Der russisch-orthodoxe Friedhof in Wiesbaden
Im Zeichen des Ost-Kreuzes
von: Dipl.-Ing.(FH) Thomas HerrgenZwischen dem russischen Zarenhaus und deutschen Fürstenfamilien gab es seit dem 18. Jahrhundert historisch gewachsene, enge Bande. Sie sind der Hintergrund für die Errichtung einer Grabkirche und des zugehörigen russischen Friedhofs auf dem Wiesbadener Neroberg.
Der Entstehungsgeschichte des orthodoxen Begräbnisplatzes ging eine Tragödie voraus. Wiesbaden war die Residenzstadt des damaligen Herzogtums Nassau. Herzog Adolf hatte am 31. Januar 1844 die achtzehnjährige russische Großfürstin Elisabeth Michajlowna in Sankt Petersburg geheiratet, eine Nichte der beiden Zaren Alexander I. und Nikolaus I. Zwei Monate später kehrte das junge Paar unter großer Anteilnahme der Bevölkerung nach Wiesbaden zurück. Erwartungsgemäß wurde Elisabeth schon bald schwanger. Doch fast taggenau ein Jahr nach der Hochzeit, im Januar 1845 starben Mutter und Kind bei der Geburt. In seiner unendlichen Trauer beschloss der Herzog, für seine Frau und seine Tochter eine dem Schmerz entsprechend große Grabkirche errichten zu lassen. Hintergrund war auch, dass es in Wiesbaden damals noch keine Begräbnisstätte für russisch-orthodoxe Christen gab. Die Kirche mit Gruft entstand zwischen 1847 und 1855, in der Folge auch ein Pfarrhaus und zuletzt der russische Friedhof.
Bau der Grabkirche
Der nassausche Architekt und Baurat Philipp Hoffmann (1806-1889) wurde mit der Planung sämtlicher Anlagen auf dem Neroberg betraut und reiste zu Studien der zeitgenössischen, sakralen Baukunst 1846/47 eigens nach Russland. Die dann gefertigten Baupläne stießen sofort auf Zuspruch beim Herzog. Die in Sandstein realisierte Grabkirche in Wiesbaden wurde weitestgehend der Erlöserkirche in Moskau nachempfunden, einschließlich der goldenen Kuppeln in Zwiebelform. Unmittelbar nach der Weihe im Mai 1855 sind die Särge der Großfürstin und ihrer Tochter unter großer Anteilnahme der Bevölkerung aus einer Kirche in der Innenstadt zum Neroberg überführt und in der Gruft des Kirchenbaus endgültig beigesetzt worden. Er trägt seither den Namen der Verstorbenen, Elisabethkirche.
SUG-Stellenmarkt
Entstehung des Friedhofs
Die Kurstadt Wiesbaden wurde im 19. Jahrhundert von vielen, meist adeligen Russen, Militärs oder Künstlern auf Anraten ihrer Ärzte zum Kuren besucht, wie auch Bad Nauheim, Bad Homburg, Bad Ems und viele andere Kurstädte in Deutschland. Die wohlhabenden Russen und ihr Gefolge blieben teilweise längere Zeit im Land, manche für immer und so starben auch "Exilrussen" in Wiesbaden und der weiteren Umgebung. Neben dem Wunsch, Kirchen für Gottesdienste zur Verfügung zu haben, entstand somit auch ein Bedarf an Begräbnisstätten. Auf Initiative der russischen Großfürstin Jelena, Mutter der verstorbenen Herzogin Elisabeth und mit privatem Geld beginnt Philipp Hoffmann 1856, unmittelbar neben dem architektonisch an die Kirche angepassten Pfarrhaus aus Sandstein, mit der Planung. Der Herzog von Nassau stellte das Gelände, so genanntes Domanialgut zur Verfügung. Der Grundriss des Friedhofs entspricht einer kombinierten Kreuz- und Kreisform. Eine Mauer, überwiegend aus Ziegelstein umgibt das terrassierte Gelände und über dem Portal erhebt sich das klassische, orthodoxe Kreuz. Zwischen dem Baum bestandenen Hochplateau des Nerobergs mit Buchen, Eichen und Fichten hat der Begräbnisplatz durch hinzu gepflanzte Rosskastanien, Hainbuchen und typische, immergrüne Friedhofsgehölze, sowie Eiben und Rhododendren den Charakter eines Waldfriedhofs. Ende August 1856 wurde er eingeweiht und 1861 mit der Errichtung der kleinen Friedhofskapelle, ein Zentralbau mit blauer Kuppel, die von Sternen übersät ist, vervollständigt. Die große Nachfrage orthodoxer Begräbnisplätze für Auslandsrussen lässt den Friedhof schon bald zu eng werden. Bereits 1863-1866 musste er auf dann insgesamt 500 Plätze erweitert werden.
