Die Spiralbewegung verbindet die Gesellschaft, Natur und Land Art

So schlingt sich um das Geißblatt sanft die Winde

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Die "Einschiffung nach Kythera" fesselte den Preußenkönig Friedrich II. so sehr, dass er die Fassung von 1718¹ für sich ersteigern ließ. Antoine Watteau greift das antike Motiv der Überfahrt zur Insel der Liebe und des Friedens auf. In seinem Gemälde scheint es die höfische Gesellschaft nicht eilig zu haben, die Barke zu besteigen. Kleine Gruppen bilden sich nonchalant und lösen sich kreisend aus der Gesamtbewegung. Ihre Blicke schweifen in alle Richtungen ohne festes Ziel, flüchtig wie im Tagtraum. Sie blicken mehr zurück als voraus. Der Schiffsmast, der eine zentrale Achse abgeben könnte, ist seitwärts gestellt. Amoretten, die ähnliche Grüppchen bilden, erheben sich aus der Bewegung der Gesellschaft. Sie scheinen schwebend die Weite des Wassers zu suchen, jedoch ist ihr Flugtanz ein Sinnbild des Umherschweifens der menschlichen Gesellschaft. Mathematisch gesprochen formieren alle kreisenden Bewegungen zusammengenommen eine Spirale.
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Vincent Van Gogh: Sternennacht; 1889. Foto: Gemeinfrei
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Jean-Antoine Watteau: Einschiffung nach Kythera, 1718. Foto: Rainer Zenz/gemeinfei

Die in sich selbst ruhenden, von Zielen emanzipierten Liebenden kommen, da das Bild keine feste Begrenzung hat, ins Spiel, aber ins Boot kommen sie nicht. In der verträumten Ziellosigkeit steckt die Möglichkeit eines Umschlags, einer Umkehrung der Perspektive. Der Kultursoziologe Norbert Elias² greift einen Hinweis auf: Was wäre, wenn es sich um die Abfahrt von Kythera handelte? Der Terminus ad quem und der Terminus a quo, das Woher und das Wohin, sind in einer Figur zusammengefasst. Beide Funktionen erfüllt wiederum die Spirale und ihre erweiterte Form, das Labyrinth. Wer ein Labyrinth beschreitet, weiß nie, ob er sich zum Mittelpunkt hin oder von ihm weg bewegt.

Für die Reisegesellschaft nach Kythera ist die Spiralbewegung das Ziel ohne bestimmbares Zentrum. Die Passage selbst wird zum Ritus. Die Verheißung ist die Erfüllung. Zwischen Ankommen und Abfahren befindet sich diese Gesellschaft an einem "Dritten Ort". Der Locus amoenus befindet sich in dieser säkularen Utopie im Hier und Jetzt. Leichte Nebel verstärken den schwebenden Charakter von Menschen und Gegenständen. Der Ort ist verzaubert (enchanté). Sogar die Steine sind erweicht. Die Skulptur der Venus scheint zum Leben erwacht, als würde sie gleich vom Sockel steigen und sich gleichberechtigt unter die Leute mischen. Der Flaneur Franz Hessel, entdeckte in dieser Watteauschen Szenerie eine "condition humaine", die er auf das Berlin der 20er-Jahre beziehen konnte, auf die dandyhafte Jugend, die sich zum Ausgehen fertig macht: "Diese Vorbereitung, dies "Débarquement pour Cythère", ist ein bedeutender Augenblick und (...) lehrreicher als das Fest selbst."³ Das Leben wird zur Bühne. Auch die Toilette wird dort gemacht. In französischen Vor-Bildern schaut der Galan oder auch nur der Besucher zu und parliert.

Liebe ist, so wie die französische Genre-Malerei den Stil des Rokoko nachzeichnet, der große Gleichmacher zwischen sozialen Unterschieden. Die Vorahnung der Aufhebung der feudalen Schranken breitete sich in Form einer Inszenierung der Zirkulation zwischen den Ständen aus. Auf "Fêtes galantes" waren Verkleidung und Maskerade angesagt. Männer gingen als Frauen, Adelige als Schäfer oder comédiens, Kaufleute als Aristokraten.4 Beliebt war Blindekuh. Die Parklandschaft war Bühne und Mitspieler zugleich. Das Quidproquo, die inszenierte Vertauschung und Täuschung, schuf Frivolität. Die Begegnung der Klassen und Geschlechter in Anonymität fand am "Zerstreuungspunkt Erotik" statt, wo die Körpersprache gilt und nicht der soziale Status. Die Statuspassagen waren spielerisch und temporär.

