Vegetationselemente verbinden sich zu einer ornamentalen Struktur
Der Kunstcampus der Berliner Europacity
von: Marianne Mommsen, Dipl.-Ing. Thomas ThränertFür die Relevanz städtischer Freiräume lassen sich unterschiedlichste Begründungen finden. Sie reichen von der Regulierung des Stadtklimas über die Schaffung niedrigschwelliger sozialer Begegnungsräume bis zum Wunsch nach Bewegung und Gesunderhaltung in von Abstandsregeln bestimmten Zeiten. Sie reichen aber ebenso vom Interesse an der Steigerung des Wertes angrenzender Immobilien bis zur Verkehrserschließung.
Vor allem neuentstehende Stadtquartiere verdeutlichen, wie wesentlich Freiräume zur Adressbildung und Identifikation beitragen können. Was bedeutet die Vielstimmigkeit dieser Anforderungen für die Gestaltung? Sind Plätze, Grünzüge oder Promenaden konsensuell auf Grundlage eines "kleinsten gemeinsamen Nenners" zu konzipieren? Oder gerade als positionierte und damit an sich kenntlich werdende Werke, die im Sinne von Walter Benjamins Konzept des Flaneurs dazu einladen, "auf dem Asphalt botanisieren" zu gehen? Auf Letzteres zielt die Gestaltung für den Kunstcampus von relais Landschaftsarchitekten in der nördlich des Berliner Hauptbahnhofs entstehenden Europacity.
Das Areal des Kunstcampus grenzt nördlich an das Gebäude des Hamburger Bahnhofs mit dem Museum für Gegenwart. Sein fluchtender Raumgrundriss ist Relikt der früheren Bahnnutzung und bildet in seiner Grundstruktur eher eine Passage als eine Platzsituation. Im Gegensatz zu seiner typologischen Unschärfe verfügt das Areal durch die prägnante Raumfigur über einen ausgeprägten Ortscharakter. Durch die südlich beziehungsweise westlich anschließenden Gebäude des Bahnhofs und der Rieckhallen stützt sich dieser auf eine räumliche und materielle Kontinuität, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Diese historische Sedimentation ist im Kontext des neuen Stadtquartiers, dessen Identität sich künftig neu formulieren muss, ein großer Wert.
Das urbane Boskett
Für das Konzept ist die Betonung der Besonderheit und Andersartigkeit des Raumes um den Hamburger Bahnhof von grundlegender Bedeutung. Dabei geht es um die Differenzierung zu den anderen in der Europacity entstehenden Freiräumen, bei denen es sich meist um überschaubare, orthogonale Platzflächen handelt. Eine ebenso entscheidende Rolle spielt für das Konzept aber auch die Andersartigkeit zu den stark und mit hoher Geschwindigkeit genutzten Infrastrukturen der Invalidenstraße oder der Heidestraße. Aus diesem Blickwinkel liegt der neugestaltete Freiraum in zentralster Lage, doch in der "zweiten Reihe". Das Campusareal wird daher als Raum aufgefasst, der auf einen anderen "Pulsschlag" abgestimmt sein kann, Verlangsamung zulässt und das Potential eines Rückzugsraumes für Anwohner*innen und Tourist*innen bietet.
Aus dieser Raumwahrnehmung zielt das Konzept darauf, den spezifischen Ortscharakter dieses polymorphen und von heterogenen Architekturen gerahmten Freiraumes zu steigern. Dazu wird in dessen Zentrum als markante gestalterische Geste ein urbanes Boskett ausformuliert. Konzipiert ist es als Folge von drei "Kabinetten", die durch ihre trapezoiden Grundrisse mit abgerundeten Konturen aufeinander Bezug nehmen. Verbunden sind diese drei Bereiche durch einen Hain aus ein- und mehrstämmigen Birken (Betula pendula).
Mit diesem urbanen Boskett wurde ein Motiv entwickelt, das eine eindeutige Adresse bildet und im in Konversion befindlichen Stadtquartier als Kontrapunkt tragfähig ist.
Transformation des Boskettmotivs
Das Boskett wird als tradiertes gartenkünstlerisches Motiv aufgegriffen, mit dem körperhafte Vegetationselemente zu einer ornamentalen Struktur verbunden werden. Dieses Motiv verfügt über einen spezifischen Formenkanon und steht für eine signifikante kleinklimatische Situation und einen entsprechenden Lichtcharakter. Gestalterisch setzt es den Kontrast zwischen formaler Strenge und Offenheit in Szene, durch den eine kultivierte Wildheit evoziert wird.
