Kühleffekte schützen vulnerable Bevölkerungsgruppen
Klimaanpassung als Gesundheitsprävention
von: Prof. Dr. Heinrich LübkeFür Karl Marx war der Feuerbringer Prometheus "der vornehmste Heilige und Märtyrer im philosophischen Kalender", denn mit ihm habe die Zivilisation begonnen. Heute sieht man, dass das Prometheus-Projekt alle Lebensgrundlagen gefährdet. Mit der globalen Erwärmung infolge des Treibhausgaseffektes ist die antike Warnung vor der Hybris wahr geworden, und man kann folgern: Die Revolte gegen die Götter war legitim, denn das Feuer befreite die Menschen aus dem Elend. Aber mit dem maßlosen Verfeuern fossiler Schätze begann der Frevel. Nun gibt es tödliches Extremwetter, Hitzewellen, Versteppung, Bodenzerstörung, Feuersbrünste, Dürre und Überschwemmungen biblischen Ausmaßes. Jeder kann es spüren. Am eigenen Leib (T. Assheuer ZEIT 22/2022).
Diese philosophische und gleichzeitig globale Krisenbeschreibung greift die klimarelevante Lancet Kommission auf. Sie fasst die sich daraus ergebenden Problemstellungen in zwei wichtigen Aussagen gut zusammen.
1. "Der Klimawandel ist die größte Bedrohung für die globale Gesundheit im 21. Jahrhundert."
. . . weil er unsere Lebensgrundlagen auf dem Planeten zerstört durch Stürme und Überschwemmungen, Hitze und Dürre, Ernteausfälle und Hungersnöte, Infektionen, Konflikte und Migration. Im Jahr 2035 wird es 48 Megacities mit einer Bevölkerung > 10 Millionen geben. Die Städtische Bevölkerung wird 2050 weltweit einen Anteil von circa 70 Prozent ausmachen. Städte sind verantwortlich für 70 Prozent der CO2 Emissionen durch Produktion, Konsum, Ressourcenverbrauch, durch Emission von Luftschadstoffen (Feinstaub, NOx etc.).
Er trifft besonders stark die ärmsten Menschen in diesen Ballungszentren und verstärkt damit Gefahren. Rund eine Milliarde Menschen der städtischen Bevölkerung weltweit lebt aktuell bereits in Slums mit extremer Verdichtung, häufig in Küstennähe: Die Zuspitzung der Probleme dieser Verdichtung zeigt sich in der Vulnerabilität bei Sturm und Überschwemmung, Verschmutzung von Luft, Wasser und Böden, durch Hygiene- und Infektionsprobleme, durch Migration.
Der Verlust der Biodiversität und der Schwund von allgemeinen und urbanen Grünstrukturen komplettieren das Krisenszenario. Die Ozeane und viele Strände und Flüsse sind voller Plastikmüll, sichtbar und unsichtbar als Mikroplastik. Die vielen versteckten und nicht wahrnehmbaren chemischen Stoffe (Insektizide, Pestizide, Kosmetika, Weichmacher im Plastik, Arzneimittelreste im Abwasser- und Trinkwasser) können Schäden durch Kurzzeit- und Langzeitexposition verursachen.
Die vier negativsten städtischen Umwelteinflüsse wirken sich direkt auf die Gesundheit aus: Chronischer Lärmstress mit nächtlicher Dauerbelastung über 55 Dezibel erhöht das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Fehlen Grünflächen, mangelt es damit an Orten für Erholung und Bewegung. Städtische Hitze benötigt "Kühlinseln", die das körpereigene Kühlsystem ergänzen. Luftschadstoffe, die meistens von Autoabgasen verursacht werden, können unter anderem zu Erkrankungen der Atemwege führen.
Von den Folgen für Gesundheit und Leben ist die sommerliche Hitze in der verdichteten Stadt (Merkmale s. o.) das Problem Nr. 1: Es gibt viel Wärmespeicherndes verbautes Material (Beton, Asphalt, Ziegel), zusätzliche anthropogene Hitze (Heizen, Kühlen, Transport, Industrie) und gleichzeitig zu wenig Vegetation, wenig Schatten und selten suffiziente Lüftungskorridore oder eher Windbarrieren.
