Ergebnisse eines Masterkurses Geographie, Uni Tübingen
Stuttgart 21 im Fokus der Landschaftstheorie
von: Dr. Karsten Berr, Dr. Corinna Jenal, Prof. Dr. Dr. Olaf KühneEssentialismus als betrachterunabhängiger Ansatz, der mögliche Wesenheiten beschreibt
Die theoretische Auseinandersetzung mit dem Thema Landschaft hat Konjunktur, was nicht zuletzt die Zahl der in den vergangenen drei Jahrzehnten aus unterschiedlichen Perspektiven erschienenen Überblicks- und Lehrwerke belegt (Bourassa 1991; Howard et al. 2019; Kühne 2018a; Kühne et al. 2019; Kühne 2019a; Winchester et al. 2003; Wylie 2007). Eine theoretische Befassung mit einem Themenfeld wird immer dann nötig, wenn die Zahl der vorliegenden Untersuchungen ohne ordnende Strukturierung unüberschaubar wird, beziehungsweise wenn ein Gegenstand einen Komplexitätsgrad aufweist, der eine multiperspektivische Betrachtung nahelegt, sofern die wissenschaftliche Befassung den Anspruch erhebt, der Komplexität des Gegenstandes gerecht zu werden (Kühne und Berr 2021; Papadimitriou 2021). Beides ist beim Gegenstand der Landschaft der Fall. Also Landschaftstheorie.
An der Universität Tübingen am Lehrstuhl Stadt- und Regionalentwicklung fanden Studierende des Master-Studienganges "Humangeographie/Global Studies" im Rahmen des Kurses "Geo 91 - Vertiefung Humangeographie" die Gelegenheit, das Spannungsfeld von Landschaftstheorie und Landschaftspraxis am Leitfaden einer multiperspektivischen Betrachtung und Herangehensweise an einem konkreten Fall auszuloten. Nach der Einführung in verschiedene aktuell wirkmächtige Landschaftstheorien wurde die bekannte und in der Öffentlichkeit umstrittene Baustelle für den Neubau des Stuttgarter Hauptbahnhofes (Stuttgart 21) als Fallbeispiel für die konkrete Anwendung dieser Theorien ausgewählt. Diese Anwendung erfolgte nicht lediglich top down in einer rein theoretischen Betrachtung, sondern die jeweilige Landschaftstheorie wurde als theoretische Rahmung für bottom up durchgeführte empirische Untersuchungen genutzt. Das erste Ziel dieses methodischen Ansatzes war, die Erklärungskraft und Erklärungsreichweite solcher Theorien zu erproben und ihre jeweiligen Vorzüge wie auch Defizite im Licht der multiperspektivischen Rahmung beispielhaft aufzuweisen. Das zweite Ziel war, den Studierenden neben diesem Einblick in die Leistungsfähigkeit alternativer theoretischer und methodischer Ansätze auch Erfahrungen in "klassischen" wissenschaftlichen Publikationsprozessen zu ermöglichen.
Metatheoretischer Hintergrund der multiperspektivischen Rahmung der Theorien und der diese Theorien für das Untersuchungsobjekt operationalisierenden empirischen Methoden ist eine in Forschung und Theorienanwendung weit verbreitete Überzeugung und entsprechende Vorgehensweise, bei der Untersuchung von Objekten ausschließlich monotheoretisch vorzugehen. Dahinter steht die ebenfalls weit verbreitete Überzeugung, es könnten nur eine ganz bestimmte Theorie die "einzig richtige" Theorie und nur eine ganz bestimmte Methode die "einzig richtige" Methode sein. Den Vertreter*innen eines monoperspektivischen Zugangs zu sozialen Wirklichkeiten und eines entsprechenden monotheoretischen Forschungs- oder Untersuchungsdesigns scheint es unvereinbar zu sein, denselben Untersuchungsgegenstand im Fokus mehrerer Perspektiven, Theorien und Begriffe zu erforschen. Es wird dann versucht, eine imaginierte vermeintliche Reinheit der Theorie (vgl. z. B. Leibenath 2014) zu bewahren.
