Von der Ästhetik der Stadtlandschaft
Schöne Natur, ansehnliche Architektur, störende Autos
Die Opéra Bastille ist eines von zwei Opernhäusern in Paris. Bei ihrer Einweihung 1989 war sie von Autos umgeben, die manchmal fast wie ein Halsband anmuteten. Ein einsamer Baum vertrat das Stadtgrün. Ansonsten auf dem Vorplatz: kein Grün, nirgends. Nach etwa drei Jahrzehnten erscheinen wenigstens ein bisschen Bäume, neugepflanzt; damit ist etwas Grün zu erwarten. (S. Abb. 1)
Bei mancher alter wie moderner wie postmoderner Architektur ist es dem laut Kant "interesselosen" ästhetischen Wohlgefallen und den an ihrem Wohlbefinden interessierten Bewohn- und Benutzer*innen der Gebäude von Nutzen, wenn Vertikal- und Dachbegrünung gnädig die Hässlichkeit der Gebäude verdecken und die Atmosphäre, das Mikroklima, verbessern, also durch eine Art ziviles "dual use". Vor allem die oft monströsen Klötze der Fach- und Großmärkte aller Art und Autohäuser am Rand der Städte in den "Einkaufsparks" und entlang der Ausfallstraßen hätten derlei Begrünung dringend nötig. Im Durchschnitt jedoch ist ein Gutteil der Gebäude einigermaßen passabel, wie eben etwa das innen überdimensionale Opernhaus Bastille in Paris.
Versündigungen am Bau und "Bausünden"
Das lässt sich von dem folgenden Beispiel nicht behaupten: Rathaus, City Hall von Boston, 1963–1968 gebaut. Das Gebäude samt Umgebung fällt großenteils unter den Begriff der "Bausünde", eine Unterklasse dessen, was im Englischen Eyesore heißt, mit einem Bedeutungsspektrum zwischen unschöner Stelle und Schandfleck. (Abb. 2)
SUG-Stellenmarkt




"Das Rathaus ist so hässlich, dass seine verrückten, auf dem Kopf stehenden Hochzeitstorten-Säulen und der windgepeitschte Platz vom wahren Übel des Gebäudes ablenken. Sein großes Verbrechen ist nicht, dass es hässlich ist, sondern dass es stadtfeindlich ist. Das Gebäude und sein Platz halten eine dicht belebte Stadt auf Armeslänge Abstand."¹ Außer dem Kunstrasen gibt es vor dem Gebäude absolut kein Grün, nicht einmal in Töpfen – was wiederum zu dieser Architektur passt. Die Billig-Möblierung draußen wird im Inneren ergänzt durch einen düsteren, geometrisierenden Beton-Brutalismus². (Abb. 3)
Abweichend von dem Prinzip, dass städtische Plätze meist primär als Parkplätze dienen, statt Platz für Parks in der Stadt zu schaffen, wird der inhaltsarm theatralische Vorplatz der Bostoner Stadt-Repräsentation nicht für Autos verwendet. (Abb. 4)
Optische, akustische und olfaktorische Schädigung der Stadtlandschaft
Fahrende Autos erzeugen die Luft und das Klima schädigende Emissionen und machen Gehör und Psyche schädigenden Lärm, parkende, immobilisierte Automobile stören oder blockieren gar den Verkehrsfluss der zu Fuß Gehenden oder Radfahrenden. Verstopfte und zugeparkte Straßen sind weltweit nicht gerade eine Rarität.