Die französische Revolution verstand den Spaß nicht und betrieb dann die Gleichmacherei mit der Guillotine. Sie verstand die Heiterkeit der feudalen Gesellschaft nicht, die sich auflöste, indem sie um sich selber kreiste. Das passt wieder in die überzeitliche Geometrie der Spirale. Jean Tardieu: "Um vorwärtszukommen, dreh ich mich um mich selbst."5

Ohne dass es auf Anhieb der Genre-Malerei anzusehen ist, war sie ein Vorläufer der Moderne dahingehend, dass sie die Zentralperspektive der Renaissance vorsichtig auflöste. Der Fluchtpunkt wurde durch die spiralförmige Bewegung ersetzt. Die Flucht ist gleichsam ins Bildpanorama zurückgeholt als ein Glücksversprechen, das nicht mehr aus Symmetrien oder dem Goldenen Schnitt folgt, sondern aus kurzen Öffnungen und Schließungen des Kreises - eben der Spirale, die nicht mehr den geraden Weg zum Mittelpunkt weist. Nietzsche: "Seit Kopernikus rollt der Mensch aus dem Zentrum ins X."6

In seinem Gemälde "Das Ballvergnügen" (1717) stellt Watteau die Vorgeschichte der Reise ohne Ankunft dar. Dieses Vergnügen findet in einer hohen offenen Loggia statt, welche die Landschaft an die Gesellschaft heranholt, wie sie vice versa die Architektur zur Landschaft öffnet. Der Aufbruch des Publikums ins Offene der Landschaft erfuhr eine Neu-Auflage in den 60er-Jahren des vorigen Jahrhunderts, als die Kunst aus den Galerien heraustrat und sich als Land Art wiederfand. Alle möglichen Erscheinungsformen der Aktionskunst wie Performances oder Happenings machten das Publikum zur Schauspielertruppe, die Bestandteil der "Topographie von Handlungen" wurde. Der traditionelle starre Ausdruck von Gesten in Bildern wurde transzendiert, um der Kunst als gemeinschaftlichem Ereignis die Bewegung, das Rituelle, wiederzugewinnen.7 Theater und Welt kommen im Freien zusammen: Theatrum mundi.

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"Kretisches Labyrinth". Abb.: Gemeinfrei
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Robert Smithson: Spiral Jetty am Rande des Großen Salzsees, USA 1970. Aufnahme von 2005. Foto: Gemeinfrei
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Newgrange. Jungsteinzeitliches Hügelgrab in Irland. Foto: Lizenz: CC BY-SA 4.0

Draußen fand sich die Kunst als "Earthworks" wieder. Die Watteausche Spirale sank zu Boden und versank gar. Sie wurde chthonisch und nimmt im berühmtesten Beispiel, der Spiral Jetty von Robert Smithson, Kurs auf den See, bleibt jedoch, ihrer Natur gemäß, dem Ufer verbunden. Sie ist wie ein Fühler, der die Überfahrt auf Bedrohliches abtastet. Sie pulsiert mit den wechselnden Wasserständen des Salzsees. Sie scheint sich temporär auf die Vertikale zu besinnen. Die Steine scheinen in Rotation gebracht. Sie erodiert auf natürlichem Weg. Sie ist vergänglich und lebendig zugleich. Aristoteles: Lebend ist, was das Prinzip seiner Bewegung in sich trägt.