Bestattungsrituale
Für Gläubige der russisch-orthodoxen Konfession ist die Erdbestattung "Pflicht", da sie an die Auferstehung des Fleisches glauben. Dies schließt die Kremation wie auch andere Bestattungsformen aus, die nur unter ganz besonderen Umständen - etwa schweren Unfällen - und nach Rücksprache der Angehörigen mit dem Priester zulässig sind. So finden sich auf orthodoxen Friedhöfen normalerweise keine Urnengräber. Ebenso ist die Bestattung in russischer beziehungsweise "geweihter" Erde vorgeschrieben. Durch die Weihe wird das Land, auf dem sich der Friedhof befindet, quasi zu russischem Boden mit orthodoxer Segnung, wo auch immer auf der Welt er sich befindet. Zum Bestattungsritus gehören auch die Trauerfeier bei offenem Sarg und der letzte Kuss für den Verstorbenen. Dies soll den Abschied und die Trauerarbeit unterstützen. Erst unmittelbar vor der Bestattung wird der Sarg verschlossen. Die Grabstätte soll möglichst mit "Blick" nach Osten ausgerichtet sein. Die Gräber werden, außer mit dem Namen, dem Geburts- und Todesdatum und anderen Inschriften, von einer Ikone oder einem orthodoxen Kreuz geschmückt. Der untere, schräge Querbalken des Kreuzes symbolisiert den "Übergang von der Hölle zum Himmel". Wie im jüdischen Glauben darf ein orthodoxes Grab nicht aufgehoben werden, um in die gleiche Fläche erneut zu bestatten. So verbleiben alle Grabstätten im Prinzip "ewig".
Prominente aus Adel, Militär, Kultur
Auf dem Wiesbadener Friedhof wurden neben den Russen, die in der Kurstadt gestorben waren, auch Gläubige aus anderen Teilen Deutschlands, Frankreichs und der Schweiz beigesetzt, wo es damals noch keine russisch-orthodoxen Friedhöfe gab. Es handelte sich häufig um Staatsmänner (Geheimräte, Staatsräte), Militärs (Generäle, Offiziere) und vor allem Angehörige des Hochadels, wie etwa Fürst Georgij Alexandrowitsch Jurjewskij (1872-1913) und seine Schwester Gräfin Olga Alexandrowna Mehrenberg geb. Prinzessin Jurjewskaja (1873-1925).
Der letzte russische Zar Nikolaus II. war ein Neffe der beiden Geschwister. Olga von Merenberg hatte in das Haus Nassau eingeheiratet. Ihr Mann, Graf Georg von Merenberg war ein Sohn des Prinzen Nikolaus von Nassau und dessen Frau Natalja von Merenberg, eine Tochter des russischen Dichters Alexander Puschkin. Viele andere Namen verweisen auf deutsch-baltische Ursprünge und erklären sich aus der besonderen Bedeutung des Baltikums für die kulturellen und politischen Beziehungen zwischen Russland und Deutschland.
Besitzverhältnisse
Nachdem der Friedhof zunächst auf herzoglich nassauischem Boden gelegen hatte, ging er im Jahre 1864 dann in den Besitz der Russischen Kirche über. Der Unterhalt der Elisabethkirche auf dem Neroberg sowie der Geistlichkeit waren zunächst anteilig vom Außenministerium des Russischen Reiches und dem Herzogtum Nassau bestritten worden. Nach 1866, als Preußen Machthaber in Hessen-Nassau wurde und die herzogliche Familie geflüchtet war, übernahm das Großherzogtum Luxemburg die finanzielle Verantwortung für den ehemals nassauischen Anteil. Grund ist, dass das großherzogliche Haus von Luxemburg aus der herzoglichen Familie des Hofes von Nassau hervorging.
Folgen der Russischen Revolution
Die Umwälzungen von 1917 besiegelten das Ende der Romanow Dynastie und des Zarenreichs. Auch Religion wurde von den Revolutionären fortan abgelehnt und so flüchteten viele Adelige, Gläubige, Intellektuelle, politisch Verfolgte, Künstler und Schriftsteller nach Westeuropa. Wiesbaden erlebte nach der Oktoberrevolution und dem Ersten Weltkrieg in den Zwanziger Jahren eine von russischen Exilanten mitgeprägte Blütezeit. Der zur Gruppe "Der Blaue Reiter" gehörende, expressionistische Maler Alexej von Jawlensky (1864-1941) wohnte und arbeitete ab 1921 in Wiesbaden und starb ebenda. Sein Marmorgrab ist heute eines der schönsten auf dem russisch-orthodoxen Friedhof. Auch Grafen, Barone, Militärs und Verwandte des letzten russischen Zaren Nikolaus II. lebten bis zu ihrem Tod in der Kurstadt und fanden schließlich auf dem Neroberg die letzte Ruhe.