Die Luft in Städten ist 3-12 Grad Celsius wärmer als in der ländlichen Umgebung (Bspw.: Tokio), einzelne Straßenzüge sind verschieden warm. Hitzefolgen der gestressten Bewohner, die in Hitzeinseln leben müssen sind vermehrtes Schwitzen, Verlust von Flüssigkeit und Elektrolyten. Gefährdete (alte Menschen, Säuglinge Kinder, Patienten mit schweren Begleiterkrankungen, behinderte Menschen) trinken infolge eingeschränktem Durstgefühls zu wenig oder sind wenig anpassungsfähig.
Die Folgen sind Austrocknung des Organismus (Exsikkose) und Hitzestau, Hitzekrankheit sowie die Verschlechterung von Vorkrankheiten. Wie die Sterbestatistiken der Risiko-Hitzejahre zeigen, ist das Sterberisiko bei Hitze deutlich erhöht: 1 Grad Celsius Erhöhung der mittleren Umgebungstemperatur führt zu einem Anstieg der spezifischen Sterblichkeit an der Hitzekrankheit um 14,83 Prozent, der kardiovaskulären (Herz-Kreislauf) um 3,79 Prozent, und der respiratorischen (durch Atemwegserkrankungen verursachte) Sterblichkeit um 2,32 Prozent.
Das Sterberisiko und die Hitzebelastung können stark variieren: Die Hitzevorausberechnung (Anzahl der Tage mit Höchsttemperaturen T > 30 °C und die Anzahl der Tropennächte T > 20 °C) zeigt bundesweit - regional unterschiedlich - bis zur Jahrhundertmitte eine merkbare Zunahme (Abb. 3).
Große Parkanlagen sind besonders in der Hitzeperiode kühler als ihre bebaute Umgebung. Ob sich dieser kühlende Effekt auch bis zu einem gewissen Maß in die Umgebung bei Kleingärten ausbreiten kann, ob auch hier sog. "Park Cool Island" PCI (Park-Kälteinsel) entstehen können, ist bisher nur im Ansatz untersucht. Einflussfaktoren, wie die spezifische Lage und Größe der Kolonien in der Stadt, die Oberflächen- und Vegetationsstruktur in und um die Kleingartenkolonien, die konkrete Menge an Bewässerung, Parameter der Energiebilanz müssen dabei beachtet werden.
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2. "Der Klimawandel ist gleichzeitig die größte Chance für die Gesundheit."
Was wir für den Klimaschutz tun müssen, ist größtenteils das gleiche, was wir ohnehin für die Gesundheit tun müssen: Städte fußgänger- und fahrradfreundlicher gestalten für mehr Bewegung. Luftverschmutzung reduzieren. Hierzulande weniger Fleisch und mehr Gemüse essen. Beschleunigung rausnehmen, weniger Konsum, weniger Stress.
Gesundheitsfragen (Reduktion thermischer Belastung, Lärmminderung. . . ) und die Bedeutung des Klimas bestimmen intensiv die Stadt- und Landschaftsplanung. Für Berlin ist hier der regional heruntergebrochene und als Beispiel stehende Umweltgerechtigkeitsatlas Berlin, Aktualisierung 2021/22 besonders aufschlussreich und hilfreich. In den mittleren Stadtbezirken Berlins liegen die baulich verdichteten, am stärksten belasteten Regionen ("Kieze"):
Diese sind von allen fünf Belastungsfaktoren betroffen: sehr niedriger sozialer Status, schlechte Luft, viel Lärm, wenig Grün, Hitzeballung im Sommer. Die Darstellung der Grünkategorisierung korreliert im Groben mit den anderen Belastungen (Abb. 4): wenig Grün bedingt im allgemeinen bauliche Verdichtung, schlechte Luft, viel Lärm, Hitzestress. Frauen gehören danach neben Bewohnern mit Migrationshintergrund und Arbeitslosen zur am stärksten belasteten Gruppe (Abb. 5).
