Impulse für eine klimaangepasste Stadtentwicklung
Freiraumquartierskonzept für Münchner Innenstadt
von: Dipl.-Ing. Gisela Karsch-Frank, Dipl.-Ing. Thomas Jakob, Prof. Dr. Elisabeth Merk
Das Ziel: die Altstadt fit machen für die Herausforderungen des Klimawandels und die geänderten Bedürfnisse in der dicht bebauten Innenstadt.
Freiräume sind Impulsgeber für die Stadtentwicklung. Diese These war Ausgangspunkt für die Entwicklung des Freiraumquartierskonzeptes. Es ist das erklärte Ziel der Stadt München, die Freiräume der Altstadt, also jenen Teil der Innenstadt, der innerhalb des Altstadtrings liegt, aufzuwerten. Aufwerten heißt in diesem Fall, die Aufenthaltsqualität zu erhöhen, die Identität der Münchner Altstadt zu stärken und die Innenstadt an die Auswirkungen des Klimawandels anzupassen. Ein komplexes Unterfangen, denn in der Innenstadt gibt es viele und teils divergierende Nutzungsansprüche. Die Menschen möchten dort einkaufen, sich aber auch erholen, die Ladengeschäfte müssen mit Waren beliefert werden, die Menschen, die dort wohnen, wünschen sich mehr Aufenthaltsqualität und im Sommer weniger Hitzebelastung. Und schließlich gibt es noch die Anforderungen des Denkmalschutzes.
Sehr positiv für eine künftige Entwicklung ist, dass die Freiraumplanung die lokale Wirtschaft grundsätzlich auf ihrer Seite weiß. Denn beiden liegt viel daran, die Innenstadt langfristig attraktiv zu halten. Schließlich gehört die Fußgängerzone mit der Kaufinger- und Neuhauser Straße zu den umsatzstärksten in Deutschland und die Maximilianstraße im Osten zu den teuersten. Zudem liegen dort zahlreiche hochkarätige Kulturinstitutionen wie die Staatsoper und die Münchner Kammerspiele. Es gibt zwar auch einige öffentliche Grün- und Freiräume, diese reichen aber bei weitem nicht aus, um den vielfältigen Anforderungen gerecht zu werden.
Die Herausforderung für die städtische Freiraumplanung: Viel Platz für zusätzliche größere Freiflächen gibt es nicht. Deshalb geht es vor allem darum, die bestehenden, nicht bebauten Flächen so umzugestalten, dass möglichst viele Menschen etwas davon haben. Dies bedeutet in der Konsequenz zum einen, bestehende Freiflächen besser zugänglich zu machen beziehungsweise aufzuwerten, zum anderen, durch die Neuorganisation des Straßenraumes neue Flächenpotenziale zu erschließen.
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Altstadt für Alle
Das größte Potenzial bietet in München, die Nutzung von nicht bebauten Flächen umzuverteilen. In diese Richtung zielt das Mobilitätsreferat mit seiner Vision einer weitgehend autofreien Altstadt, einer "Altstadt für Alle". Basis hierfür ist ein modernes Parkraumkonzept. Es soll den öffentlichen Straßenraum innerhalb des Altstadtrings neu ordnen, mit Parkregelungen, Kurzzeitparkplätzen, Liefer- und Ladezonen, Taxiständen, Mobilitätspunkten, Abstellanlagen für Fahrräder sowie neuen öffentlichen Freiräumen. Der Autoverkehr soll so weit wie möglich reduziert werden, ohne die Erreichbarkeit für die Menschen und für den Wirtschaftsverkehr zu sehr zu beeinträchtigen. Ziel ist eine Altstadt, in der sich alle Menschen gerne aufhalten, auch wenn sie nicht gerade in der Fußgängerzone auf Einkaufstour sind. Ein Ort, an dem die Menschen ihre Mittagspause verbringen, sich an einem schattigen Ort ausruhen und für einen Moment den hektischen Alltag vergessen können. Aber auch ein Ort, an dem die Menschen, die dort wohnen, gerne leben, weil sich ihre Wohnungen im Sommer nicht zu sehr aufheizen und weil sie die für sie notwendige Infrastruktur in der unmittelbaren Nachbarschaft finden.