Verdrehte Figuren, verkehrte Welt

Eine Renaissance der Spirale hätte heute nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn sie gegen mystifizierende, lebensphilosophische oder anthroposophische Vereinnahmungen gesperrt wird. Modelle der "ewigen Wiederkehr" laufen letztlich auf eine Kreisform hinaus, welche die Spirale "kurzschließt". Sofern sich diese Modelle auf fernöstliche Religionsphilosophien berufen, verpuffen sie in einer Subjekt/Objekt-Identität, welche in der westlichen Zivilisation allemal den Verlust der Individuation bedeutet. Die Suche nach Identität führt auf diesem Niveau zur Ungeschiedenheit des Selbst von der natürlichen und sozialen Umwelt. Da jedoch die Spirale sich in verschiedene Formen und Richtungen ausdeuten lässt, enthält sie auch die Opposition, den Tod, das Untergründige, das Unbewusste. Wer sich dessen bewusst ist wie Friedensreich Hundertwasser, kann am besten mit der "permanenten Spannung aus Angst" umgehen, in welcher sich der Künstler in jüngeren Jahren befand.

Die gerade Linie und der rechte Winkel führen nach Hundertwasser zum Untergang. Das Einhauchen des Lebens in die tote Materie vollziehe sich dagegen in Spiralform. Die Spirale ist ein scheinbarer Kreis, der sich nicht schließt - wie der aus dem Mittelpunkt verschobene Kreis des Erdumlaufs. "Wenn sich eine Spirale von außen nach innen entgegengesetzt dem Uhrzeiger dreht, ist es ein guter Tod; wenn sie sich nach innen im Uhrzeigersinn dreht, ist es ein schlechter Tod. - Wenn sie sich nach außen im Uhrzeigersinn dreht, ist es eine schlechte Geburt, wenn sie sich nach außen entgegengesetzt dem Uhrzeiger dreht, ist es eine gute Geburt."8 Der logische Beweis mag fehlen, aber die "vegetativen" Spiralbilder Hundertwassers haben eine Überzeugungskraft eigener Art.

Watteaus Gesellschaft zirkuliert um ihre schönsten Hoffnungen, und ihre Utopien entziehen sich ihr im Moment der Erfüllung. Die Erfüllung wäre Entzug. Man darf Venus nicht zu nahe kommen. Über der Szenerie liegt eine sanfte Melancholie. Diese enthält zugleich das Gegenteil von Heiterkeit, lähmende Schwermut. Für Gustav René Hocke ist es der Ursprung eines ganzen Formenkreises psychischer Symptome wie Depression, Schizophrenie, Paranoia und Hysterie, den er am Manierismus festmacht. Diese Epoche wird gern übersehen, weil sie zwischen Renaissance und Barock liegt. Die Bildenden Künste verfeinerten im Manierismus ihre Darstellungen zur "Figura serpentinata". Symmetrien sind zugunsten von Achsenverschiebungen des menschlichen Körpers aufgegeben. Verkürzungen, Dehnungen und Drehungen der menschlichen Gestalt sind nach Hocke ein Markenzeichen des Manierismus. Langgestreckte, kleinköpfige Körper und spitz zulaufende Gliedmaße suggerieren einen Schwebezustand der Personen. Der Kosmos als Ganzes, aber auch der Mikrokosmos des Körpers, hat seine hergebrachte Ordnung verloren.

In seinem Opus magnum "Die Welt als Labyrinth"9 beschränkt sich Hocke jedoch nicht auf die Kernzeit 1520-1650. Der Manierismus sei eine Komplementär-Erscheinung fast aller Epochen der Neuzeit, über die Romantik bis zum Surrealismus. Die Antike war ein Vorläufer. Es ist mehr eine ästhetische Haltung, die sich gegen die Kanonik der jeweils klassisch gewordenen Stilepochen wendet. Es ist eine über die Zeiten immer wiederkehrende "Krisenpsychologie der existentiellen Erschütterung". Hocke bezeichnet es als die Ausdrucksgebärde des "problematisch" werdenden Menschen, der gegen die Konventionen aufbegehrt. Das ist ein Vermächtnis, das jeweils an nachfolgende Generationen übergeben wird.