Zu berücksichtigen sind konkurrierende stadtplanerische Ziele (z. B. Dichte, Grünbedarf, vorhandener Grünraum, Stadtstruktur, Bevölkerungswachstum, bestehende bauliche Strukturen in "Grünschneisen" und Verkehrsachsen), Denkmalpflegerische Ansprüche, potenziell divergierende Interessen in der Liegenschaftsverwertung (Begrünen oder Verdichten?) und die erforderliche Stadt-Umland-Kooperation. Strategische Maßnahmen für eine klimasensible Stadtplanung werden die Evaluierung mit folgenden Kategorien angehen:
–Mikroklima, Mesoklima
–Biodiversität, Lebensqualität/Gesundheit für Menschen
–Errichtungs- und Erhaltungskosten
Gesicherte Gesundheitsbelastungen und Grün als Gesundheitsprävention
Gesundheitsbelastungen und -Risiken können durch Begrünung und die Nutzung städtischer Innen- oder Außenräume gemindert werden.
Eine Studie zur Überlebensrate von Senioren in Japans Großstädten berichtet schon sehr früh: Je nach Ausstattung mit viel oder wenig Freiraum oder Parks und Alleen im Wohnumfeld unterschied sich die Lebenserwartung bei der Auswertung nach einem Fünfjahreszeitraum deutlich: bei der Gruppe mit viel Freiraum für Spaziergänge waren noch 73,8 Prozent am Leben, ohne Freiraum nur 55,7 Prozent.
Mit Parks und Alleen im Wohnumfeld lebten noch 74,2 Prozent, ohne Parks und Alleen nur 66,2 Prozent. Daraus wurde auf die Bedeutung des Wohn- und Arbeitsumfeldes und dessen Qualität hingewiesen! Die Beweise für die Richtigkeit dieser Hypothese mehren sich.
Das Urbane Grün kann verschiedene Aspekte der Gesundheit berühren und nachweislich verbessern:
a) Gärtnern (z. B. in Gemeinschaftsgärten) kann zu gesünderer Ernährung beitragen: Mehr körperliche Bewegung, vermehrter Verzehr von frischen Produkten, vermehrte Vielfalt beim Verzehr von Obst und Gemüse, weniger Vorratshaltung, weniger Verzehr von Konserven, weniger "Fast Food" und Restaurantbesuche (u. a. bei Kindern), Gewichtsabnahme bei Übergewicht, vermehrte Beachtung von Ernährungsregularien bei Diabetes-Patienten.
b) Straßenbäume als Mittel gegen Depressionen: Die vermehrte Zahl an Bäumen in unmittelbarer Umgebung der Wohnung (unter 100 m Entfernung) geht häufig mit einer geringeren Zahl von Antidepressiva-Verschreibungen einher (besonders bei sozial benachteiligten Gruppen).
c) Ein Grün-basiertes Umfeld am Arbeitsplatz bewirkt Stressreduktion und eine Verbesserung kognitiver Leistungen.
d) Grünflächen und Natur bestärken Wohlbefinden: Eine Aufenthaltsdauer von wöchentlich zwei oder mehr Stunden in der Natur erzielt eine signifikante Verbesserung der selbst eingeschätzten Gesundheit.
e) Pflanzen- und Vogel-Artenreichtum korreliert positiv mit mentaler, nicht signifikant mit physischer Gesundheit. Zugang zu Grünstrukturen verbessert beides: mentale und physische Gesundheit (Abb.6).
f) Nach einer Metaanalyse von 103 Beobachtungsstudien und 40 sog. Interventionsstudien: Signifikante gesundheitliche Verbesserungen bei längerem Aufenthalt in Grünanlagen und Parks (nach Twohig-Bennett 2018) für "Gute Gesundheit (Selbsteinschätzung)", Geburtsgewicht und Schwangerschaftsreife, Diabetes Typ II, allgemeine Sterblichkeit, Bluthochdruck.
Im Kampf gegen die Hitze: Spektrum von gesundheitsrelevanten Grünanlagen und Beispiele von Kühlluftinseln
Zum gesundheitlich funktionalen und damit zum gesundheitspräventiven Grün zählt somit das gesamte Stadtgrün (Stadtpark, Randbegrünung, Baumbestand) und die gesamte Palette des Gartenangebotes (Schreber-, Gemeinschaftsgarten, Schulgärten, Dachgärten, therapeutische Gärten) und des Umgebungsgrüns. Auch kleinteilige Angebote dürfen mangels Datenlage nicht unterschätzt werden! (Abb. 7).