Nach dem Zweiten Weltkrieg
Als Folge des Krieges waren viele Russen nach Deutschland verschleppt worden. Die deportierten "Ostarbeiter" gehörten nun in der amerikanisch besetzten Zone zu den "Displaced Persons" - aus Konzentrationslagern und Zwangsarbeit entlassene Opfer der Nationalsozialisten. Für jene orthodoxe Gläubige wurde die russische Kapelle in Wiesbaden zu einem religiösen Haltepunkt. Viele der mehr als 3000 ehemaligen Zwangsarbeiter (1946) nahmen an großen, feierlichen Gottesdiensten teil, die auch von einem Kosakenchor ausgestaltet wurden. Einige erlagen jedoch auch ihrer Entkräftung. Sie wurden auf dem Neroberg-Friedhof bestattet. Die meisten Russen, die konnten, gingen aber von Wiesbaden aus weiter in deutsche Industriestädte, ins europäische Ausland, in die USA, Kanada oder nach Südamerika und Australien.
Zweite Erweiterung
Dreißig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Friedhof auf dem Neroberg abermals zu eng. Er musste bis 1977 um nochmals 200 Plätze im Osten, außerhalb der alten Mauer aufgestockt werden; die bis zur Gegenwart letzte Erweiterung. Heute gehören die Elisabethkirche, das Pfarrhaus und der Friedhof zur Russisch-Orthodoxen Diözese des Orthodoxen Bischofs von Berlin und Deutschland, als Teil der Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland (ROK). Die heutige, russisch-orthodoxe Gemeinde von Wiesbaden ist verhältnismäßig klein, hat aber ein großes Einzugsgebiet. Zudem sind die Geistlichen seit Bestehen der Elisabethkirche in Wiesbaden gleichzeitig für die russischen Kirchen in Bad Ems und Darmstadt mitverantwortlich.
Der Friedhof heute - Sanierung
Bis vor einigen Jahren waren viele Gräber vom Zerfall bedroht. Ein umgestürzter Baum hatte die Friedhofsmauer an einer Stelle eingedrückt und es fehlte generell an Pflege. Kreuze standen schief, die schmiedeeisernen Gitter, die die meisten Gräber umrahmen, rosteten und so manche Treppenstufe wackelte. Doch dann gab es auch positive Zeichen. So wurden das Grab des Malers Alexej von Jawlensky und seiner Frau Helene saniert, Mosaik-Ikonen an Grabsteinen gesäubert, viele Schriften wieder lesbar gemacht. Nicht zuletzt rückte der Besuch des russischen Präsidenten in Wiesbaden anlässlich des so genannten "7. Petersburger Dialogs" (Oktober 2007) die russisch-orthodoxen Anlagen auf dem Neroberg in den Fokus. Die Sanierung der Kirche und die Neuvergoldung der Kuppeln waren damals fast abgeschlossen, Sichtachsen waren wieder hergestellt und an der Friedhofsmauer erzählten Informationstafeln die Geschichte der russischen Gemeinde, von Kirche, Pfarrhaus, Friedhof und Gemeindeleben in Wiesbaden. Drei Jahre später konnten die Stadt Wiesbaden und die russische Gemeinde, auch mit Spenden und Sponsorengeldern die wichtigsten Sicherungsmaßnahmen durchführen: Die Außenmauer reparieren, umgefallene Grabsteine wieder aufrichten und das Portal aus Sandstein restaurieren. Die Maßnahmen für zusammen etwa 45.000 Euro waren ein weiterer, großer Schritt zur Erhaltung des Geschichtsdenkmals. Darüber hinaus sammelt der Russisch-Othodoxe Fond e .V. Spenden zur Restaurierung der Grabsteine. Durchschnittlich 200 Euro sind für jeden Fall erforderlich. Für Einzelgräber können auch Patenschaften übernommen werden.
Ausblick
Die durch ihre goldenen Kuppeln weithin sichtbare Kapelle auf dem Neroberg - Wahrzeichen Wiesbadens - ist auch heute noch ein Symbol für gute deutsch-russische Beziehungen. Und der Friedhof ist ein Stück russische (Trauer-)Kultur in Deutschland. Die orthodoxen Besucher heute tun hier das gleiche, wie in ihrer Heimat: sie essen Brot und trinken Wodka auf dem Friedhof, um so bei ihren Toten zu sein. Mit dem neuerlichen Zuzug oder Kuraufenthalt vieler, zum Teil sehr wohlhabender, neureicher Russen ("Oligarchen"), setzt sich die Geschichte in der Gegenwart fort. Der größte russisch-orthodoxe Friedhof in Westeuropa könnte so - auch mit Hilfe aus der Heimat - erhalten werden.
Quellen
Russischer Friedhof auf dem Neroberg, Christian-Spielmann-Weg 2, 65193 Wiesbaden.
www.wiesbaden.de (Suchwort: Russischer Friedhof).