50 Jahre Projektstudium, 20 Jahre Bologna, fünf Jahre Postcorona

Leibniz Universität Hannover diskutiert über Projektstudium

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Ein neuer Begriff geistert durch die Hochschulen: "Challenge based Learning (CBL)". Mit diesem Lehr- und Lernmodell sollen offensichtliche Fehlstellungen in der Hochschulbildung aufgegriffen und beseitigt werden.
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1 Projektstudium im Jahr 1972. Foto: Heuer

Beklagt wird insbesondere die Verschulung und Bürokratisierung des Studiums. Betrachtet man genauer, was sich hinter dem neuen schillernden Begriff verbirgt, ist man überrascht, dass es sich um das gute alte Projektstudium handeln könnte. Dieses wird an den Ausbildungsstätten der Landschaftsarchitektur seit den 70er Jahren praktiziert.

In Hannover haben die Studierenden ab 1971 das neue Studienmodell durchgesetzt. Startpunkt war ein erstes Projekt, bei dem 21 Studierende mit zwei Betreuern einen "Landschaftsplanerischen Beitrag zur Lösung der durch ein Zementwerk verursachten Umweltbeeinträchtigung" in Höver bei Hannover bearbeitet hatten. Das Ergebnis lag ein Jahr später in Form eines umfangreichen Berichts vor (1. Projektbericht: Institut für Landschaftspflege und Naturschutz, Technische Universität Hannover 1973/74, unveröffentlicht). Die Studierenden hatten sechs Untergruppen gebildet. Zeittypische Themen waren: Sozioökonomie, Freiraumqualität, Staub, Lärm, Abbauplanung und Bevölkerungsbeteiligung. Während der sogenannten "Agitationsphase" (S. 38) gingen sie in die Öffentlichkeit und führten eine Fragebogenaktion durch. Ihre Arbeit wurde in zahlreichen Artikeln der örtlichen Presse aufgegriffen. Im Ergebnis schlugen die Studierenden drei Planungsalternativen vor und reflektierten über ihre Rolle als Planende. Ab 1976 wurden die Erfahrungen in eine "Projektordnung" eingebunden. Ein Projektrat, in dem auch die Studierenden mitwirkten, wurde eingesetzt.

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2 Projektstudium im Jahr 2022, Planen und Gestalten braucht den Dialog. Foto: Oppermann

Projekte in Hannover heute

An der Leibniz Universität Hannover absolvieren die Studierenden heute im sechssemestrigen Bachelor zwei Orientierungs- und zwei Vertiefungsprojekte (insgesamt 44 von 180 ECTS und 25 % Gewicht an der Gesamtnote). In den Masterstudiengängen sind es drei Projekte (insgesamt 45 von 120 ECTS und 40 % Gewicht an der Gesamtnote). 2006 musste die Projektlaufzeit von einem Jahr aufgrund der Bologna-Reform auf ein Semester verkürzt werden. Die Gruppengröße liegt bei zwölf bis 14 Studierenden in den Orientierungsprojekten, acht Studierende bearbeiten ein Vertiefungsprojekt. Die Lehrenden "sponsern" das Projektstudium, denn laut Lehrkapazitätsverordnung darf es nur Gruppen mit mindestens 15 Studierenden geben. Die Arbeit des Projektrates wurde mittlerweile der Studienkommission übertragen.

Die Projekte gehören, wie die Grundlagenvorlesungen, zum Pflichtkanon des Studiums. Sie ermöglichen aber dennoch eine individuelle Profilbildung durch die Wahl der Themen, die während einer Projektbörse am Beginn der Semester vorgestellt werden. Ziel ist es, eine möglichst gute Passung des Angebots mit den Wünschen der Studierenden hinzubekommen. Wie viele Projekte müssen angeboten werden? Wie breit ist das Themenspektrum? Wann müssen Studierende auch einmal mit einer Zweit- oder sogar Drittwahl vorliebnehmen? Schließlich fehlen immer noch einige Projektarbeitsplätze, an denen die Studierenden sich wie in einem Büro einrichten können.

In allen Projekten wird neben den fachlichen Lernzielen auch die Zusammenarbeit in der Gruppe geübt und es werden Kompetenzen der Selbstorganisation verlangt. Die Projektbetreuenden, in den Orientierungsprojekten kommt eine Tutorin oder einen Tutor dazu, unterstützen die Studierenden dabei, ein Arbeitskonzept zu finden, das dann Schritt für Schritt im Dialog miteinander abgearbeitet wird. Sie kennen die Dynamik eines Semesters und wissen, wie weit die Gruppe zum Beispiel am Ende der Vorlesungszeit gekommen sein sollte, um den Projektbericht in der vorlesungsfreien Zeit fertigzustellen. Das gemeinsame Kolloquium, bei dem alle Projektergebnisse vorgestellt werden, bietet schließlich Erkenntnisse und Einblicke für alle. Drei Viertel des Weges sind dann geschafft.