Die Folge der "Kabinette" des urbanen Bosketts auf dem Kunstcampus nimmt mittelbar Bezug auf die umgebenden Baufluchten. Die nördliche und südliche dieser Flächen erhielt einen klar konturierten Rahmen aus hellem Granit, der in seiner Breite zwischen 1,5 und 0,5 Metern variiert. Das Innere dieser Flächen wurde als sanft modellierter Wiesenspiegel ausformuliert, der sich im Bereich des aufgeweiteten Rahmens leicht einsenkt, so dass dort eine zur Mitte orientierte Sitzstufe von bis zu 30 Zentimetern entstand. Im Bereich der breiten Rahmenabschnitte führen zweistufige landschaftliche Schwellen und kurze Rampen in das Innere der Grünflächen. Die mittlere, als Spielort gestaltete Fläche wurde mit einer Hainbuchenhecke eingefasst.
Die Vegetationskabinette des Kunstcampus sind in einen Rahmen aus Großsteinpflaster eingebunden. Verwendet wurde dafür das im Bestand vorhandene - teilweise aufgearbeitete - Pflastermaterial, das zur Differenzierung des Platzraumes teilweise mit geschnittener Oberseite und mit gebrochener Oberfläche eingebaut wurde.
Der Hain des urbanen Bosketts schafft sowohl ein prägnantes Bild wie ein poetisch-assoziatives Initial. Die Stellung der Birken interagiert mit der gestreckten Raumfigur und nimmt Bezug auf die Richtungsvorgabe der früheren Bahnnutzung. Das Wäldchen lotet potentielle Zustände dieses Stadtraumes assoziativ aus: die auf unbestimmte Fernen bezogenen verkehrsgeschichtlichen Narrative des Ortes und die ruderale Überlagerung aufgegebener Gleisanlagen ebenso wie das Hervorbrechen eines Naturzustandes.
Die Konturen des Bosketts formulieren eine durchlässige Grenze, die einen Möglichkeitsraum mit besonderer atmosphärischer Qualität schafft.
In den Kabinetten bieten dazu außer den durch die eingesenkte Mitte als Sitzstufen nutzbaren Granitrahmen die Wiesenflächen und frei aufgestellte Landschaftssessel mit Holzbelattung unterschiedliche Aufenthaltsangebote.
Der Kunstcampus als Shared Space
Entscheidend für das Nutzungskonzept des Freiraums ist der Ansatz des Shared Space, nach dem nicht nur die rahmenden Verkehrsflächen gestaltet sind. Viel weitreichender wurde darin ein Leitbild gesehen, um verschiedenartige, gegensätzlich motivierte Interessen an den Raum in Einklang zu bringen. Alltägliche und touristische Nutzungsinteressen werden dabei gleichermaßen angesprochen.
So entsteht ein Ort zum Verweilen, der eine besondere kleinklimatische Situation und einen durch den Birkenhain geprägten Lichtcharakter aufweist. Gestalterisch ist das Boskett vom Kontrast zwischen der Strenge seiner Grundform und einer innerhalb dieses Rahmens evozierten Offenheit geprägt. Der Kunstcampus wird als ein zusammenhängender Raum erfahrbar, doch bietet er unterschiedlichste Qualitäten. Er ist vegetativ und befestigt, öffentlich und privat. Über ein starkes Bild schafft er eine Bühne für Interaktionen des städtischen Lebens. So bietet das Konzept, der individuellen Wahrnehmung Gelegenheit zum Perspektivwechsel und - im Sinne Walter Benjamins - zum "Botanisieren" im städtischen Raum.
"It Wasn't Us" als künstlerische Intervention
Das Potential zu dieser Erkundung wurde zwischen Juni 2020 und 10. Januar 2021 gleichermaßen genutzt und ausgelotet durch Katharina Grosses Kunstwerk "It Wasn't Us". Damit war der Freiraum Teil und Rahmen einer Bildwelt, die sich aus der historischen Bahnhofshalle des Museums über die Erschließungsstruktur des nördlich angrenzenden Freiraums bis auf die Fassade der sogenannten Rieckhallen erstreckte. Diese künstlerische Intervention stellte Gegebenheiten des Kunstcampus als Stadtraum explorativ und spielerisch infrage. Das pulsierende Farbgeschehen des Kunstwerks setzte sich über Grenzen und vertraute Ordnungsmuster hinweg. Aufmerksamkeit wurde um- und abgelenkt und führte zu neuen Interaktionen mit dem Raum. So wurde das zentrale urbane Boskett des Quartiersplatzes vom grünen "Farbtupfer" zum optischen Ruhepol inmitten aufbrandenden Kolorits umgewertet. Dynamik und Farbigkeit vermittelten neue Nutzungsimpulse und luden zur Entdeckung und Bespielung des Kunstcampus ein.
Das Kunstwerk zeigt, wie anregend komplexe und unerwartete Ordnungen für den öffentlichen Raum sein können und dass ein Straßenraum mehr als nur betret- und befahrbar sein kann. Zugleich illustriert es, wie Landschaftsarchitektur im besten Fall Ermöglichungsräume schafft. So wird die Gegenwart im Freiraum auf immer neue Weise bewusst und erfahrbar.
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