Funktion, Form und Performance
Ästhetisches Erleben in städtischen Grünanlagen
von: Prof. Dr. Wulf TessinAls Gegenstand von Ästhetik wird daher heute (und im Folgenden auch hier) mehr oder weniger das verstanden, was – weit über den Kunstbereich hinaus – um seines sinnlichen Eindrucks willen gemacht und/oder wahrgenommen wird. Im Auto nehmen wir die Straßenampel nicht ästhetisch wahr, weil es nicht um des sinnlichen Eindrucks willen geschieht. Nachts aus dem Hotelfenster schauend können wir dieselbe Ampel dagegen durchaus ästhetisch erleben: Wir lassen uns sinnlich berühren vom regelmäßigen Farbenspiel der Ampel um seiner selbst willen.
Ästhetisches Erleben hat also nach diesem Verständnis weder allein etwas mit Kunst noch mit der Gestalt des Objektes, noch allein was mit der Befindlichkeit oder Sensibilität des wahrnehmenden Subjektes zu tun als vielmehr auch etwas mit der Funktion des Objektes im jeweiligen Erlebniskontext: Selbst der schönste Gegenstand, ein herrliches Gemälde, wird womöglich nicht ästhetisch wahrgenommen, wenn es etwa von einer Putzfrau gerade abgestaubt wird.
Und selbst der profanste, alltäglichste Gegenstand kann ästhetisch erlebt werden (etwa seinerzeit Marcel Duchamps Pinkelbecken), wenn der Kontext, die jeweilige Situation (in seinem Fall: Ausstellung des Pinkelbeckens in einem Kunstmuseum) dies nahelegt. Das ästhetische Erleben erstreckt sich also weit über den Bereich des künstlerisch Gestalteten hinaus: Alles kann ästhetisch erlebt werden. In erster Linie entscheidet die Situation, die jeweilige Stimmung des Subjektes und nicht so sehr irgendein einer Sache anhaftender ästhetischer Wert.
Die Grünanlage als solche als Erlebnisfaktor (Funktion)
- die frische Luft (im Gegensatz zur "verbrauchten" Luft in Stadt und Gebäuden),
- die (relative) Ruhe (im Gegensatz zu Lärm und Hektik in der Stadt),
- die (relative) Offenheit und Weite der Fläche (im Gegensatz zu den geschlossenen Räumen beziehungsweise engen Häuserschluchten in der Stadt),
- die (relative) Bewegungsfreiheit (im Gegensatz zum "Sitzzwang" in Büro, Auto und Wohnung),
- die lebendige Vegetation (im Gegensatz zur toten Materie von Pflaster, Stein, Beton, Metall und Plastik in der Stadt),
- die (relativ) wenigen Menschen und die Autofreiheit (im Gegensatz zur Menschen- und Autodichte in der Stadt)
- den freizeitlich-lockeren Verhaltenskodex (im Gegensatz zum geregelten beziehungsweise geschäftigen Betrieb der Stadt),
- das "wohlfeile Vergnügen" (im Gegensatz zu den meist kommerziellen Freizeitvergnügungen in der Stadt),
- die Natur als grundlegend "andere Daseinsform" (naturromantisch gesehen als Gegensatz zu Kultur und Gesellschaft).
Jede Grünanlage ist ästhetisch zunächst einmal dadurch reizvoll, dass sie schlicht eine solche ist, also aufgrund ihrer Funktion als grüner Freizeit- und Mußeort, der vielfältig als Kontrast zur gebauten Umwelt und zum alltäglichen Leben der Stadt erlebt wird. In jedweder Grünanlage genießt man also etwa:
Wir spüren die Grünanlage als Gegensatz zum oder als Ausnahme vom Alltag, als Entlastung und Befreiung und fühlen uns fast wie im Urlaub, freier, unbeschwerter als sonst, ein bisschen sogar "being away"². Es ist zwar beileibe kein Arkadien, aber der Szenenwechsel ins Grün der Stadt ist als Kontrasterlebnis doch grundlegend, wenn auch natürlich sehr unterschiedlich intensiv, unter anderem je nach Typ, Gestalt, Größe und Abschirmung des Grüns zur Stadt hin. Es setzt uns frei vom zweckgebundenen Alltagsgeschäft und ermöglicht uns erst dadurch einen vorrangig ästhetischen Umgang mit der Situation um ihrer selbst willen.
