Klimaschutz, Luftschutz, Alltagsschönheit
"Balkonien" als minimale Vertikalbegrünung
von: Prof. Dr. Hanns-Werner HeisterDiese Balkon-Massen gehören zum Hübschesten in dem weiträumigen "Viktoria-Quartier" in Berlin-Kreuzberg, (Abb. 1): Es ist die Umnutzung und der Umbau der 1857 erbauten großen Tivoli-Brauerei, 1891 von Schultheiss übernommen, zu teuren Eigentumswohnungen und ein Beispiel für die Gentrifizierung des Bezirks. Es liegt zwischen Methfesselstraße und Viktoriapark¹.
"Für gut 100 Jahre stillte einzig der Viktoriapark die Sehnsucht nach Grün im Kreuzberger Häusermeer."² So etwas wie die Balkone und die eher sparsam begrünten Innhöfe, Ansätze zu Vorgärten und grüne Ränder stillen die Sehnsucht, aber nicht für Alle, sondern für wenige, die überdies auf Balkonien nicht angewiesen sind.
Der Viktoriapark wurde 1888 angelegt. Sein Ausgangspunkt ist das "Nationaldenkmal" (1818/1821), das den Sieg über das napoleonische Frankreich feiert. Das "Viktoria-Quartier" wiederum, "vier denkmalgeschützte Bauwerke [. . . ] der ehemaligen Brauerei [. . . ], Kesselhaus, Werkstatt, Maschinenhaus und Brunnenhaus"³, entkernt und durch Aufstockungen ergänzt, feiert den Sieg der Immobilienwirtschaft über Denkmalschutz und Allgemeininteresse.4
"Heutigen Ansprüchen werden (die Gebäude) durch Ergänzungen mit neuen, modernen Bauteilen gerecht. Diese interessante Kombination ermöglicht es, historisches Flair zu genießen, ohne auf modernen Wohnkomfort zu verzichten."5 Das Projekt wurde 1999 begonnen, und schleppte sich samt Mietervertreibungen, Insolvenzen und Ähnlichem bis 2017 hin.6
"Um eine optimale beidseitige Belichtung zu ermöglichen, schuf der Architekt einen neuen atmosphärischen Innenhof mit Wasserbecken, Loggien und Balkonen."7 Tatsächlich gibt es ansehnliche Aspekte. Von Denkmalschutz oder sozial orientiertem Städtebau sind sie freilich weit entfernt. (Abb. 1)
Ein verkürzter Vorgarten
"Das Wort Balkon wurde im 18. Jahrhundert aus dem Französischen (balcon) ins Deutsche entlehnt und geht über das italienische balcone letztlich auf ein germanisches, namentlich langobardisches Ursprungswort *balko zurück, das althochdeutsch balko, "Balken" entspricht."8
Balkone sind im Prinzip betretbar und damit als Ersatz oder Ergänzung eines Gartens nutzbar; gerade für Unterschichten ein Plätzchen im Freien mit frischer Luft, notfalls auch als "Sommerfrische" und als Urlaubsort - der leicht herablassende Begriff "Balkonien" deutet das an. Er "soll wie ein Ländername klingen (z. B. [. . . ] Sardinien, Spanien usw.). Wer "auf Balkonien" Urlaub macht, kann aber nicht verreisen, sondern verbringt die Urlaubszeit zu Hause.9 Der Balkon ist zusätzlicher Wohn- und Hausarbeits-Raum, auch Stauraum, soweit überdacht, und gerade bei Regen Spiel-Raum für Kinder.
Eine außerordentliche, individualisierte Vielfalt von Balkonen zeigt eine Häuserfront am Flussufer in Parma. Die Verschiedenheit ist aber naturwüchsig zu einer harmonischen Übereinstimmung gebracht, auch durch die vereinheitlichende Farbgebung der Häuser in Pastell-Schattierungen (Abb. 2).
SUG-Stellenmarkt
Balkone setzen mehrstöckige Gebäude voraus. Ein bloßer ebenerdiger Austritt aus dem Haus ist die Terrasse und die - überdachte - Veranda. Analoges gilt für den voll verglasten Wintergarten, ein Nachfolger der Orangerie und ein aus dem Garten ans Haus transponierte Glashaus beziehungsweise Treibhaus, der allerdings auch als Dachgarten ausgebildet werden kann. Zur Ahnengalerie gehören auch die oft sogar umlaufenden Balkone von Bauernhäusern.