Die Benotung der Projekte war von Anfang an ein heikles Thema. Wie im täglichen Leben auch, gibt es immer wieder Ausfälle von Studierenden, sei es aufgrund von Krankheit, oder weil zu viel nebenher gearbeitet wird oder weil eine Person die Technik des Trittbrettfahrens perfekt beherrscht. Soll es nun eine gemeinsame Gruppennote geben? Im realen Leben, auf das das Studium ja vorbereiten soll, werden Einzelleistungen keineswegs immer gewürdigt. In einer konkurrenzorientierten Gesellschaft werden Einzelnoten dagegen vehement eingefordert.

Relativ neu sind ständige und regelmäßige Evaluierungen der Projekte. Hier wird am ehesten deutlich, wie stark sich das von der 68-Generation geforderte eigenverantwortliche Studienmodell geändert hat. Natürlich kann man Lehrende dahingehend bewerten, ob sie – wie Hebammen – das Interesse und Wissen der Studierenden gut fördern konnten. Wenn man 'challenge based learning' aber ernst nimmt, müssten sich die Studierenden eigentlich selbst bewerten: Inwiefern habe ich das Projekt zu meiner eigenen Sache gemacht? Habe ich die Betreuerinnen und Betreuer genug gefordert? War ich ein guter Teamplayer?

Die "Challenge" liegt auch in der Organisation des Projektstudiums

Die Anwendung von Methoden des Planens und Forschens in verschiedenen Themenfeldern ist prädestiniert für Projekte. Sie sollen weiterhin der zentrale Bestandteil der Ausbildung in unserem Fach bleiben. Zusammen mit Vorlesungen, Seminaren, Übungen, Stegreifen und Exkursionen sind sie in die Lebenswelten der Studierenden eingebettet. Und diese unterscheiden sich maßgeblich von denen der 70er, 80er oder 90er Jahre.

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3 Intensive Betreuung vor Ort 1993. Foto: Fotoarchiv der Fachgruppe, Nr. 090
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4 Intensive Betreuung vor Ort im Jahr 2022 Foto: Fotoarchiv der Fachgruppe, Nr. 519

Herausforderung: Lehr- und Lernverständnis

Nach wie vor gilt, dass Aktivität und Engagement im Projekt Voraussetzungen für den Lernerfolg sind. Erkenntnisse und Spaß bieten sich denjenigen, die das Thema zu ihrer Sache machen. Es gibt Studierende, die viel können, aber nicht zum Macher oder der Macherin im Zentrum der Gruppe werden. Aber es gibt auch die Vielredner, die ein Projekt ohne Substanz alleine aufgrund ihres Temperaments domminieren und es gibt die stillen Wasser, die leider gar nicht tief sind. So ist es auch im wirklichen Leben.

Im Projektstudium entstehen oft lebenslange Freund- und Feindschaften, je nachdem wie harmonisch oder konfliktreich der Gruppenprozess verläuft. Nachdem das Thema der Mediation und Konfliktlösung in den 90er Jahren systematisch bearbeitet wurde, könnte es in den Gruppenarbeiten noch expliziter zum Thema gemacht werden. Moderationstechniken und Projektdidaktik sind sinnvolle Weiterbildungsmöglichkeiten gerade für junge Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Herausforderung: Entschulung

Das Prüfungsmanagement, die Evaluierungen, die Berechnung der Lehrkapazitäten mit der Zulassung einer Mindestmenge an Studierenden, das kennziffernbasierte Berichtswesen: Ausgangspunkt sind weiterhin Vorlesungen, Seminare und Übungen im klassischen Lehrbetrieb. Das Projektstudium kommt darin immer noch nicht vor.

Die Verschulung ist seit Bologna mit einer massiven Überlastung der Studierenden verbunden, die wiederum in der Forderung nach gut ausformulierten Übungen oder vorbereiteten Arbeitsunterlagen münden. Bis zu einem gewissen Grad können menschliche Unzulänglichkeiten und so genannte falsche Freunde über Organisation und Projektregeln aufgefangen werden. In den meisten Prüfungsordnungen und Modulbeschreibungen finden sich Hinweise, dass die Wahl unterschiedlicher Lehrender, Projekte oder Gruppen die Basis des Wissens massiv verbreitern. Beratung und Austausch der Lehrenden, die hier eingesetzt werden, sind zu fördern. Wer bildet seine Note wie? Wie würden andere Lehrende diesen oder jenen Projektbericht bewerten? Was ist zu tun, wenn schwierige Fälle auftreten?