"Auf den Straßen vieler Großstädte geht oft über Stunden nichts mehr. Zwei Stunden Anfahrt zum Büro sind nichts, sagen Bewohner von Großräumen wie Bangkok, Jakarta und Manila. Die 65 Stunden, die Autofahrer in Köln nach Berechnungen des Verkehrsdatenanbieters Inrix 2014 durchschnittlich im Stau verloren haben, sind ein Klacks gegen das, was man in Asien erleben kann."³ Eine originelle, aber nicht verallgemeinerbare Methode der Gegenwehr: Ein Radfahrer in Jakarta fährt auf der leeren Busspur gemütlich am Autostau vorbei.4 In einer der Hauptstädte auf der anderen Seite des Pazifiks sieht es nicht besser aus. (Abb. 5)


Die Metropolregion Gran Buenos Aires hat etwa 13 Millionen Einwohner*innen, etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung Argentiniens. Wie eigentlich überall, genügt das vom privaten Autoverkehr überflutete Straßennetz nicht für den Personen- und Gütertransport. Ein Hauptmangel ist der unterentwickelte ÖPNV auf Schienen. Die U-Bahn-Linien bilden kein Netz, allenfalls eine Reuse, die in den zentralen Platz der Stadt einmünden, die Plaza del Mayo mit Rathaus, Präsidentenpalast, Nationalbank und Kathedrale. Er ist nach dem Mai 1810 benannt, dem 1816 die endgültige Befreiung von der spanischen Kolonialherrschaft folgte. Während der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 protestierten hier die Mütter der Plaza de Mayo und die Großmütter der Plaza de Mayo seit dem 30. April 1977 wöchentlich mit einem Schweigemarsch gegen das spurlose Verschwinden lassen ihrer Söhne, Töchter und Enkelkinder. (Abb. 6)
Abgesehen von den U-Bahnen gibt es ein kleines Straßenbahnnetz. Aber der ÖPNV wird "hauptsächlich mit dieselbetriebenen Bussen, den sog. "Colectivos" bewältigt. Das Busliniennetz umfasst mehr als 150 Linien, die linienbezogen von privaten Firmen betrieben werden. [. . . Sie] sorgen [. . . ] – wie der übrige Kraftfahrzeugverkehr auch – für eine erhebliche Schadstoff- und Lärmemission. Durch die regelmäßigen Staus auf den Straßen der Stadt bei nur wenigen Busspuren ist das Einhalten eines Fahrplans beinahe nicht möglich und wird realistischerweise auch nicht ernsthaft von den Fahrgästen erwartet. Für den individuellen, öffentlichen Nahverkehr stehen etwa 40.000 Taxis zur Verfügung. Dies entspricht einem Verhältnis von einem Taxi je 72 Einwohnern der Hauptstadt."5
Trotz des Primats des Privaten im öffentlichen Verkehr gibt es insuläre Verweise auf das Kollektive und Allgemeine. Etwa eine Plakette in der U-Bahn-Station Carlos Gardel, einer Größe des Tango – Charles Romuald Gardès, Tango-Sänger und Komponist, *1890 in Urugay, + 1935 bei einem Flugzeugunfall. Bei dem kleinen Kunstwerk handelt es sich nicht um Reklame, sondern um ein fileteado, eine vielerorts, von Läden bis Lastwagen, angebrachte Volkskunst oder angewandte Kunst, ornamental, bunt, vielfältig. (Abb. 9)



Lärm und Luftverschmutzung
"Warum in die Ferne schweifen?" Auf den Straßen und im Verkehr der Stadt ist auch in der Bundesrepublik Deutschland zwar nicht kein, aber kaum Platz für zahme Menschen, fahrradfahrende Kinder, Kinderwagen und Haustiere. Auf dem Gehweg geht's gerade noch. (Abb. 7)
Hier sind es, wie oft, unordentliche, zufällige Zusammenballungen. Ein Gegenbild, zwar nicht besonders schön, aber ordentlich, sind die vor einer der berühmten, stadttypischen langen Arkadengänge in Bologna geparkten Autos.6 Sie bilden eine buntscheckige moderne Beilage zum alten Stadtbild. (Abb. 8)