Mit den seit 1898 aufkommenden "Gartenstädten" erhielten auch kleinere Ein- und Mehrfamilienhäuser Balkone, gerade auch die, die schon einen Garten hatten. Aber auch bereits im "sozialen Wohnungsbau" der Zwischenkriegszeit, besonders in den 1920ern, und dann in der Nachkriegszeit erhielten viele größere Mietshäuser Balkone, ein beachtlicher Fortschritt in der Lebensqualität auch benachteiligter sozialer Schichten. In der neoliberal geprägten 1980er Jahren wurde dieser Fortschritt oft zurückgenommen.
Der Balkon ist ein funktional verkürzter, mehr oder minder miniaturisierter Vorgarten. Angebaut werden vor allem Zierpflanzen. Aber auch Nutzpflanzen wie kleinformatige Kräuter aller Art, Tomaten und Bohnen und Anderes mehr sind für das Wohlbefinden wichtig, aber nach außen hin meist eher unscheinbar bis nahezu unsichtbar. Eine Schrumpfform des Balkons wiederum sind die Blumenkästen, die direkt unters Fenster gehängt werden.
Eine andere Schrumpfvariante ist das "Französische Fenster". "Es wird vereinzelt auch von französischem Balkon gesprochen." Hier handelt es sich fast um eine Art Scheinarchitektur: Gitter und meist auch ein Handlauf, aber nichts dahinter: So "befindet sich draussen kein Balkon, sondern lediglich ein Balkongeländer." Auch der Schein hat jedoch Elemente des Wirklichen und ist wirksam. Dieses Fenster "verbindet optisch das Drinnen mit dem Draussen. Wenn es einen Balkon vorgaukelt, wirkt sich das auch positiv auf das Raumgefühl aus."
Aufgebaut werden können Balkone auf Kragplatten oder übereinander gestapelt mit durchgehenden Stützen beziehungsweise Pfeilern - womit nur der oberste Balkon nicht überdacht ist (s. Abb. 1). Die in die Kubatur des Gebäudes integrierte Loggia als vornehmere und im Prinzip geräumigere Gestaltung des Zugangs zu frischer Luft kann als nach innen gestülpter Balkon gelten - oder dieser umgekehrt als nach außen gestülpte Loggia. (s. Abb. 5).
Bei Schlössern und daran anschließend großen bürgerlichen Stadthäusern sind schöne Balkone häufig, sogar fast die Regel, aber häufig kaum begrünt. Die Hinterhöfe beziehungsweise euphemistisch "Gartenhäuser" genannten Hinterhäuser und Querhäuser der Mietskasernen des 19. Jahrhunderts in Berlin und anderswo hatten keine Balkone, wohl aber die Vorderhäuser an der Frontseite zur Straße. In vielen Weltstädten sind besonders die großen Straßen mit Altbaubestand gesäumt von mehrstöckigen Häusern mit prachtvollen Fassaden, Balkonen und üppigen Gittern vor Französischen Fenstern.
Die Bepflanzungen sind oft sehr karg oder fehlen gänzlich. Dagegen überrascht dann selbst im heißen Juli bei einem Neubau etwas außerhalb des alten Stadtkerns die reiche und abwechslungsreiche Vegetation auf den Balkonen - und zunehmend auch auf Dachgärten, die sogar mit Bäumen bestanden sind. Dieser ist als Typus gewissermaßen ein Ausschnitt aus der Dachbegrünung. Er ist im Unterschied zu dieser begehbar und im Prinzip wie ein Balkon nutzbar. (Abb. 3)
Bei einem bescheiden und nüchtern ohne Stuck und Ornamentik ausgestatteten, aber wohlproportionierten großen Wohnhaus in Lissabon schon außerhalb des Stadtzentrums sind die ineinander übergehenden Balkone entsprechend der Jahreszeit noch nicht in voller Blüte. Dafür zeigen sich neben der Mansarde (von unten etwas undeutlich erkennbar) Ansätze einer ökologisch wertvollen Dach- oder Dachrand-Begrünung. (Abb. 4)
Eine kleine Villa in Bologna ebenfalls schon außerhalb des Stadtzentrums zeigt bemerkenswerte Übergänge und ein Miteinander von Außen und Innen durch das Zusammenspiel zwischen den Bäumen und ihrem Grün vor dem Haus mit sehr weit offenen Loggien. (Abb. 5)
Für die Bepflanzung macht es einen erheblichen Unterschied, ob die Balkons unüberdacht oder gegen Regen geschützt sind, ob durch eigens angebrachte Markisen oder durch darüber liegende Balkone. Für Bewohner und Mobiliar ist das ein Vorteil, für Pflanzen eher nicht. Denn der Schutz gegen Regen bedeutet zugleich, dass anstelle des agrikulturellen Typs 'Regenfeldbau' mit natürlichem Wassersegen von oben die künstliche Bewässerung treten muss.