Die Neigung zum Aufruhr ist um den Preis der Verzweiflung erkauft. Man könnte über Hocke hinausgehend folgern: Der Aufbruch bleibt stecken. Der Übergang in Neues landet beim Alten. Wer aufbegehrt, tut es, weil in ihm etwas aufbegehrt. Was das ist, ist ihm nicht bewusst. Klaus Theweleit kommt zum tiefenpsychologischen Befund der Umwandlung seelischer Wucherungen in eine Spirale.10 Aus dem Kryptischen des Seelenlebens wird das Labyrinth. Da nach Sigmund Freud unter neurotischen Vorzeichen das Verdrängte stets wiederkehrt, muss das, was es in Schach hält, stets aufs Neue aufgeboten werden. Das ist die ursprüngliche Funktion des klassischen Ornaments, des Mäanders, der stets das Gleiche wiederholt und Schlupflöcher stopft. Er ist eine Spielart der Spirale. In Grabanlagen wie Newgrange wird ihre apotropäische Dienstbarkeit deutlich. Ähnlich verhält es sich mit dem Akanthus-Ornament, dem noch in seiner frühen Erscheinungsform das vegetabilische Wuchern anzusehen ist - bis es selbst mäandriert.

Am Ausgang des 19. Jahrhunderts taucht Kythera wieder auf: Arnold Böcklins "Toteninsel". An die Stelle des harmonisch-friedvollen Kosmos ist angstvolle Beziehungslosigkeit getreten. Die Passage über das Wasser zur Toteninsel wird dadurch zum lähmenden Schrecknis, dass die Ankunft nicht eintritt. Die aufrechte Gestalt auf dem Nachen erstarrt zur Skulptur. Wenn nicht einmal der Tod gelingt, gebiert der Schlaf Ungeheuer. Diese sind Verkörperungen des Deformierten in monströser Übertreibung. Angstvorstellungen werden im Manierismus als bewusst ästhetisches Mittel eingesetzt. Sie sind die Triebkraft der Kunst. Das Unbewusste liefert die verdrehten, paradoxen, von Raum und Zeit befreiten Bilder. Die bildliche Darstellung schafft den Konflikt nach draußen. Die Außenwelt wird in den Dienst der Geister gestellt. Alltagsgegenstände werden phantastisch.

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Spreepark, Berlin, nach seiner Schließung 2002. Foto: Bernhard Wiens
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Sacro Bosco bei Bomarzo; Latium, 16. Jahrhundert. Foto: Roberto Fogliardi/CC BY SA 3.0

Das Labyrinth ist der Wunsch, vom Irr-Sinn befreit zu werden, der auch im Gesunden, in den gesunden Menschen steckt. Die Surrealisten gehen den Objektivierungen wahnhafter Assoziationen nach, lassen den Dingen, auch wenn diese unvereinbar aufeinander prallen, ihren Lauf. Nur der Umweg führt zum Mittelpunkt. Der Grat zwischen Gelingen und Misslingen ist schmal. "Die Dinge der Welt muss man sämtlich verkehrt herum betrachten, damit man sie richtig sieht." - "Vernünftig irre zu gehen",¹¹ war das Lebenselixier von Hieronymus Bosch wie von Salvador Dali. Dali nannte es "kritische Paranoia". Das Ungeheuerliche wird zur Produktivkraft des Künstlers. Zu diesem Verfahren des kalkulierten Irre-Gehens, der Vermischung der Gegensätze zitiert Hocke Shakespeares Hexen: "Fair is foul and foul is fair."¹² Schönheit und Grauen sind vereint im Sacro Bosco von Bomarzo, dem "Schauerarkadien".

Leonardo da Vinci beschrieb schon 1513 die plötzliche Begegnung mit einem weltvernichtenden Giganten auf einer phantastischen Reise. "Ich weiß nicht, was tun, was wagen. Ich habe das Gefühl hineinzuschwimmen, gesenkten Hauptes, mitten in dieses Riesen-Maul hinein."¹³ Das könnte die richtige Bahn zur Angstbewältigung sein. Ungeheuerlich ist auch die Gorgone Medusa. Ihr Haar aus Schlangen verbindet das Spiralmotiv mit dem Grauen, das aber auch, wenn gespiegelt, zur Abwehr verwendet werden kann.