Dieser monoperspektivischen und monotheoretischen Betrachtungs- und Vorgehensweise wird in diesem Lehr-, Forschungs- und Publikationsprojekt eine "multiperspektivische Herangehensweise" entgegengesetzt, die die Komplexität der untersuchten Wirklichkeit eher erfassen und bewältigen kann "als ein monoperspektivischer Ansatz" (Kühne 2018, S. 2-3). Diese "Meta-Perspektive" kann im Hinblick auf "die Renaissance des Pragmatismus" (Eckardt 2014, S. 96) in Planungsdisziplinen "Neopragmatismus" genannt werden (vgl. Chilla et al. 2015; Eckardt 2014; Hildebrand 2003, 2005; Jenal 2019; Kühne 2018b, 2019a, 2019b; Kühne und Jenal 2020). Dieser Ansatz bietet weniger eine neue theoretische Basis für Landschaftsforschung als vielmehr die Möglichkeit, einen umfassenderen und "gegenstandorientierteren Umgang mit theoretischen Grundlagen zu praktizieren" (Kühne 2019b, S. 154).
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Im Rahmen des multiperspektivischen Zugangs haben wir den Essentialismus als die historisch älteste theoretische Option als Ausgangspunkt und Kontrastfolie zu den nachfolgenden Theorieoptionen gewählt. Im systematischen Vergleich mit dieser immer noch weit verbreiteten Theorieoption kann der Gewinn einer multiperspektivischen Betrachtung eines Themas gezeigt werden, denn aus einem essentialistischen Verständnis heraus wird eine multiperspektivische Herangehensweise abgelehnt, da dieser Ansatz zu einem "einzig wahren" Wesenskern vordringen und daher andere Perspektiven ausschließen zu können glaubt. Ziel der Kontrastierung ist zum einen der systematische Vergleich von Vorteilen und Defiziten der jeweiligen Theorieoptionen und zum anderen ein Panorama verschiedener theoretischer Ergebnisse, das den Untersuchungsgegenstand umfangreicher zu erfassen und erklären vermag.
Die Theorien, die im Ausgang vom Essentialismus systematisch verbunden und angewandt wurden, sind der Positivismus, die Phänomenologie, der Sozialkonstruktivismus, die Diskurstheorie, die Systemtheorie und die Kritische Theorie. Diese Reihenfolge ist nicht historisch, sondern systematisch zu verstehen, auch wenn die systematische Reihung sich weitgehend mit der historischen Theorienentwicklung deckt. Jede dieser Theorien hat einen oder mehrere blinde Flecken, das heißt, es werden mögliche Aspekte der Wirklichkeit ausgeblendet oder können im Rahmen der Theorie nicht wahrgenommen werden. Solche blinden Flecke machen den Einsatz anderer Theorien erforderlich, die wiederum über ihre je spezifischen blinden Flecken verfügen.
Den Essentialismus (lat. essentia=Wesen) kennzeichnet grundsätzlich die Überzeugung, "dass es das Ziel der Wissenschaft sei, Wesenheiten zu enthüllen und mit Hilfe von Definitionen zu beschreiben" (Popper 2003[1945], S. 40). Entsprechend gehen essentialistische Positionen davon aus, dass "Dinge über notwendige Eigenschaften verfügen, die ihr Wesen ausmachen" (Chilla et al. 2015, S. 15). Auf Landschaft übertragen, führt dieses Verständnis dazu, Landschaft als gegebenen und betrachterunabhängigen Gegenstand (Kühne 2013; Kühne et al. 2018; Lautensach 1973) mit spezifischen Charakteristiken und Eigenheiten, kurz als ein "Wesen", aufzufassen. Aufgabe von Forschenden wird entsprechend, die "wahre Natur eines Dinges ausfindig zu machen und zu definieren" (Popper 2003[1945], S. 40). Der Essentialismus geht dementsprechend von der "Annahme der Existenz wesentlicher, also essentieller und zufälliger, akzidentieller Eigenschaften von Dingen" (Albert 2005, S. 44) aus. Essentielle Teile von Landschaft entstehen dieser Sichtweise zufolge durch über Jahrhunderte erfolgte wechselseitige Formung von regionaler Kultur und Natur; akzidentielle Teile wie etwa hässliche Fabrikanlagen vor allem durch Industrialisierung und Globalisierung. Schnelle Veränderungen werden als Gefahr für das Gleichgewicht von Landschaft angesehen: "Erfolgt die Wandlung schnell, so wirkt sie zunächst disharmonisch, da das Gleichgewicht für längere Zeit gestört ist" (Lautensach 1973, S. 26-27). "Landschaft" oder "Kulturlandschaft" (vgl. Weber und Kühne 2019) können daher essentialistisch als eine "quasi organismische Ganzheit mit besonderen Merkmalen" bewertet werden, die "über einen unverrückbaren Eigenwert und eine eigene Identität" verfügen (Gailing und Leibenath 2012, S. 97). Beispielsweise konnte Landschaft in den Anfängen der Heimatbewegung als regionaltypische Einheit von "Land und Leuten" (Riehl 1854; vgl. Eisel 1980; Körner 2006, S. 6; Körner und Eisel 2006), das heißt, als "unentwirrbare Verbindung zwischen Volk und Landschaft" (Kühne 2018, S. 40) angesehen werden.