Der individuelle Hausgarten (und mit Einschränkung eine ästhetisch wohl gestaltete Balkonbepflanzung) sind in der Dimension meistens reduziert, können aber im Konzept und mit einem empathischen Engagemeent ein wertvoller und erholsamer Ort mit emotionaler Anregung, evtl. mit körperlicher Aktivität sein. Hier sind die persönliche Pflege und der eigene aktive Gestaltungswille wichtig: sie sind das entscheidende Erfolgselement.
Attraktive öffentliche Plätze werden in aller Regel von städtischen Grünämtern initiiert und unterhalten. Sie reduzieren mentalen Stress, fördern Entspannung und leisten einen wertvollen Beitrag für das menschliche Wohlbefinden (besonders an Hitzetagen) durch die variablen Gestaltungselemente und die Konzeption der Grünstruktur. Sie bieten einen wichtigen Lebensraum für Insekten, Spinnen und Vögel. Eine Kombination mit Wasser (visuell, ausgewählt akustisch oder sensitiv durch Kühlung) ist sinnvoll. Solche "Grün-Prototypen" geben uns einen Vorgeschmack, welche visuelle Richtung die Stadt der Zukunft einschlagen könnte.
Bei einer Platzgestaltung kann die Vielfalt des grünen Angebotes entscheidend sein:
- Bäume und Baumgruppen, Hecken und Büsche
- Cool Places (mit kommunikationsfördernden Sitz- oder Liegemöglichkeiten)
- Rasenflächen mit Schmuckbepflanzung
- Stauden, Sommerblumen, Geophyten, Kübelpflanzen
- Fassadenbegrünung
- Urban Gardening
- Gärtnern in Rissen und Spalten ("Crack Garden")
- Kunstobjekte mit Wasser, Trinkbrunnen und Zapfstellen
- Rinnen und Bäche
- Wasserobjekte, Spielobjekt mit Wasser
Beispiel Paris
Https://www.stadtmarketing.eu/cool-places/: Die Sommerhitze, die in den letzten Jahren in ganz Europa thematisiert wurde, ist in Frankreich besonders ausgeprägt wahrgenommen und auch messbar gewesen. Frankreich hat in den vergangenen Jahren lange Perioden extremer Hitze ertragen und bewältigen müssen- Als Sommer-Besucher der französischen Metropole kann man eine Paris-App "Extrema Paris" nutzen, die circa 900 cool places aufweist.
Diese kühlen Luftinseln sind Fußgängerwege, die kühle Luftinseln darstellen und:
- besonders bewaldet und/oder begrünt sind,
- besonders beschattet von Bäumen, Gebäuden, Sonnensegeln.
- natürliche kühle unterirdische Bereiche, wie Fußgängertunnel darstellen.
- sich direkt neben Gewässern befinden, wie der Seine, kleineren Kanälen und den Böschungen eines Sees
- und aus Materialien hergestellt sind, die nicht oder nur wenig Wärme speichern. Mit blassen Farben und mit thermischen, durchlässigen Eigenschaften gefertigt.
Im Sommer 2020 waren in Paris über 900 Kühlluftinseln tagsüber und über 150 nachts zugänglich.
- Grün- und Waldflächen, einschließlich Gärten, Parks, Wälder und Friedhöfe (gekennzeichnet entsprechend ihrer Kühle) einschließlich 150+ nachts geöffnete Grünflächen.
- Badestellen, darunter Schwimmbäder, Wasserzentren und Badestellen im Freien.
- Plätze mit Sprühnebeln und Wasserspielen, einschließlich Wasserspiegeln und Sprühnebeln.
- öffentlich zugängliche Einrichtungen wie Kirchen und Museen, die von Natur aus cool sind.
- öffentlich zugängliche und cool places, darunter Museen und Bibliotheken.
Medizinschwerpunkte erfordern eine inhaltliche klimaspezifische Anpassung
Klimaanpassung betont für die Medizin die Reaktion auf ein sich veränderndes Krankheitsspektrum, aber auch vorbeugend die Verbesserung der Versorgungsstrukturen. Klimaresilienz ist das medizinische Behandlungsziel (Traidl-Hoffmann 2020), eine resiliente Umgebung, und urbane Grünstrukturen sind ein Muss!