Doppelhelix

Der Kreis ist selbstgenügsam und von spannungsloser Dauer. Wird jedoch unsere Lebenslinie als Spirale verstanden, reißt sie uns in ihre Bewegung und versetzt uns durch Drehung des Raums an einen anderen Ort zu einer anderen Zeit. Der Punkt, den wir ansteuern, nimmt die gleiche Stelle wie der Ausgangspunkt ein, aber auf einer anderen Windung. Im Neuen kehrt das Ältere auf einer höheren oder tieferen Stufe wieder. In der zweidimensionalen Spirale ist die Dreidimensionalität, das Drunter und Drüber angelegt. Unser gegenwärtiges Leben hat das Vermögen der Erinnerung bekommen. Sie kann, wie die Spiralbewegung selbst, täuschen.14 Je nachdem, in welche Richtung die Spirale sich dreht, expandiert oder kontrahiert sich das Leben. Nach der einen Seite geht die Pilgerreise über die Jakobsleiter hinauf zu den Engeln, auf der anderen Seite schrumpfen wir "ad uterum", wo wir in eingerolltem Zustand das erste Mal Unbewusstes - oder Vorbewusstes - erlebt hatten.

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Ernst Haeckel: Kunstformen der Natur (Lithographie), 1904. Foto: Gemeinfrei
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Blütenstand einer Sonnenblume, in Fibonacci-Spiralen angeordnet. Foto: Lizenz: CC BY-SA 3.0

Der Mathematiker Jakob I. Bernoulli (1655-1705) verfügte in seinem Testament, dass auf seinem Grabstein eine "Spira mirabilis" abgebildet werde, dazu (sinngemäß) der Epitaph: "Verändert und doch gleich kehre ich wieder."15 Er favorisierte die logarithmische Spirale, die 1638 durch Descartes in die Mathematik eingeführt worden war. Die Vorbilder stammen aus der Natur. Schnecken bauen mit ihrem Gehäuse eine rechtsdrehende logarithmische Spirale auf. Sehr selten kommt eine Linksdrehung vor. Der Träger wird zum "Schneckenkönig" gekürt. Die Kerne im Korb der Sonnenblume sind logarithmisch angeordnet. Die Spiralen drehen sich nach den Proportionen des Goldenen Schnitts. "Selbstähnlichkeit und dynamisches Wachstum sind in der Natur die Bausteine einer logarithmischen Spirale."¹6 Goethe verfocht die "Spiralität" als Wachstumsprinzip der Vegetation. Er fand zwei antagonistische Kräfte: erstens eine zentrale Vertikaltendenz, den "geistigen Stab", und zweitens eine periphere Spiraltendenz, zentrifugal wirkend. In dieser Zuspitzung war es übertrieben.

Ein Klassiker ist die archimedische Spirale, bei welcher der Abstand zwischen den aufeinanderfolgenden Windungen nicht ständig erweitert wird, sondern konstant bleibt. Auch hier stand die Natur Pate. Rankpflanzen bilden zur besseren Stabilisierung oft sowohl links- als auch rechtsdrehende Spiralen aus, um sich hochzuhieven. Es kann vorkommen, dass sie sich, in der Zuversicht, festen Halt gefunden zu haben, einträchtig gegenseitig umarmen. Sozusagen eine Luftnummer. Claudia Molnar zitiert aus Shakespeares "Sommernachtstraum": "Ich will dich mit meinen Armen umfassen wie die Winde das süße Geißblatt umschlingt."17 Die Architektur der Moderne legte die Struktur des Traggerüsts, die Rhythmik der Konstruktion frei und machte sie nach außen sichtbar. Schon der Pionier des amerikanischen Hochhausbaus, Louis Sullivan postulierte, dass diese geometrischen Formen aus Gesetzen der Natur stammen, die auf die Architektur übertragbar seien. Walter Gropius vom "Bauhaus" pflichtete ihm bei. Bionik und Bauhaus vertragen sich.