Dieser Rückgriff auf eine sogenannte wahre Natur kann daher auch ungewollte praktische Konsequenzen mit sich bringen. Denn da das Wesen der Dinge zugleich ihre Natur ausmache (vgl. Schwemmer 2004), begründen essentialistische Positionen häufig auch normative Ansprüche: Das Natürliche wird als das Naturgemäße oder Normale aufgefasst und damit unter der Hand auch als das Normative ausgewiesen. In dieser Logik kann dann dem Natürlichen und Naturgemäßen als Wert und Norm das Unnatürliche und Naturwidrige als Wertloses und Normwidriges entgegengesetzt werden (vgl. Birnbacher 2006, S. 17-64). Diese Normativität eines essentialistischen Naturverständnisses schlägt bis auf die Gesetzesebene durch, etwa im aktuellen Bundesnaturschutzgesetz, insofern in § 1(1) die "Vielfalt, Eigenart und Schönheit sowie der Erholungswert von Natur und Landschaft" unter Schutz gestellt werden (BNatSchG 2009 [1976]). Ausgeblendet wird die Betrachterabhängigkeit und damit individuelle Varianz möglicher Wahrnehmungsweisen und entsprechender Bewertungen von Natur und Landschaft, die sich nicht objektiv verallgemeinern lassen.
Im Zuge der so genannten Kieler Wende in der Geographie (Weber 2018 [2020 erschienen]) wurden in der Geographie weit verbreitete essentialistische Denkweisen grundlegend kritisiert und stattdessen gefordert, quantitative Methoden (Arnreiter und Weichhart 1998; Glasze 2015, S. 27) und damit einen positivistischen Ansatz in der Landschaftsforschung zu etablieren. Dieser "Paradigmenwechsel" (Weichhart 2018 [2020 erschienen]) verdrängte über lange Zeit den Begriff Landschaft zugunsten der Kategorien Raum und Region (Chilla et al. 2016; Kühne 2006). Damit war die Erwartung verbunden, ebenfalls betrachterunabhängige objektive, nun aber empirisch erfass- und messbare sowie in Zahlenverhältnissen quantifizierbare Eigenschaften zur Verfügung zu haben (Egner 2010, S. 98; Thiem und Weber 2011, S. 173; Trepl 2012, S. 56; Wardenga 2002, S. 9). Landschaft, so die Vorstellung, ist ein Raum, der mit verschiedenen physischen Objekten oder Elementen gefüllt ist (Kühne 2018a) und die sich relational zueinander verhalten (Gailing und Leibenath 2012). Diese physischen Objekte lassen sich infolge ihrer Anordnung quantifizieren, klassifizieren und systematisieren (Glasze und Mattissek 2009a; Meynen und Schmithüsen 1953-1962).
Untersuchung des Schalls als positivistischer Ansatz
Moritz Kollmer und Sven Endreß haben im Rahmen eines solchen positivistischen Ansatzes als Untersuchungsgegenstand den Faktor Schall im Umkreis des Baustellenbetriebs gewählt. Auf diese Weise kann das ausgewählte Areal als Objekt einer wissenschaftlichen Betrachtung unterzogen werden, das quantitativ messbar ist und die gemessenen Schallemissionen kartographisch darstellt. Der blinde Fleck des Positivismus ist dessen Ausblendung der Betrachterabhängigkeit physischer Objekte, die sich je nach subjektivem Standpunkt anders präsentieren können und in ihrer Positivität eine zwar berechtigte und teils dienliche Abstraktion darstellen, die aber subjektive, soziale und kulturelle Kontexte nicht berücksichtigen kann.