Die Stadt mag ästhetisch interessanter sein, aber aufgrund unserer eigenen Geschäftigkeit, der raschen Abfolge und puren Fülle von Ereignissen haben wir dort kaum Zeit, ihr genießend ästhetische Aufmerksamkeit zu widmen. In der Grünanlage haben wir nun diese Zeit und haben nichts anderes zu tun, ja, es ist deren Zweck und unser Ziel, diese kleine Aus- und Freizeit in vollen Zügen sinnlich zu genießen. Dieses mit Grünanlagen als solchen verbundene, ästhetisch empfänglich machende wie zugleich etwas eskapistische Grundgefühl der Entlastung und Befreiung (als Kontrasterlebnis zum Stadtalltag) dürfte das wohl wichtigste ästhetische Erlebnis beim Besuch einer Grünanlage sein und zugleich auf alle weiteren ausstrahlen.
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Die Gestalt(ung) der Grünanlage als ästhetischer Erlebnisfaktor (Form)
Wenn man nun speziell nach der Bedeutung der Grünflächengestaltung für das ästhetische Erleben der Bevölkerung fragt, ist es immer ein enormer Unterschied, ob man die Leute direkt darauf anspricht, indem man ihnen entsprechende Statements vorlegt, die sie dann ankreuzen können, oder ob man sie einfach so (ohne Antwortvorgaben) danach fragt. Im ersten Fall kreuzen bis zu 70 Prozent gestaltungsästhetisch geprägte Statements als "wichtig" an, von sich aus selten mehr als 30 Prozent³. Dies muss wohl so interpretiert werden, dass das gestalt-ästhetische Erleben den meisten Leuten gar nicht so sehr präsent oder gar vorrangig ist, sie vielmehr erst durch entsprechend anzukreuzende Statements daran erinnert werden müssen. Ein Grünflächenbesuch ist ja auch durchaus etwas Anderes als ein Kino-, Konzert- oder Ausstellungsbesuch, insofern als es dort um eine gezielte, klar umrissene ästhetisches Erlebniserwartung geht. Diese ist beim Grünflächenbesuch diffuser, offener, beliebiger, weniger festgelegt.
Die konkrete Grünflächengestaltung ist aus Sicht der Mehrheit der Leute dabei durchaus von relevanter, aber eben nicht zentraler Bedeutung. Schönes Wetter, nette Atmosphäre, das bloße Vorhandensein von Grün als solchem (s. o.), schon allein das kann einen nicht sonderlich schön gestalteten Freiraum ästhetisch reizvoll machen. So bezeichneten doch immerhin fast die Hälfte der in unterschiedlichen Freiräumen Befragten den jeweiligen trotzdem als einen sogar "sehr angenehmen" Ort4, obwohl sie ihn nicht als besonders "schön" empfanden. Man sucht ja auch in der Regel nicht die gestalterisch anspruchsvollste oder schönste Grünfläche einer Stadt auf, sondern die für die eigenen Zwecke nächstgelegene. Es geht eher um ein als angenehm empfundenes Gesamterlebnis, weniger um ein dezidiertes Gestaltungs- und Schönheitserlebnis.
Das ist nur dort etwas anders, wo wir die Grünanlage nicht bereits gut kennen, sondern sie erstmals aufsuchen, sie vielleicht gar regelrecht besichtigen wollen.
