & Pütz, R. (Hrsg.) Kulturelle Geographien – Zur Beschäftigung mit Raum und Ort nach dem Cultural Turn, Bielefeld, transcript Verlag.
4 Böhme, G. (1994): Atmosphäre – Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt (Main), Suhrkamp Verlag.
5 Poster der Studierenden zur Atmosphäre im Kinzig-Auental finden sich auf der Internetseite des Projekts „NaTourHuKi“ (www.natourhuki.de) unter „Aktuelles“ 2022).