Phänomenologie als unterschiedliche Vollzugsweisen der Wirklichkeit - etwa ein Smellwalk
Eine Reaktion auf den Positivismus und dessen Objektivitätsideal stellt die Phänomenologie dar. Gegenüber den betrachterunabhängigen nackten Tatsachen des Positivismus, das heißt in der Terminologie der Phänomenologie: den bloßen Sachen einer abstrakten Welt theoretisch objektivierter Körper (Husserl 1952) in "bloßer Materialität", stellte Husserl als Begründer der Phänomenologie mit dem Ausruf "Zu den Sachen selbst!" eine neue Sachlichkeit in den Vordergrund (Großheim 2004). Diese ist an die Erforschung und Berücksichtigung unterschiedlicher Vollzugsweisen der Wirklichkeit, damit an den Betrachterstandpunkt und an die Einstellungen eines Subjekts gebunden: Ein Alpensee stellt sich jeweils im theoretischen Blick eines Wissenschaftlers ("der See ist ein Fall von X"), der wertenden Sicht eines Touristen ("oh, wie schön") oder der praktischen Einstellung eines Anglers ("heute ist Angelwetter") anders dar. Neuere Phänomenologien erforschen beispielsweise die subjektiven sinnlichen (Hören, Riechen, Sehen) Wahrnehmungen von Landschaften, wie dies im Beitrag von Sven Endress am Beispiel so genannter Smellwalks demonstriert wird, mit denen sich Geruchslandschaften des Bahnhofs Stuttgart sinnlich erfassen lassen können.
Sozialkonstruktivismus betont soziale Vermitteltheit menschlicher Individualität
Die Sozialkonstruktivistische Perspektive lässt sich als Gegenentwurf sowohl zum Essentialismus als auch Positivismus deuten (Wardenga 2002), indem sie "Gegenstände", etwa Landschaft oder Freiräume, nicht als reales Objekt auffassen, sondern als ein beobachterabhängiges soziales Konstrukt (Kühne et al. 2018). Der Sozialkonstruktivismus steht in der Tradition phänomenologischer Ansätze (Kühne 2018a), betont gegenüber der Phänomenologie aber die soziale Vermitteltheit menschlicher Individualität. Diesem blinden Fleck der Phänomenologie gegenüber erlaubt der Sozialkonstruktivismus die Untersuchung unterschiedlicher Verständnisse von beispielsweise Garten, Park oder Landschaft sowie deren Vergleich und die Rekonstruktion von deren Entwicklungen. Zum anderen geht der Sozialkonstruktivismus empirisch "der Frage nach [. . . ], welche Wirklichkeitsdeutungen soziale Verbindlichkeit erlangen" (Kneer 2009, S. 5).
Lara Koegst hat in ihrem Beitrag eine Schlagwortsuche zu Stuttgart 21 zu Google-Bildern durchgeführt und die entsprechenden Kommentare analysiert. Auf dieser Datengrundlage konnte sie unterschiedliche Deutungs- und Bewertungsmuster zu Stuttgart 21 herausarbeiten. Auch wenn der blinde Fleck des Sozialkonstruktivismus eher die Berücksichtigung der betrachterunabhängigen Materialität physischer Objekte ist (Kühne 2019b), scheint hinsichtlich des Aspektes sozialer Verbindlichkeit eine Ergänzung durch einen diskurstheoretischen Zugang sinnvoll.
Diskurstheorie als Frage nach unterschiedlichen sozialen Wirklichkeiten und ihrer Deutungen
Die Diskurstheorie (Angermüller und Macgilchrist 2014; Bruns und Kühne 2013), die der Familie konstruktivistischer Theorien zugeordnet werden kann (Kühne 2018a), fragt nicht nur nach der sozialen Verbindlichkeit von Wirklichkeitsdeutungen, sondern auch danach, wie es zur Verfestigung unterschiedlicher sozialer Wirklichkeiten oder deren Deutung kommt, wobei Sprache eine zentrale Rolle spielt. Dementsprechend untersuchen Diskurstheorien die sprachlichen Zuschreibungs- und Deutungsmuster solcher Diskurse. Diese können eine solche Macht gewinnen, dass sie als "natürlich" und damit nicht mehr hinterfragbar erscheinen und entsprechend nach Hegemonie streben (Glasze und Mattissek 2009b; Laclau und Mouffe 2015 [engl. Orig. 1985]; Mouffe 2005). Max Schafroth hat in seinem Beitrag diskurstheoretisch eine lexikometrische Analyse von Zeitungsartikelkorpora zu Stuttgart 21 durchgeführt und dabei entsprechende Diskurse und die Kämpfe um Hegemonie identifizieren können.
