Kommentar
Vor und nach Corona: Freiraum in der Krise?
Unser Selbstverständnis von einer Disziplin, die gesunde und kommunikative Räume schafft, wurde in den letzten eineinhalb Jahren erschüttert: Grünanlagen wurden gesperrt, Bänke und Sportgeräte demontiert, Flatterband und Verbotsschilder verbreiteten eine dystopische Anmutung. Freiräume wurden mit Ansteckung und sozialer Distanz assoziiert.
Wenn wir heute über die Auswirkung der Pandemie auf den städtischen Freiraum sprechen, dann müssen wir die Raumverteilung als Machtfrage diskutieren. Die Covid-19-Pandemie lenkt unseren Blick auf die extrem unausgewogene Verteilung der Nutzungsrechte im öffentlichen Straßenraum. Wir können in vielen Alltagsräumen als Fußgänger*innen das Abstandsgebot von 1,5 Metern schlicht nicht einhalten. Die Bürgersteige sind zu schmal und zugestellt, übervolle Parkstreifen und Fahrbahnen bieten keinen Ausweichraum, Parks, Sport- und Spielplätze werden oft viel zu intensiv genutzt, um Distanz wahren zu können. Viele Beispiele weltweit zeigten aber, dass eine intelligente und unbürokratische Umverteilung von Stadtraum zu Ungunsten des motorisierten Individualverkehrs ohne großen baulichen und zeitlichen Aufwand möglich war. Diesen durch die Pandemie erzwungenen Weg sollten wir kreativ ausbauen, auch mit Blick auf die andere große Krise unserer Zeit - den Klimawandel. Die Botschaft ist letztlich simpel: Das parkende (und fahrende) Auto nimmt im öffentlichen Raum viel zu viel Platz ein, der anderweitig dringend gebraucht wird.
Wir können als Profession nicht mehr nur für den Erhalt bestehender Freiräume kämpfen, sondern sollten selbstbewusst für eine massive Ausweitung von Freiräumen eintreten. Diese Freiräume müssen wohnungsnah sein, auch bedenkend, dass Wohnraum jederzeit wieder zum Büro, zur Schule oder zum Studienplatz umgedeutet werden kann. Sie müssen gefahrlos für alle Altersgruppen erreichbar sein und geräumig genug, dass ein Abstand von 1,5 Metern jederzeit möglich ist. Die Ressource, die alle diese Anforderungen erfüllen kann, ist der Straßenraum vor unserer Haustür. In unserer Wohlstandsgesellschaft sollten wir uns den Luxus leisten, uns diesen Freiraum für Menschen, nicht für Autos, anzueignen, wo möglich zu entsiegeln und lustvoll zu nutzen.
Stefanie Hennecke