Zwar dominieren auch dabei die aus der Funktion des städtischen Grüns als solchem (s. o.) resultierenden Allerweltsbesuchsmotive "Ruhe und Erholung", "Unterhaltung und Abwechslung" und "Sonne und frische Luft", "mal rauskommen", aber immerhin jede zweite Befragungsperson etwa im Großen Garten in Hannover, einem klassischen Besichtigungspark, war wegen der besonderen Attraktivität des Gartens gekommen. Drei von vier sagten gar, sie würden sich den Garten gezielt-interessiert anschauen und fast der Hälfte von ihnen war "an einem Ort wie diesem" die Gestaltung der Anlage sehr wichtig5. Der interessiert-besichtigende Grünflächenbesuch ist aber die Ausnahme im jährlichen Freiraumverhalten zumindest der großen Mehrheit der Bevölkerung, passiert also eher selten, oft gar nicht und beschränkt sich dann auf den Besuch gartenhistorischer Highlights und/oder etwa von Gartenschauen.
Gestaltung als ästhetische Hintergrundserfüllung
Man muss diese beim alltäglichen Besuch nicht ganz so zentrale Bedeutung der Grünflächengestalt(ung) für das ästhetische Erleben wohl auch so interpretieren: Der Großteil der städtischen Grünanlagen ist, erstens, im Sinne der Bevölkerung gestalterisch-ästhetisch im gesellschaftlich akzeptierten, 'landschaftlich' geprägten Geschmackskorridor angesiedelt: in jedem Fall eher schön als hässlich. Erst wenn die Gestaltung der Grünanlage von diesem 'Üblichen' qualitativ nach oben (z. B. historische Parks) oder nach unten (z. B. Brachflächen) abweicht, kann sie sogar sehr bedeutsam werden bis hin zur Entscheidung, den Ort bewusst aufzusuchen oder zu meiden.
Vor allem aber lebt, zweitens, jede Grünfläche (jenseits aller konkreten Gestaltung) ästhetisch, wie schon gesagt, von ihrer grünen Eigenart: wenn Krokusse blühen, die Bäume frisches Grün treiben, dann genießen die Leute, wie sie sagen, "Natur" und führen dies meist nicht zurück auf eine besondere Gestaltung, die oft erst bei Staudenrabatten, Wechselflor und Ähnlichem als solche erkannt und gewürdigt wird.




Es kommt aber noch ein entscheidendes Drittes hinzu: In einer Anlage, in der man sich sehr häufig aufhält, die man gut kennt (und das ist ja die Regel), verliert das an ihrer Gestaltung interessierte Wahrnehmungsbedürfnis recht bald an Bedeutung, was sich mit Hilfe des Theorems der sogenannten Hintergrundserfüllung6 erklären lässt. Es besagt, dass Bedürfnisse, die dauerhaft befriedigt werden, deren Befriedigung gesichert ist, gar nicht mehr als Bedürfnisse, also als empfundene Mangelsituationen, ins Bewusstsein dringen und das Verhalten gegenüber der Umwelt somit auch nicht steuern – mit der Folge, dass andere (weniger befriedigte) Bedürfnisse verhaltensrelevanter werden.
Wir nehmen die Schönheit der Grünanlage sozusagen als gegeben hin und wenden uns anderen Aspekten zu. Beim Betreten (auch beim x-ten Mal) wird das gestalt-ästhetische Erlebnis der Grünanlage (als Kontrasterlebnis zur zuvor erlebten Umgebung) noch virulent, es klingt dann aber in dem Maße ab, je länger man sich in der Anlage aufhält.