Diesen Transformationsprozess nutzt das Freiraumquartierskonzept, um die großen Potenziale bereits im Vorfeld der verkehrlichen Untersuchungen herauszuarbeiten. Zugleich zeigt es beispielhaft, wie innerstädtische Freiräume so gestaltet werden können, dass mehr Menschen etwas davon haben und die Altstadt einen Schritt in Richtung Klimaanpassung macht. Denn gerade für die dichten und hitzebelasteten Innenstadtbereiche ist die Anpassung an den Klimawandel eine der großen gesamtgesellschaftlichen Aufgaben.
Strukturwandel
Auch für die große Herausforderung des Strukturwandels lassen sich so frühzeitig Potenziale nutzen, denn Einkaufen ist mehr als Shoppen. Um vor allem gegenüber dem Onlinehandel zu bestehen, muss der Einzelhandel Erlebnisse bieten. Dazu zählen zum einen die Gastronomie, aber auch Freiräume. Sie leisten in Form von starken und identitätsstiftenden Orten mit hoher Aufenthaltsqualität einen wichtigen Beitrag für einen zukunftsfähigen Unternehmens- und Handelsstandort. Das Gutachten schlägt deshalb auch vor, gemeinsam mit den Akteur:innen der Innenstadt Lösungen zu erarbeiten, was genau für eine zukunftsfähige Freiraumentwicklung effektiv und machbar ist. Auch private Flächen und Innenhöfe können so einbezogen und mit Förderprogrammen oder Beratungsleistungen aktiviert werden.


Das Gutachten
Basis für die mittel- bis langfristig geplante Umgestaltung ist das von mahl gebhard konzepte erstellte Freiraumquartierskonzept aus dem Jahr 2020. Dieses wiederum ist ein Schlüsselprojekt des Konzeptgutachtens Freiraum München 2030, das das Berliner Büro Becker Giseke Mohren Richard zusammen mit den Büros Friedrich von Borries aus Berlin und Freiraumstudio aus München sowie dem Referat für Stadtplanung und Bauordnung entwickelt hat. Es enthält Leitlinien, Strategien und Schlüsselprojekte für die langfristige Entwicklung von Freiräumen in München. Den Begriff des Freiraums definierten die Gutachter dabei sehr weit: Neben klassischen Parks, Grünanlagen und Plätzen zählen sie die gesamte nicht bebaute Fläche der Stadt dazu: den Münchner Grüngürtel, Grünzüge, Dachgärten und auch die Straßenräume. Diese Definition von Freiraum ermöglicht es, sich auch mit solchen Räumen auseinanderzusetzen, die bisher nicht im Fokus der Grün- und Freiraumplanung standen und im Zuge der Mobilitätswende und der multifunktionalen Flächennutzung immer wichtiger werden.
Das Freiraumquartierskonzept ist eine Art Baukastensystem für eine stimmige und ausgewogene Entwicklung der Innenstadt. Klimaanpassung, Aufenthaltsqualität, Multifunktionalität und Stadtbild werden dabei von Anfang an mitbetrachtet. Darüber hinaus bildet es die Basis für die Fortschreibung weiterer für die Innenstadt relevanter Konzepte wie des Innenstadtkonzepts, der Klimaanpassungskonzeption oder der Altstadt für Alle. Hinzu kommen die Entwicklung einer neuen Leitlinie Freiraum im Stadtentwicklungsplan und die Umsetzung des Radentscheids. Der übergeordnete Konzeptplan übersetzt Leitziele und Planungshinweise in ein gesamträumliches Bild und schlägt ein Netz aus Grün- und Wasserflächen für die Innenstadt vor.
Wichtigste Freiraumstrukturen sind Grünflächen, Plätze und Boulevards sowie Mikroplätze. Besondere Handlungsschwerpunkte sieht das Konzept entlang des Altstadtrings vor, eine Verkehrstrasse, die rund um die Innenstadt führt. Dort soll die Qualität der Freiräume deutlich erhöht werden, breitere Radwege entstehen, Flächen entsiegelt und neue Bäume gepflanzt werden. Auch sollen die Zugänge zur Altstadt gestärkt werden. Eine wichtige Rolle spielen dabei die historische Bausubstanz, Blickbeziehungen und Wegebezüge. Ein weiterer Schwerpunkt ist der Umgang mit den Straßen innerhalb der Altstadt. Ziel ist es, eine Netzstruktur zu etablieren, die Fußgänger:innen Vorrang einräumt. Auch dort gilt die Prämisse: Flächen umwidmen, entsiegeln, begrünen und aufwerten.