E-Autos, apropos Emissionen, verursachen erheblich weniger Lärm und unmittelbare Emissionen. Da die Motoren leise sind – also, anders gesehen, nicht viel an Machtdemonstration hermachen – werden sekundär absurderweise Motorgeräusche künstlich erzeugt. Die Abrollgeräusche, die ebenso lästig sind, bleiben aber sowieso. Insofern ist der künstliche Lärm, der vorgeblich der Warnung der anderen Verkehrsteilnehmer*innen dienen soll, sinnlos. Die Ökobilanz ist, aufs Ganze einschließlich der Produktion berechnet, freilich auch nicht berauschend. Insgesamt dürfte das E-Auto mittelfristig eher eine Dead-End-Technologie als eine "Brückentechnologie" sein, hauptsächlich mit dem Zweck, durch – einträgliche – Reanimationsmaßnahmen das Leben und den Vorrang des Privatverkehrs künstlich zu verlängern. Für den innerstädtischen ÖPNV, also vor allem bei Bussen, und den Warentransport durch Post und andere Dienste ist die Elektrifizierung allerdings sinnvoll. Auch auf den Gehwegen, die zum Gehen und Radfahren von Kleinkindern gedacht sind, macht sich etwas Neues mit E- breit: Es häufen sich seit fünf Jahren abgestellte E-Roller, die ja digital vermietet werden, aber analog, also von Arbeitskräften eingesammelt werden müssen.
Von solchem Luxus frei sind viele Länder, wohl alle des globalen "Südens". Autos ohne E- sind aber, wie das Beispiel Jakarta zeigt, längst auch hierher vorgedrungen. Die kleine Stadt Lautoka ist die drittgrößte Stadt der Republik Fidschi (Viti bzw. Matanitu ko Viti). Sie liegt im Nordwesten der Insel Viti Levu, etwa 25 Kilometer nördlich des Nadi International Airport. Laut Volkszählung von 2007 hatte sie 52 220 Einwohner.7
Die Republik Fidschi ist erst seit 1970 unabhängig von Großbritannien. Mit etwa 896.000 Menschen ist das Land eines der reichsten Archipele des Pazifiks im Hinblick auf die Bevölkerung, ansonsten aber arm.
Trotz der Armut gibt es, auch als ein Ausdruck der Globalisierung, schon relativ viele Autos, und doch noch Platz für Straßenbäume und sogar einen schön mit Blumen bepflanzten Großkübel an einer Straßenkreuzung. (Abb. 10)
Die Spaltung der Gesellschaft in Arme und Reiche reproduziert und widerspiegelt sich im Weltmaßstab. Diese vielbeklagte und von oben, etwa über die Steuergesetze, viel gepflegte "Spaltung der Gesellschaft" wird von der "Marktwirtschaft" auch ohne besondere Pflege stets neu erzeugt, eben auch im Weltmaßstab. Die Republik Fidschi gehört dabei nicht zu den am schlechtesten gestellten.
So müssen immerhin nur 1,3 Prozent in "absoluter Armut" (unter 2,15 Dollar pro Tag in lokaler Kaufkraft) leben. Die Vereinigten Staaten von Nordamerika ohne Kanada können in dieser Rubrik mit 1 Prozent problemlos mithalten. 12,4 Prozent der Bevölkerung haben unter 3,65 Dollar pro Tag. Die Mehrheit, 52,6 Prozent, muss mit 6,85 Dollar pro Tag auskommen.8 (Stand 2019). Daraus ergibt sich, dass etwa ein Drittel der Bevölkerung irgendwie nicht arm ist.


Beruhigung, Stille und städtisches Leben
Entprivatisierung und Kommunalisierung des öffentlichen Verkehrs ist ein Königsweg zu einer lokal wie global lebenswerten, gesunden, freundlichen Stadt. Eine parallele Spur auf diesem Weg ist der zunächst individuelle, aber verallgemeinerungsfähige und damit zugleich kollektive Umstieg auf ein vor-automobiles, nicht selbstbewegendes sondern selbst zu bewegendes Fahrzeug.