Die Durchschnittstemperaturen steigen weltweit stetig an - besonders in den Städten zeigt sich die Hitzeentwicklung intensiv. Fassaden, Dachflächen und versiegelte Flächen absorbieren und speichern die Wärme besonders und geben sie erneut an ihre Umgebung ab. Mit gezielten Maßnahmen, Entsiegelungen und Beseitigung der extrem Hitzeunfreundlichen "Schottergärten" lassen sich diese sogenannten urbanen Hitzeinseln verringern und sogar zu natürlichen Kühlplätzen umfunktionieren. Die Begrünung von Gebäudefassaden und Dächern spielt dabei eine entscheidende Rolle. Dadurch kann man die tatsächliche Temperatur in der Umgebung von Bauwerken um mindestens 2 bis 3 Grad Celsius senken. Bei der gefühlten Temperatur soll sogar eine Reduktion um bis zu 13 Grad Celsius und mehr möglich sein.
Ein sog. Klimamanager*in wird sich in Zukunft sowohl präventiv um Öffentlichkeitsarbeit, um die sog. Hitzeaktionspläne für Patienten und Mitarbeiter (s. Tabelle 1) und deren Umsetzung kümmern. Er wird die Einschätzung über potenzielle UHI (Urbane Hitzeinsel) geben. Die besondere Ansprache der sogenannten vulnerablen Gruppen (u. a. alleinstehende ältere und pflegebedürftige Menschen mit Fieber und Hitzeanpassungsstörung) wird Aufgabe einer Task-Force sein, jede medizinische Disziplin ist darin eingebunden.
Lungenfachkunde: Asthmaerkrankungen und die chronisch obstruktive Bronchitis (COPD) treten in Industriestaaten durch Feinstaub, Ozon, Stichoxide, Allergene, Trockenheit und Waldbrände vermehrt auf. Zunahme von Hitzestress und Luftbelastung, die geringere Reserve der Temperaturregulation und die nachteilige Verstärkung durch konventionelle Lungenmedikamente erhöhen das Risiko und die Sterberate dieser Patienten bei Hitze. Klimaorientierte Umgebungskonzepte und angepasste Arzneimitteltherapien (u.a. Vorsicht mit sog. Asthmasprays) sowie Patientenschulungen rücken in das Zentrum der Behandlung.
Allergologie: Allergie-bedingte Erkrankungen sind im urbanen Umfeld häufiger. Die Pollenbelastung beginnt durch Erwärmung früher, ist intensiver und teilweise durch gleichzeitige Stickoxidbelastung aggressiver als in den letzten Jahrzehnten. Das Allergenspektrum erweitert sich infolge Globalisierung und Einschleppung (s. Ambrosia).
Infektiologie: Die weltweite Verteilung von ursprünglich tropisch/subtropischen Krankheitserregern bewirkt in unseren Regionen durch zunehmende Migration und die Globalisierung neue ansteckende Erkrankungen (u. a. Malaria, Dengue-Viren). Akute Überflutungen verursachen die Verbreitung von Darmkeimen. Eine Besiedlung mit Krankheitskeimen in Wasserläufen (z. B. Leptospiren, Vibrionen) erwarten wir zusätzlich in langen Wärmeperioden.
Die Umwelt-, Arbeits- und Präventivmedizin und die Endokrinologie (Bereich Hormon- und Stoffwechselbeeinflussung) wird die Erforschung vererbter und Schadstoff-bedingter Gesundheitsschäden intensivieren. Das Spektrum von gesundheitsschädlichen Substanzen in der Umwelt ist immens. Chemische Substanzen mit direkter Einwirkung in die komplexen Abläufe des menschlichen Hormonsystems, und ungünstigen Einflüsse auf die Entwicklung des Zentralnervensystems müssen mehr Beachtung bekommen. 1000 Substanzen mit bekannter "disruptiver" das heißt zerstörender Wirkung aus der Klasse der Pflanzenschutzmittel, Insektizide, Weichmacher in Plastik, Kosmetika, Medikamente sind bis heute bekannt.