Kreuzungen von Mensch und Tier, Hermaphroditismus und Metamorphosen von Pflanze und Mensch sind gängige Themen in der Antike. Eines der bekanntesten Mischwesen ist Minotaurus. Der Zwitter aus Mensch und Stier steht für die Verwilderung der menschlichen Natur. C.G. Jung hat daraus den Terminus der "Anima" abgeleitet. Dem formalen Labyrinth dürfte seine Herkunft aus der Höhle noch anhaften, sodass sich die sagenhafte Geschichte auf zwei Ebenen, der Ober- und Unterwelt abspielt. Theseus steigt in die Unterwelt hinab. Die Tötung des Minotaurus symbolisiert seinen eigenen Tod, ist aber zugleich der Ersatz, ist das Opfer und eröffnet die Chance zur Wiederkehr, zur Wiedergeburt. Es ist ein Quidproquo: Um das Tier im Menschen zu erlösen, muss der Mensch den umgekehrten Weg gehen. Im übertragenen Sinn hält Ariadne den Faden in der Hand. Das Happy End wäre sicher, wenn es sich nicht um eine griechische Sage handeln würde, die gleich das nächste Unheil heraufbeschwört. Den Menschen zum Tier zu erlösen und umgekehrt war zuletzt die Intention von Joseph Beuys in seiner Aktion "Coyote" von 1974.18

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Doppelläufige Wendeltreppe im Vatikanischen Museum; Giuseppe Momo, 1932. Foto: Colin/CC BY-SA 3.0
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Aus "Theosophia Practica" (1696) von Georg Gichtel. Gichtel spricht vom "Rad der Natur". Foto: Gemeinfrei

In geometrischer Abstraktion werden Tod und Wiedergeburt durch die Doppelspirale dargestellt. Als doppelgängige Wendeltreppe findet sie sich etwa in den Vatikanischen Museen wieder oder in einem Juwel der Bauhausarchitektur, den "Kant-Garagen" in Berlin. Diese Treppen oder Rampen verkörpern die Serpentinata-Bewegung. Sie reißen den Besucher, der um die Längsachse kreist, ins Unendliche des Raums hinein. Das ist der Weg auf der Himmelsleiter, und sei es modern per Auto. In der umgekehrten Richtung gilt es, den innersten Bewegungsrhythmen der Welt geistig nachzugehen. Hocke spricht, die Verflechtung der beiden Spiralen im Blick, von "Weltverknotungen". Das Treppenhaus ist das Haus im Haus, der Mikrokosmos. Die Renaissance stellte das Treppenhaus gerne vor das Hauptgebäude.

James D. Watson entdeckte in der achsensymmetrischen Doppelspirale, die von der Parallelität abweicht, die Grundform eines Bausteins des Lebens. Die DNA besteht aus zwei miteinander verflochtenen rechtsläufigen Spiralen, die komplementär sind. Diese Doppelhelix hat es besonders japanischen Architekten angetan. So entwarf Hiroshi Nakamura eine Hochzeitskapelle aus Spiralbändern, die oben zusammenlaufen. Sie symbolisieren das Ehe-Band. Am Berliner Tiergarten steht das ansprechende "Schneckenhaus" des Architekten Benedict Tonon. Das Raumprogramm gemahnt an eine einfache Spirale.

Der zu den Metabolisten zählende Architekt Kisho Kurokawa skizzierte 1961 die Vision einer "Helix-City", deren zentrale Einrichtungen sich in Analogie zum DNA-Aufbau himmelwärts schrauben. Maßgabe war die Anpassung der Architektur an die organischen Prinzipien der Natur. Die Mega-Struktur der Stadt steckt in der Mikro-Struktur. Historisch gewachsene Städte stehen von Anfang an in der Spannung aus Ordnung und Chaos. Eine Metapher dafür ist das Labyrinth, die zusammengesetzte Form von Spiralen. Es wurde historisch gelegentlich zu Stadtgründungsfeiern in Szene gesetzt.19 Die Gegensätze sind in ihm vereint. Genau besehen sind im Labyrinth Quadrat und Kreis verbunden, Grundformen der Architektur. Das Labyrinth wurde auch rituell verwendet. Der auf Theseus zurückgehende Kranichtanz ("Geranos") ahmt die Windungen des Labyrinths nach.