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5 Projektpräsentationen und -diskussionen im Sommersemster. Foto: Oppermann
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6 Projektpräsentationen und -diskussionen im Wintersemester. Foto: Oppermann

Herausforderung: Zeitbudget

Aufgrund der Bologna-Vorgaben mit einem eindeutig definierten Arbeitsumfang für alle Veranstaltungen scheiden schwierige und komplexe Themen mit einer intensiven Involvierung von Außenstehenden nun leider aus. In den 90er Jahren wirkten die Studierenden aus Hannover zum Beispiel bei einem wegweisenden Partizipationsprojekt der städtischen Verkehrsbetriebe (Üstra) mit der Stiftung Mitarbeit mit. Sie erprobten im Echtzeitmodus das Modell der Planungszelle nach Peter C. Dienel, das heute beispielsweise bei den Bürgerräten des deutschen Bundestags zum Zug kommt. Ein solcher Aufwand wäre heute nicht mehr darstellbar. Man kann nicht riskieren, mitten im Projekt zu erkennen, dass der vorgegebene Zeitrahmen erschöpft ist.

An einer Stelle eines Planungszyklus müssen die Betreuenden also das Lernen abschneiden: Die Formulierung eines Problems wird entweder durch ihre Vorbereitung erledigt oder es werden Vermittlungskenntnisse am Ende nur angetippt. Der Planungszyklus von der Problemdefinition bis zur Umsetzung von Maßnahmen hat sich heute gegenüber früher maßgeblich um Formen der Partizipation und Vermittlung erweitert. Gleichzeitig hat sich die Bearbeitungszeit eines Projektes halbiert und ist einem stark verschulten System unterworfen.

. . . und dann kam Corona.

Als wäre dies nicht alles schon schwer genug, so hat auch die Corona-Pandemie die Hochschulen inklusive Projektstudium sichtbar verändert. Manch ältere Projektbetreuerin reibt sich verwundert die Augen: Acht Studierende sitzen um den Tisch, alle schauen in ihren PC, sofort wird an die Wand eine mehr oder weniger lesbare Datei gespielt. Tafel und Flipchart, an denen sich über die Diskussion ein Arbeitsergebnis langsam herausbildet, sind ausrangiert.

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7 Im Zeichensaal: das Leben im Jahr 1972. Foto: Redeker

Wir haben es heute wieder mit einer neuen Studierenden-Generation zu tun, die das Lernen auf Distanz ganz hart während Corona erlernen musste, die sich andererseits aber mit den Formen direkter diskursiver Auseinandersetzung face to face, oder gar im Sinne eines kooperativen Diskurses nach Habermas, schwer tut. Zeitsparende Entscheidungsroutinen per Abstimmung oder schnelle Umfragen mit QR-Codes statt vertiefende Gespräche mit den Zielgruppen der Planung sind gängig.

Auch wenn es sich offiziell um ein Präsenz-Vollzeitstudium handelt, viele Studierende wohnen nicht mehr am Ort und arbeiten, um über die Runden zu kommen. "Wir haben im Zeichensaal gelebt!", solche O-Töne aus den 80er Jahren kann man sich heute kaum vorstellen. Die Bereitschaft vor Ort zu sein, sechs Wochen im Projektgebiet zu campen, die Perspektive der Ämter kennenzulernen oder in der Studienkommission und in Workshops über die Angemessenheit von Projektangeboten zu debattieren, ist nicht mehr vorauszusetzen. Und die erwünschte Digitalisierung der Hochschulen hat den Charme der persönlichen Begegnung für manche leider in den Hintergrund rücken lassen. Psychologische Probleme der Studierenden treten immer häufiger auf. Neben der stetigen Anpassung – besonders auch des Projektstudiums – an moderne Anforderungen, geht es nicht zu allerletzt um das Fördern einer Gemeinschaft, um die Tischtennisplatte auf dem Campus, das Sommerfest und den Kontakt zu den Menschen im Projektgebiet.

Unter dem Link https://tinyurl.com/2669yevy finden sich Stimmen und Stories zu 75 Jahren Landschaftsarchitektur an der Leibniz Universität Hannover.

Anmerkung

Prof. Dr.-Ing. Bettina Oppermann ist Studiendekanin für die Fachgruppe Landschaft an der Fakultät für Architektur und Landschaft an der Leibniz Universität Hannover, Dipl.-Ing. Sonja Nollenberg hat den Studiengang 2004 absolviert und organisiert seit über 15 Jahren die Studienangelegenheiten des Projektstudiengangs.

Prof. Dr.-Ing. Bettina Oppermann
Autorin

Landespflegerin, Professorin am Institut für Freiraumentwicklung an der Leibniz Universität Hannover

Dipl.-Ing. Sonja Nollenberg
Autorin

Studiengangkoordinatorin Landschaft

Leibniz Universität Hannover

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