Die Emanzipation von der Natur bleibt auch hier zwiespältig. Zwar ist im Prinzip die Balkon-Vegetation etwas weniger als das Stadtgrün außer Haus abhängig vom Wechsel der Jahreszeiten, da die Pflanzen gegen Austrocknung und, wie in nördlicheren Breiten nötig, auch ein wenig gegen Frost geschützt werden können. Ein höherer Pflegeaufwand ist aber unumgänglich. Der Eigensinn der Pflanzen, die ihre natürlichen Zyklen haben, tut ein Übriges.
Die Abbildungen deuten, obwohl nicht daraufhin angelegt, etwas von diesen jahreszeitlichen Unterschieden an. Wie in den erwähnten Weltstädten sind auch in Buenos Aires die oft riesigen Altbauten im Zentrum reichlich mit Balkonen geschmückt, aber weniger reichlich mit Pflanzen. Das ist bei einem neueren Gebäude ziemlich anders. Nicht nur die Ampel im Bild, sondern auch die großzügigen Balkone stehen auf Grün. Der Jahreszeit gemäß ist es noch nicht allzu reich ausgebildet. (Abb. 6)
Fassadengrün: Putzen und Nutzen
Balkone haben die doppelte Funktion des prodesse et delectare, des praktischen Nutzens und des ästhetischen Nutzens. Bei Hotels und Gaststätten wird ihre Außenwirkung zugleich zur Reklame. Bei einer Pilgergaststätte im niederösterreichischen St. Aegyd am Neuwalde dienen die mit wohlgefüllten Blumenkästen geschmückten Balkone sowohl der Anlockung der Gäste als auch den bereits in den Zimmern hinter den Balkonen Logierenden zur Steigerung des Wohlbefindens.
Die Balkonblumen werden durch den Vorgartenstreifen im Erdgeschoß ergänzt. Die Marktgemeinde St. Aegyd ist die letzte Wegstation des Pilgerwegs von Wien nach Mariazell in der Steiermark. (Abb. 7)
In Mariazell selbst sind an der Apotheke gegenüber der Basilika aufdringliche Reklameschilder, samt Berufung auf die Ortspatronin, gemischt mit einer unaufdringlicher werbenden, traditionellen Geranienbepflanzung des Austritts vor der Dachgaube. (Abb.8)
Hoch vom Balkon
Ganz nach außen gerichtet und strikt pflanzenfrei war der "Führerbalkon", der in der NS-Gesellschaft an einigen öffentlichen Gebäuden angebracht wurde. So gab es zum Beispiel am besonders protzigen "Gauforum" in Weimar, der Stadt der Klassik, aber auch der Stadt Nietzsches und Buchenwalds, einen solchen Balkon. Auch in weniger zentralen Städten wie im westfälischen Hamm findet sich dieser Balkon an einem Hochbunker in der Nähe des Bahnhofs - Hamm war "der größte Eisenbahnknotenpunkt Europas".
Der Lokalhistoriker Karl Wulf erläutert: Die hier verwendeten gängigen Architektur- und Stilkomponenten "zeigen auch das neben dem Hoheitszeichen wichtigste Zeichen der Herrschaftspolitik: den Führerbalkon, der aber nicht zugänglich ist und lediglich symbolisch die Anwesenheit des Führers dokumentiert."10
In Berlin am Wilhelmsplatz waren die dafür vorgenommenen Eingriffe besonders drastisch: "Aus Anlass der Olympischen Spiele 1936 wurde auf Betreiben von Goebbels die Platzanlage umgestaltet. Ziel war es, Raum für Aufmärsche zu schaffen und Massenveranstaltungen auf dem Führerbalkon auszurichten, den Albert Speer 1935 im ersten Stock des Erweiterungsbaus der Reichskanzlei angefügt hatte."¹¹ Das Stadtgrün wurde bedenkenlos geopfert: "Bei der Veränderung des Wilhelmplatzes entfernte man die Rasenflächen und einen Großteil der Linden."¹²
In Wien wurde dieser Balkon 1938 am ersten Stock des Rathausturms angebracht. Am Vortag des Palmsonntags fuhr Hitler im offenen Wagen zum Rathaus, und hielt zuerst drinnen und dann draußen eine Rede. Auf der Turmloggia "hatte man eigens für diesen Anlass einen provisorischen Balkon errichtet, von dem aus Hitler unter Wagner-Klängen die Ovationen der Massen entgegennahm [. . . ].