Zur besseren Übersicht und um Einzelthemen zu fokussieren, enthält das Gutachten Teilkarten. Diese Teilkarten befassen sich mit Grünflächen, grüner und blauer Infrastruktur, Plätzen und Boulevards, Mikroplätzen, Straßenräumen und Verbindungen, Dachflächen und Innenhöfen. Und sie enthalten Maßnahmen mit Planungshinweisen, wie diese weiterentwickelt werden sollten.
Einzelne Teilräume in der Altstadt haben die Gutachter näher untersucht. In diesen sogenannten Fokusräumen gibt es viele, teils konkurrierende Nutzungsanforderungen und qualitative Defizite. Zugleich bergen sie aber auch großes Potenzial als attraktive Freiräume für viele Menschen und einen Beitrag hin zu mehr Klimaresilienz zu leisten. Zudem geht von ihrer Entwicklung eine Signalwirkung für weitere Freiräume in der Innenstadt aus. Die Gutachter haben daher übergeordnete Ziele konkretisiert und planerische Ansätze für diese Fokusräume formuliert.
Einer dieser Fokusräume ist die Sonnenstraße, eine Verkehrsachse, die als Teil des Altstadtrings mit drei Fahrstreifen je Fahrtrichtung und Trambahngleisen in der Mitte im Westen um die Altstadt führt. Die trennende Wirkung für Fußgänger:innen und den Radverkehr könnte kaum größer sein, denn es gibt nur wenige Querungsmöglichkeiten. Und auch das Einkaufserlebnis entlang der Sonnenstraße ist ausbaufähig: Zwar gibt es einen vergleichsweisen breiten Geh- und Radweg auf beiden Seiten, allerdings heizt sich dieser im Sommer sehr stark auf. Zudem trägt der tosende Autoverkehr nicht gerade zum entspannten Einkaufen bei.
Das Gutachten schlägt deshalb vor, den Verkehrsraum zu einem Boulevard umzubauen. Der Autoverkehr soll auf die Westseite, in Richtung Vorstadt, verlagert und die Zahl der zur Verfügung stehenden Fahrstreifen reduziert werden. Der der Altstadt zugewandte Teil der Sonnenstraße soll in eine Klimaterrasse umgebaut werden, zu einem Boulevard mit zusätzlichen Bäumen, Wasser und weiteren Grünelementen. Dies trägt nicht nur zur sommerlichen Abkühlung bei, sondern stärkt auch das Netz an zentrumsnahen Erholungsräumen.
Ein weiterer Fokusraum ist die Herzog-Wilhelm-Straße. Dort liegt der Herzog-Wilhelm-Park, eine bedeutende historische Grünfläche. Sie ist ein eher in sich gekehrter Freiraum, umgeben von Straßen und Parkplätzen. Ziel ist es, den Park in Richtung Norden zu erweitern und die Freiräume wieder an die Fassaden heranzuführen. Mit einer einheitlichen Gestaltung soll ein attraktiver und fußgängerfreundlicher Raum geschaffen werden. Neben der Entsiegelung und Begrünung bietet das Offenlegen des Stadtbachs das Potenzial, die ökologische Funktion des Parks und vor allem auch die Erholungsfunktion zu erhöhen.
Beteiligung und Digitaler Zwilling
Das Freiraumquartierskonzept ist das Ergebnis eines kooperativen Planungsprozesses, an dem auch die Öffentlichkeit intensiv beteiligt war. Um etwa die Potenziale der Sonnenstraße und der Herzog-Wilhelm-Straße zu veranschaulichen und Impulse für einen dauerhaften Umbau zu geben, ließ das Referat für Stadtplanung und Bauordnung eine Virtual-Reality-Anwendung mit Hilfe des Digitalen Zwillings der Stadt München erstellen. Mit ihr können die Planungsszenarien für den "Boulevard Sonnenstraße" und den "Herzog-Wilhelm-Park" virtuell erlebt werden und ein Diskurs in der Öffentlichkeit angestoßen werden. Im Mai 2022 gab es die Möglichkeit zu virtuellen Spaziergängen. Zuvor wurde im Rahmen des Beteiligungsprozesses mit Anwohner:innen, Geschäftsleuten und anderen Interessensvertreter:innen über die Ziele des Freiraumquartierskonzepts diskutiert.