Systemtheorie erkennt Teilsysteme, die auf Grundlage jeweils spezifischer binärer Codes operieren
Allerdings ist der blinde Fleck der Diskurstheorie die Differenzierung funktional organisierter Gesellschaften in Teilsystemen, die jeweils einer eigenen Logik unterliegen. Mit der Systemtheorie von Niklas Luhmann kann die Gesellschaft als gegliedert in selbstbezüglich operierende Teilsysteme verstanden und entsprechend untersucht werden. Diese Teilsysteme operieren auf Grundlage jeweils spezifischer binärer Codes und sie betrachten ihre Umwelt (also alles, was nicht das eigene System ist) im Fokus dieser Codes (Luhmann 1984, 1986; 2001 [1997). Außerdem erfüllen sie je spezifische Funktionen innerhalb einer Gesellschaft: Die Wirtschaft mit dem Code Haben/Nicht-Haben beziehungsweise Geld verdienen/nicht verdienen hat die Gesellschaft mit Waren und Dienstleistungen zu versorgen. Sie betrachtet Eingriffe in Landschaften anhand der Frage, inwiefern mit diesen Geld zu verdienen ist. Die Politik mit dem Code Macht/Nicht-Macht hat politisch-demokratische Entscheidungen über öffentliche Belange herbeizuführen. Sie betrachtet Eingriffe in Landschaften am Leitfaden der Frage, inwiefern daraus politisches Kapital zu schlagen ist.
Obwohl die einzelnen gesellschaftlichen Teilsysteme grundsätzlich an ihrer eigenen Systemlogik und ihren Zielen und Aufgaben orientiert sind, agieren sie nicht nur völlig unabhängig voneinander, sondern bleiben mit den anderen Systemen verbunden und beeinflussen sich auch gegenseitig. Nur auf sich allein gestellt, könnten die Systeme gar nicht ihre spezifischen Funktionen erfüllen, sie benötigen einander als Umwelt und als gegenseitiges Korrektiv. So reagiert beispielsweise die Wirtschaft mit umweltfreundlichen Produkten auf Umweltproteste der Bürgerschaften und auf politische Signale, ohne ihren Code - Profite zu erwirtschaften - aufgeben zu müssen. Moritz Kollmer zeigt in seinem Beitrag, wie die sozialen Teilsysteme Massenmedien sowie Politik an landschaftsbezogenen Prozessen teilnehmen und diese aus ihrer eigenen Sicht heraus reflektieren. Kollmer gewinnt auf diese Weise exemplarische Einblicke in die entsprechenden systemspezifischen Logiken, aus denen heraus das Bahnprojekt jeweils betrachtet wird.
Der blinde Fleck der Systemtheorie ist ihre Beschränkung auf Deskription, ohne gesellschaftliche Verhältnisse bewerten oder normative Vorgaben anbieten zu wollen - etwa im Hinblick auf Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Die traditionelle Kritische Theorie betrachtet sämtliche Teilbereiche des gesellschaftlichen Lebens hinsichtlich solcher Macht- und Herrschaftsverhältnisse, die insbesondere durch das kapitalistische Wirtschaftssystem beeinflusst und maßgeblich bestimmt werden. Außerdem verbindet Kritische Theorie gesellschaftskritische Forschung stets mit einem normativen Anspruch, insofern sie über reine Deskription hinausgeht und nach grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen strebt. Linda Baum zeigt im Rahmen der kritischen Raum- und Machttheorie von Pierre Bourdieu, wie in Stuttgart 21 soziale Verhältnisse in Raum und Landschaft eingeschrieben sind und räumliche Prozesse maßgeblich beherrschen sowie ein hohes Konfliktpotenzial mit sich bringen können.
Damit haben wir wesentliche, aktuell genutzte theoretische Perspektiven der Landschaftsforschung in diesem Themenheft versammelt. Damit ist jedoch kein Schlusspunkt der Entwicklung erreicht, weitere theoretische Zugriffe werden (mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit) folgen, wie auch neue Gegenstände und Methoden in der Landschaftsforschung folgen werden. Die Zukunft bleibt offen (Popper 1959).
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