Labyrinth der Städte und Maelstrom der Elemente

Die "Situationisten" stürzten sich in die Stadt als ein "labyrinthisches Raumgefüge". Die Gruppe junger Intellektueller und Künstler suchte in den 50er- und 60er-Jahren durch spontane und "experimentelle" Aktionen, darunter Happenings, die Gesellschaft aufzubrechen und bereitete den Boden, mehr den Untergrund, für den Mai 1968. Mit Marx gesprochen sollten die gesellschaftlichen Verhältnisse zum Tanzen gebracht werden. Die Gruppe ging fiktional und spielerisch den Spuren von "Geheimverbindungen in den Katakomben der Stadt" nach.20 Ihre "Methode" war die des "Dérive", des Sich-Treiben-Lassens. Im Vorbeiziehen wird die Stadt zur Bewegungsform. Der Maler und Bildhauer Constant schuf ein Stadtmodell namens "New Babylon", einen "Wanderlagerplatz für Zivilisationsnomaden". Es ist der sich ständig verändernde Lebensraum von im Unübersichtlichen, im Labyrinthischen herumstreunenden Menschen. Die Gruppe war mit dem Werk Hockes bestens vertraut. Und Hocke mit Nietzsche. "Wenn die Gestalt der Stadt ganz konsequent unserem Denken folgen würde, wenn unser Denken als Stadt Gestalt gewönne, kämen wir notwendigerweise zum Labyrinth."²¹ Das städtische Labyrinth ist naturwüchsig, das landschaftliche Labyrinth ist künstlich.

Die Statuen in den Landschaftsszenerien der Genre-Malerei führen bisweilen ein Doppelleben, so auch bei Fragonard. Der Stein wird zu Leben erweckt, die Figuren werden fleischlich. In Watteaus "Ballvergnügen" scheinen die Karyatiden keine ernsthafte Funktion für die Statik der Loggia zu haben, aber genau weiß man nicht, ob das Gebäude einstürzen würde, falls sie hinabstiegen. Dies und das vegetabilisch Wuchernde lassen die Künstlichkeit der Landschaft und der höfischen Gesellschaft in Aufruhr umschlagen. Eine neue Kraft für die künftige Gesellschaft kommt aus der Natur. Van Gogh hat in "Sternennacht" den Aufruhr seiner Sinne gleich in den Himmel projiziert, wo die Sterne sich zum Spiralnebel vereinen. Van Gogh selbst fand nicht mehr in die Gesellschaft zurück.

Depression und die temporäre Befreiung davon liegen in der Spiralbewegung dicht beisammen. In einer mitteleuropäischen Darstellung des 17. Jahrhunderts²² windet sich die kosmische Spirale um und in den Körper eines Naturmenschen. Angepeilt wird der Anschluss der himmlischen Kräfte und der irdischen Elemente an menschliche Energiezentren beziehungsweise Organe. Die Spirale unterstützt hier die Harmonisierung. Laokoon hingegen wird von Schlangen umwunden. "Hinab in den Maelstrom" werden in E.A. Poes gleichnamiger Erzählung die Boote gerissen, die sich ihm nähern. Nur der Schiffsmann, der den Mechanismus der Spirale erkennt, wird wieder nach oben getragen. Slavoj Zizek wertet diesen Umgang mit der Todesspirale therapeutisch aus. Die Botschaft sei, sich in Gefahr zu begeben, um nicht darin umzukommen. - Von vornherein Optimismus verbreitete Wladimir Tatlins Modell (1920) für ein "Monument der Dritten Internationale". Ein 400 Meter hoher Turm in Form einer schräggestellten Doppelspirale sollte die kosmologischen Ansprüche des Sozialismus herausstellen. Doch bevor der Turm hätte realisiert werden können, war dem Sozialismus die Utopie ausgegangen.

Die Landschaftsarchitektur geht heute etwas verzagt mit Spirale und Labyrinth um. Kräuterspiralen und Maislabyrinthe sind schön und gut, aber sollte nicht auch einmal Tatlins gescheitertes Monument weitergedacht werden hin zu einem ökologischen Monument des vertikalen Grüns? In das Spiralgerüst könnten sowohl Wohneinheiten eingehängt werden als auch Gartenmodule. Man käme weg vom Fassadenstil eines bloß dekorativen Grüns. Eine ähnliche Idee gab es schon in New York 1909. Es ist wieder einmal an der Zeit, Zeit der Vorahnung einer künftigen Gesellschaft. Wird das eine Tragödie oder eine Komödie werden?

