Unter der GrasNarbe
Freiraumgestaltungen während der NS-Diktatur
Vergessen erleichtert das Leben, wenn es um unangenehme Tatsachen geht. Man lässt Gras darüber wachsen - sinnbildlich und auch in der Realität. Wie viele Orte und Dinge hat die Natur nicht im Laufe der Zeit "liebevoll" zugedeckt und damit der Erinnerung entzogen. Aus den Augen aus dem Sinn.
Zu den Anlagen und Orten, die nur zu gerne der Natur überlassen wurden und werden, gehört das bauliche und grüne Erbe der NS-Diktatur. Mit ihnen beschäftigt sich das Buch "Unter der GrasNarbe", das mit seinem Titel das Thema der gleichnamigen Tagung im März 2014 in Hannover aufnimmt und die dort gehaltenen Vorträge in 22 Artikeln versammelt.
Der Eingangsbeitrag des Historikers Moshe Zimmermann (Jerusalem) ist ein einziges Plädoyer für das Erinnern - und zwar an den "unbequemen" Orten selbst. Doch noch immer gehe es darum, eine angemessene Symbolik zu finden für die Plätze, an denen die "Endlösung" durch das Auslöschen jüdischen Lebens und jüdischer Kultur - also Deportation und Ermordung sowie die Vernichtung materieller Güter und geistiger Werte - "Leerstellen" hinterlassen hat. Bahngleise, Bahnsteig, Rampe, das können nach seiner Ansicht eindrückliche Zeichen sein, die Erinnerung und Leere gleichermaßen verbinden. Anhand von Beispielen macht Zimmermann deutlich, wie für ihn ein "gebotener" Umgang mit einer belastenden Erinnerung aussehen kann und wo dies nicht gelungen ist. Zu letzteren zählen für ihn auch Gedenkstätten, die ohne Bezug zu den Orten der Gräuel stehen. Diese Art der Erinnerung nennt er "bequemisiert" - ein Terminus, den auch andere Autoren des Buches verwenden.
Der größte Teil des Buches ist einzelnen Anlagen gewidmet - vorwiegend in Niedersachsen, ergänzt durch einige Beispiele aus anderen Bundesländern. Artikel, die sich mit dem damaligen politischen Umfeld zur Entstehungszeit der Anlagen befassen, wie zum Beispiel der Blick auf die Entwicklung Braunschweigs zum "Musterländle" der NS, machen deren Einordnung und Bewertung möglich. Andere Autoren thematisieren, wie ,Braun', wenn es denn ideologisch und propagandistisch opportun war, zum Steigbügelhalter wird, unter anderem für die Erfolge des Grüns in Hannover oder die Gründung des Museumsdorfes Cloppenburgs, und wie es umgekehrt Wissenschaft und Kunst im Sinn der NS-Diktatur eingesetzt werden.
Das Spektrum der beschriebenen Anlagen reicht von Orten der Vernichtung wie Bergen-Belsen und Dachau über Kultstätten wie die Spielstätte "Stedingsehre", der "Sachsenhain", der Bückeberg als Ort der Reichserntedankfeiern und die Thingstätte Heiligenberg bei Heidelberg bis hin zu Stätten, die der Ausbreitung von NS-Ideologie dienten, wie die Gymnastik- und Feierhalle in Buchau als Teil einer Ausbildungsstätte für Kindergärtnerinnen und die Führerschule der deutschen Ärzteschaft. Ein spezielles Thema sind die Horst-Wessels-Denkmäler. Bei den Friedhofs- und Totenkultstätten werden sowohl die Anlagen der Opfer (jüdische Friedhöfe) als auch die der Täter (Ahnenerbe Seelenfeld) betrachtet. Und schließlich richtet sich der Blick auf die Kasernenanlagen, militärische Großprojekte und gleichzeitig "Wohlfühloasen" für die dort Lebenden und Arbeitenden. Dargestellt werden alle Objekte in ihren Entstehungszusammenhängen und ihrer heutigen Situation sowie die mit ihrer Erhaltung verbundenen Maßnahmen und Probleme. Deutlich wird in allen Beiträgen, dass sich Gestaltung und die dahinter stehende Haltung nicht trennen lassen.
Mit dem letzten Beitrag schließt sich der Kreis: Birgit Franz (Hildesheim) geht der Frage nach, ob die Erhaltung von "unbequemen" Orten oder aber ihre "Bequemisierung" nicht vor allem von der Vermittlung abhängt. Die Autorin plädiert dafür, Anlagen, deren Spuren durch Zerstörung und Überwachsenlassen (anschaulich im Beitrag über die Horst-Wessels-Denkmäler) verwischt sind oder deren Bezüge aufgrund von Umnutzung wie bei den Reichstypenspeichern in Holzminden fehlen, wieder als "Stolpersteine in der Landschaft" ins Bewusstsein zu rücken. Exemplarisch für gelungene Beispiele, wie die Generierung von Wissen und dessen emotionale Weitergabe durch eine entsprechende mediale Aufbereitung ihre Wirkung zeigen, stellt der Beitrag das neue Dokumentationszentrum in Bergen-Belsen sowie die Gedenkstätte SS-Sonderlager/KZ Hinzert vor.
Ein "Rezeptbuch" für den Umgang mit der "Erblast" der NS-Diktatur ist die Publikation nicht. Aber es zeigt detailreich und anschaulich ein breites Spektrum, wie die Denkmalpflege mit den NS-Hinterlassenschaften umgeht, um ihrem gesetzmäßigen Auftrag gerecht zu werden.
Die großformatigen Farbbilder regen dazu an, selbst einmal auf Spurensuche zu gehen. Die gut geschriebenen Texte vermitteln das notwendige Wissen, um die Spuren auch lesen zu können. Das Buch wird daher nicht nur Denkmalpflegern und Gartenhistorikern uneingeschränkt empfohlen. Dr. Ursula Kellner