Ein Fortbewegungsmittel auch des Menschentransports gerade für kürzere Wege der Innenstädte ist das Fahrrad, abgesehen von nicht weit reichenden menschlichen Ausdünstungen emissionsfrei und lärmarm. Es ist zwar nicht von schlechterdings allen benutzbar, da es eine gewisse körperliche Fitness erfordert. Aber für die ganz Jungen und die Alten und die irgendwie Behinderten taugen Rikscha-artige Fahrräder. Das Fahrrad ist uns bereits in Jakarta als individuelle Alternative begegnet.
Als kollektive ist es das schon seit langem etwa in Kopenhagen, das auf Reisende besonders ruhig und leise wirkt. Auch andere, größere Städte besinnen sich auf diesen Ausweg. Der Autoring um die Opéra Bastille ist Vergangenheit, wie die Bastille selber, das Pariser Staatsgefängnis im Absolutismus. Stadt und Stadtverwaltung haben eine "Verkehrswende geschafft". "Autos sieht man nur noch wenige in der Pariser Innenstadt."9 Die reine, ungestörte Idylle ist damit freilich noch nicht angebrochen: "Nur, nur . . . läuft der Fußgänger heute Gefahr, von Rudeln von Fahrradfahrern mit Höchsttempo überfahren zu werden. Ich würde sogar behaupten, dass es mit Autos leichter war, die Straßenseite zu wechseln."10 So oder so: Üblicherweise sind in Paris wie in allen Städten der Welt wesentlich mehr Menschen unterwegs und beisammen als im abschließenden Bild. (Abb. 11)
Anmerkungen
¹ Paul McMorrow: Boston City Hall should be torn down, The Boston Globe, https://www.bostonglobe.com/opinion/2013/09/23/boston-city-hall-should-torn-down/oVs2ywpJg1qHZkmmmZIYIL/story.html, September 24, 2013, zit. n. Wikipedia, https://en.wikipedia.org/wiki/Boston_City_Hall, 4.11.23, Abruf 1.4.24. Eine im wesentlichen positive Bewertung dagegen zum Beispiel in ARCHITECTURAL FORUM, JANUAR~FEBRUARY1969, S. 39-57, https://usmodernist.org/AF/AF-1969-01-02.pdf (PDF)
² Abbildung von 1981 https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/3/3f/1981_BostonCityHall_byLebovich9_HABS_MA1176.jpg (Wikipedia).
³ Dauerstaus in Asien. Stehn, stehn, stehn auf der Autobahn, Der Spiegel, t1p.de/xum4y, 30.08.2015, Abruf 24.5.24.
4 Abbildung ebd.,https://www.spiegel.de/auto/aktuell/staus-in-asien-wie-autofahrer-sich-die-zeit-vertreiben-a-1050561.html#fotostrecke-b46ee40f-0001-0002-0000-000000129621, Abruf 24.5.24.
5https://de.wikipedia.org/wiki/Buenos_Aires, Abruf 24.4.24.
6 Eine Arkade ist ein Bogen auf zwei Pfeilern. Sie können Arkaden- beziehungsweise Bogen- oder Laubengänge bilden. Im Unterschied dazu hat eine Kolonnade keine Bögen – besonders berühmt sind die Kolonnaden auf dem Platz vor dem Petersdom in Rom. Vgl. zum Beispiel Hans Koepf und Günther Binding: Bildwörterbuch der Architektur. Mit englischem, französischem, italienischem und spanischem Fachglossar, 4., überarbeitete Auflage, Stuttgart 2005 (Kröners Taschenausgabe Bd. 194) S. 30f. und S. 285.
7 Daten nach https://de.wikipedia.org/wiki/Lautoka, Abruf 24.3.24.
8 Mehrere einschlägige Listen, https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_L%C3%A4nder_nach_Armutsquote (Wikipedia), Abruf 24.4.24.
9 Der fahrradaffine Paris-Kenner Stefan Hain, Mail an den Autor 24.5.24.
10 Ebd.