Im März 1938 trug man dafür die Brüstung ab und setzte eine provisorische, halbrunde Holzkonstruktion davor, die auf den Rathausplatz ragte. Um das Faktum eines Provisoriums zu verbergen, wurde die Konstruktion mit einer riesigen Hakenkreuzfahne verhüllt. Bürgermeister Hermann Neubacher ließ es sich nicht nehmen, die Erinnerung an diese Veranstaltung zu konservieren und ordnete an, eine dauerhafte Baulichkeit an die Stelle der Holzkonstruktion zu setzen."¹³ Nach dem Verschwinden des "Führers" wird der Balkon bis heute "Jahr für Jahr mit Pflanzen dekoriert"14.
Ein verschwiegenes Vorbild war für den römisch-katholischen Hitler die "Benediktionsloggia", die auf den Petersplatz gerichtete Mittelloggia des Petersdoms. "Von dieser aus erteilt der Papst zu besonderen Anlässen den apostolischen Segen Urbi et orbi. Nach einer Papstwahl erfolgt von dieser aus die Proklamation durch den Kardinalprotodiakon sowie der erste öffentliche Auftritt des neugewählten Papstes."15
Vom "Führerbalkon" herab konnte der CEO, der Geschäftsführer der Herrschenden, hinunter zum "Volk" sprechen, das, teils bestellt, teils spontan, zum Jubeln angetreten war.
Mit "Balkonien" als bescheidener Sommerfrische der Unterklassen hat das nunmehr architektonisch und sozial nur indirekt zu tun, da im Nazismus die Arbeitszeiten drastisch verlängert und die Urlaube beziehungsweise die Ferien verkürzt wurden, also wenig für "Balkonien" übrigblieb.
Grünes von unten und von oben
Statt einem Oben und gar einem Oben gegen Unten wie beim "Führerbalkon" gibt es beim Stadtgrün auch ein friedliches, kooperatives Miteinander in beide Richtungen.
In einer verkehrsberuhigten Straße im Altonaer Ortsteil Ottensen bewegen sich die Pflanzen vom großen Blumenkübel unten als Miniatur-Vorgarten und vom Balkon im 1. Stock gewissermaßen aufeinander zu. (Abb. 9)
Bei einem renovierten Altbau in Kiel geht ein echter, sehr kleiner Vorgarten fast nahtlos in einen Balkon im Hochparterre über. (Abb. 10)
Echtes Vertikalgrün an der Außenwand und Balkone verbinden sich bei einem Neubau in Berlin-Kreuzberg. (Abb.11)
Anmerkungen
¹ Ausf. Zum Beispiel de.wikipedia.org/wiki/Viktoriapark 3.11.2002, Abruf 11.11.22.
² Christian Bahr, zitiert nach www.berlin.de/tourismus/parks-und-gaerten/3560783-1740419-viktoriapark.html.
³ Sabine Flatau, 1.7.2008, www.morgenpost.de/berlin/article102247864/Gelaende-der-Schultheiss-Brauerei-wird-zum-Wohnviertel.html.
4 Informativ u. a. frankensteinconsult.de/portfolio/kesselquartier/, undatiert, Abruf 11.11.22.
5www.profi-partner.de/kesselhausquartier.html.
6 Ausf. und kritisch de.wikipedia.org/wiki/Viktoria-Quartier, 24.11.18, Abruf 11.11.22.
7 Ebd.
8de.wikipedia.org/wiki/Balkon, 8.10.22, Abruf 10.11.22.
9 Ebd.
10 Zitiert nach www.burks.de/burksblog/2019/06/05/unter-dem-fuehrerbalkon, Abruf 11.11.22.
¹¹ de.wikipedia.org/wiki/Wilhelmplatz_(Berlin), 28.10.22, Abruf 11.11.22.
¹² Ebd.
¹³ www.geschichtewiki.wien.gv.at/Mittelbalkon_(Rathaus), Abruf 11.11.22.
14www.meinbezirk.at/innere-stadt/c-regionauten-community/bleibt-der-sogenannte-hitler-balkon-eine-erinnerungsluecke_a4248057, 18.9.20, Abruf 11.11.22.
15de.wikipedia.org/wiki/Benediktionsloggia, 14.2.22, Abruf 11.11.22.
16 Bernd Jürgen Warneken danke ich für Anregungen und kritische Lektüre.
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