Anmerkungen

¹ Zu besichtigen im Schloss Charlottenburg. Frühere Fassungen von Watteaus "Einschiffung" hängen im Louvre (1717) und im Frankfurter Städel (1710). Die Datierungen sind Zirka-Angaben.

² Vgl. Norbert Elias: Watteaus Pilgerfahrt zur Insel der Liebe, Frankfurt a. M. u. Leipzig 2000. Zuvor ging schon Hermann Bauer darauf ein im Aufsatz: Wo liegt Kythera? In Ders. u. a. (Hg.): Wandlungen des Paradiesischen und Utopischen. Studien zum Bild eines Ideals, Berlin 1966, S. 251.

³ Franz Hessel: Ein Flaneur in Berlin, Neuausg. Berlin 1984, S. 40.

4 Vgl. Bernhard Wiens: Galante Feste oder schmutziges Tun? Temporäre Annäherungen von Aktionskunst und Landschaftsbild des Rokoko, in: René Krug/Bernhard Wiens (Hg.): Seethen. Gärten für den Augenblick, Bernburg 2007, S. 66-76.

5 Zit. nach Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, 8. Aufl. Frankfurt a. M. 2007, S. 213.

6 In: Der Wille zur Macht, zitiert nach Gustav René Hocke: Die Welt als Labyrinth. Manierismus in der europäischen Kunst und Literatur, Neuausg. Reinbek bei Hamburg 1987, S. 485.

7 So im "Orgien Mysterien Theater" von Hermann Nitsch.

8 Friedensreich Hundertwasser: Schöne Wege. Gedanken über Kunst und Leben, München 1983, S. 66.

9 Gustav René Hocke, op.cit.

10 Vgl. Thomas Alkemeyer: Körper, Kult und Politik. Von der "Muskelreligion" Pierre de Coubertins zur Inszenierung von Macht in den Olympischen Spielen von 1936, Frankfurt/New York 1996, S. 420. - Urheber dieses Gedankens ist Siegfried Kracauer.

¹¹ Baltasar Gracián, zitiert nach Hocke 1987, S. 130.

¹² A.a.O., S. 212.

¹³ A.a.O., S. 115.

14 M.C. Escher, 1898-1972, spielte mit den Täuschungen, die aus der Bewegung der Spirale hervorgehen. Er machte aus der Spirale einen Circulus vitiosus. Bekannt ist das zum Beispiel als Möbiusschleife.

15 Zitiert nach Peter F. Pelz: Verändert und doch gleich kehre ich wieder. URL www.fst.tu-darmstadt.de/media/fachgebiet_fst/dokumente/forschung_1/verffentlichungen_1/paper_111011_Scalierung_und_Groesse_Pelz.pdf.

16 Claudia Molnar: Spiralen - ein Spaziergang. Gärten, Parks und Plätze, Darmstadt 2017, S. 16.

17 A.a.O., S. 23.

18 Über den Zusammenhang der Landschaftsdarstellung im Rokoko und der Aktionskunst siehe Bernhard Wiens 2007.

19 Vgl. Gernot Candolini: Das geheimnisvolle Labyrinth. Mythos und Geschichte eines Menschheitssymbols, München 2008, S. 21.

20 Vgl. Wolfgang Scheppe/Roberto Ohrt: The Most Dangerous Game (Ausstellungsband), Leipzig 2018, S. 843.

²¹ Zitiert nach Ulrich Conrads: Zeit des Labyrinths: beobachten, nachdenken, feststellen, 1956-2006, Gütersloh - Basel u. a. 2007, S. 66.

²² Siehe Jill Purce: Die Spirale. Symbol der Seelenreise, München 1988, Abb. 33 (Seitennummerierung fehlt). - Die Abbildung veröffentlichte Johann Georg Gichtel in seiner "Theosophia Practica".

Dr. Bernhard Wiens
Autor

Beuth Hochschule

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