Klimaresiliente Grün- und Freiraumstrukturen
Ein Schlüsselfaktor für die Umsetzung des Freiraumquartierskonzeptes ist es, Denkmalpflege, Klimaanpassung und Mobilitätswende gemeinsam zu betrachten. So war schnell klar, dass Klimaanpassung und das schützenswerte Altstadtensemble nur gemeinsam gedacht werden können. Deshalb beauftragte das Referat für Stadtplanung und Bauordnung 2019 die Historikerin Christine Rädlinger und den Architekten Franz Schiermeier, eine Recherche zum historischen Grün in der Münchner Innenstadt als wichtige fachliche Grundlage zu erarbeiten. Diese Recherche gibt einen Einblick in die Entwicklung bedeutender Plätze, Straßen und Grünflächen in der Münchner Altstadt und zeigt historische Strukturen, die teilweise heute noch ablesbar und von besonderer Bedeutung für das Stadtbild sind. Dies ermöglicht einerseits einen sensiblen Umgang mit dem historischen Erbe, zeigt aber auch, wo etwa neue Grünstrukturen nach historischem Vorbild entstehen können. Paradebeispiele sind die historischen Baumreihen entlang der Maximilianstraße oder der früher deutlich stärker begrünte Marstallplatz.
Darauf aufbauend untersuchten im Jahr 2022 mahl gebhard konzepte in Zusammenarbeit mit Stephan Pauleit und Andreas Hild von der TU München im Rahmen der EU-Förderinitiative REACT-EU, wie sich das besonders hitzebelastete historische Altstadtensemble an den Klimawandel anpassen lässt. Ziel war es, dass Fachleute aus der Stadt- und Freiraumplanung, des Denkmalschutzes, der Klimaanpassung und der Verkehrsplanung gemeinsam Grün- und Freiraumstrukturen für die Altstadt erarbeiten, die einerseits klimaresilient und klimawirksam sind und zugleich die denkmalpflegerischen Belange berücksichtigen. Das Ergebnis: Es gibt viele Synergien zwischen Klimaanpassung und Denkmalpflege. Beide verfolgen das gemeinsame Ziel einer attraktiven Altstadt mit hoher Aufenthaltsqualität, in der auch an heißen Sommertagen ein angenehmer Aufenthalt möglich ist. Gelingen kann dies durch ein Netz aus zusammenhängenden, großflächigen grünen Freiraumstrukturen, Baumreihen und Einzelmaßnahmen sowie eine flächendeckende Umsetzung des Schwammstadtprinzips.
Mit Hilfe des Digitalen Zwillings des Kommunalreferats und in Zusammenarbeit mit dem Fraunhofer-Institut wurde der Fokusraum Hackenplatz mit Hacken- und Brunnstraße als interaktive 3D-Anwendung umgesetzt und in den Planungsprozess eingespielt. Durch die 3D-Visualisierung der derzeitigen Situation und des Planungskonzeptes mittels Game-Engine ließ sich ein realistisches und aussagekräftiges Bild schaffen, welche Auswirkungen etwa das Pflanzen von Bäumen und die Wegnahme von Parkplätzen auf die örtliche Hitzeentwicklung haben. Diese Erkenntnisse sind in die Konzeptentwürfe eingeflossen.


Die Umsetzung
Das Gutachten zur Integration klimaresilienter Freiraumstrukturen wird mit einem Vorschlag zum weiteren Vorgehen im Herbst 2024 dem Münchner Stadtrat zur Entscheidung vorgelegt. Die nächsten Umsetzungsschritte zum Freiraumquartierskonzept wurden bereits vom Stadtrat beschlossen: So bereitet das Referat für Stadtplanung und Bauordnung gerade eine Machbarkeitsuntersuchung zum Herzog-Wilhelm-Park und ein städtebauliches und freiraumplanerisches Fokusraumkonzept für den Isartorplatz vor. Auch die nächsten Schritte zu einem Boulevard Sonnenstraße werden gemeinsam mit den anderen Referaten erarbeitet.
Das Freiraumquartierskonzept ist keine bis ins letzte Detail abgestimmte Handlungsanweisung. Es gibt vielmehr die Richtung vor, fokussiert besondere Orte und gibt beispielhafte Vorschläge, wo und wie sich die Münchner Altstadt weiterentwickeln muss, um die Potenziale zu heben, die die Klimaveränderungen und der politisch getragene Wunsch nach einer Mobilitätswende mit sich bringen. Flächenkonkurrenz im öffentlichen Raum sieht das Konzept nicht als Konflikt, sondern als Chance für ein Mit- und Nebeneinander. Dies erfordert den Mut, mit Visionen in die Diskussion zu gehen, die zwar technisch noch nicht bis ins letzte Detail abgestimmt sein können, aber bereits am Anfang des Planungsprozesses in die Waagschale geworfen werden.