Die Ernährungsmedizin bekommt durch Klimaforscher intensive Zielvorgaben. Die Reduktion der jährlichen Todesfälle durch Klimaschutz bis 2040 wird für Deutschland hochgerechnet: 16.000 durch bessere Luftqualität und Neubewertung von "Grün und Natur", 144.000 durch gesündere Ernährung, 6000 durch körperliche Aktivität - (Hamilton 2021). Klimaschutz und Grünangebot verbessern die Luftqualität (s. Lungenfachkunde), führt zu mehr körperlicher Bewegung und fördert nachhaltige Ernährungsgewohnheiten und Lebensmittelproduktion. (Prof. Dr. Annette Peters vom Helmholtz Zentrum 2021)
Fazit aus medizinischer Sicht
Für bestimmte Eigenschaften von Gärten und Parks ist ein besonderer allgemeiner und breit angelegter Gesundheitsvorteil bewiesen (Wichtig: Ästhetik, Zugang und Erreichbarkeit, Sicherheit). Die spezielle evidente Hitze-beeinflussende präventive Funktion des Grüns wird zunehmend an Bedeutung gewinnen.
Die Mechanismen, die den Gesundheitsaspekt definieren (Ästhetik oder sog. Ökosystemleistung?), sind manchmal klar ersichtlich. Bisweilen sind diese Mechanismen aber noch nicht ausreichend untersucht. Wahrscheinlich müssen verschiedene zusammenwirkende Prinzipien betrachtet werden (Tab. 2).
Mediziner müssen sich in die Absichten und Einsichten der verschiedenen betroffenen Randdisziplinen einmischen. Wir benötigen neben Beobachtungsstudien (Korrelation oder Kausalität?) weitere fundierte kontrollierte Studien, Verlaufsstudien sowie Grundlagenuntersuchungen, die sich zum Beispiel mit Hirnfunktion und Grün befassen. Damit können den Stadt- und Grünplanern, sowie Krankenhausmanagern unabweisbare Entscheidungsargumente an die Hand gegeben werden.
Im Gesundheitssystem hilft ein Salutogenetischer Gesundheits-Ansatz: Klima-Begrünungsmaßnahmen, begehbare Räume zum Schutz vor nachteiligen Klimaeinflüssen und zur Verbesserung des Patienten- und Mitarbeiterkomforts sind gesundheitsimmanent.
Wir benötigen Anpassungen in den Lehrplänen für medizinisches Personal und insbesondere für Medizinstudenten. Die Relevanz von innerstädtischen Garten- und Grünstrukturen für den Klimawandel und seine Auswirkungen auf die Gesundheit sind dabei vorrangig.
Wir haben Anforderungen für eine neue Sichtweise in Politik und Medizin:
Die politischen Verantwortlichen und Stadtplaner müssen die für die Gesundheit unverzichtbaren Flächen an Grün bei städtebaulichen Entwicklungsfragen mit einbeziehen, vor allem, wenn es um die Gesundheit der Älteren, der Jugend und der ökonomisch-wirtschaftlich benachteiligten und vulnerablen Gruppen geht. Es geht um das Holobiom! (Artenschutz): Es geht nach der Naturethik auch um die Reichweite von Pflichten der Menschen gegenüber nichtmenschlichen Lebewesen.Literatur
- Watts N, et al., The Lancet Countdown: tracking progress on health and climate change. Lancet. 2017 Mar 18;389 (10074):1151-1164. doi: 10.1016/S0140-6736(16)32124-9. Epub 2016 Nov 14. PMID: 27856.
- Watts N The 2018 report of the Lancet Countdown on health and climate change: shaping the health of nations for centuries to come, Lancet 2018 Dec 8;392(10163):2479-2514. doi: 10.1016/S0140-6736(18)32594-7. Epub 2018 Nov 28.
- van der Heiden, Matthias; Hitzebedingte Mortalität Dtsch Arztebl Int 2020; 117(37): 603-9; DOI: 10.3238/arztebl.2020.0603.
- Umweltgerechtigkeitsatlas Berlin, Aktualisierung 2021/22.
- Methorst J et al, Species richness is positively related to mental health -A study for Germany, Landscape and Urban Planning Vol 211, July2021.
- Frumkin H et al., Environ Health 125(7): 07500, .2017 Jul 31. is available at doi.org/10.1289/EHP1663.
- Wiener Hitzeaktionsplan - Für ein cooles Wien der Zukunft , file:///C:/Users/hlueb/Downloads/AC16532150.pdf).
- Hartig T Nature and Health. Annual Review of Public Health, Vol. 35:207-228, doi.org/10.1146/annurev-publhealth-032013-182443.