Auch der für den Grünflächenbesuch so typische Spaziergang hilft bald nicht mehr weiter, ihrer Gestaltung (im Sinne einer am Gegenstand interessierten Wahrnehmung) neue ästhetische Eindrücke abzugewinnen, was nicht ausschließt, dass man immer mal wieder der Gestaltung ästhetisch volle Aufmerksamkeit widmet. Nur füllt dieser Aspekt im Laufe des Aufenthaltes nur noch einen (kleinen) Teil unseres ästhetischen Erlebens aus. Die Grünflächengestaltung wird dann zwar noch (eher unbewusst) wohlgefällig, aber nicht mehr ästhetisch interessiert erlebt; sie wird zur (schönen) Kulisse für das, was in der Grünfläche geschieht beziehungsweise wir dort selbst tun, aber bleibt dabei natürlich stets als situative Mitgegebenheit ästhetisch wirksam und gibt allem, was wir in der Grünanlage sonst noch erleben, ihre spezielle Prägung.
Die Nutzung der Grünanlage als Erlebnisfaktor (Performance)
Tatsächlich verschiebt sich unser Augenmerk (je öfter/länger wir da sind) immer mehr hin zum Geschehen in der Anlage. Unsere Augen fungieren wie Bewegungsmelder und wenden sich fast automatisch jeder Art von Bewegung oder Veränderung im Raum zu. Wir verschaffen uns unsere Erlebnisse gleichsam selbst, in dem wir einerseits dem Geschehen in der Anlage ästhetische Ereignisqualität gleichsam zukommen lassen (einer Wolke, einem Hund, einem herabfallenden Blatt), oder wir andererseits ästhetische Ereignisse durch unser eigenes Verhalten auch selbst performativ herbeiführen, indem wir Enten füttern, uns ins Gras legen, die Hand ins Wasser halten, joggen, auf den Inlineskates den Rausch der Geschwindigkeit oder mit Bekannten beim Grillen Geselligkeit erleben und genießen.
Selbst der Spaziergang dient dann gar nicht mal mehr so sehr dazu, der Grünflächengestaltung neue ästhetische Eindrücke abzugewinnen, sondern wird selbst zum Erlebnis als körperliche Wohltat nach (vielleicht) langer Schreibtischtätigkeit. Unser ästhetisches Erleben im Grün ist also weitgehend selbstgemacht, hat (anders als im Kino-, Theater- oder Konzertsaal, wo wir ein vorgegebenes ästhetisches Angebot rezipieren) quasi Do-it-yourself-Charakter: Wir verschaffen es uns größtenteils selbst durch unser inneres und äußeres Handeln. Wir nutzen die Grünanlage als performative Plattform für alles Mögliche und so verschiebt sich unsere ästhetische Aufmerksamkeit weg von der Gestaltung (in die Hintergrunderfüllung abgesunken) hin zur Nutzung der Grünfläche – vor allem der eigenen. Und dies umso mehr je aktiv-sportlicher und/oder kommunikativ-geselliger wir ausgerichtet sind.
In dem Maße, wie sich in den letzten Jahrzehnten nun ein Trend weg vom traditionell gutbürgerlichen, eher ruhig-kontemplativen Besuchsmuster, das es natürlich immer noch gibt, entwickelt hat hin zu einem mehr sportlich-aktiven, teils event- bzw. erlebnisorientierten, desto mehr verliert die klassische 'schöne' Gestaltung der Grünanlage an Bedeutung. Die Gestaltung ist nicht mehr – sieht man einmal vom speziellen Fall der Besichtigung ab – zentraler Erlebnisgegenstand, sondern die eigene Nutzung.
In neueren Anlagen wie etwa dem Mauer- oder dem Gleisdreieckpark in Berlin scheint man aus dieser Entwicklung gestalterisch bereits die entsprechenden Konsequenzen gezogen zu haben: Es geht von vornherein hier nicht mehr so sehr um arkadische Schönheit, um gartenkünstlerische Gestaltung, die man in aller Ruhe ästhetisch-kontemplativ genießen soll, sondern mehr um aktive Nutzung, um einen Parktyp (man denke auch an das Tempelhofer Feld in Berlin), der vor allem die (eigene) Nutzung zum zentralen Erlebnisgegenstand des Besuchs macht.
Das geht freilich nicht ohne gewisse atmosphärische Einbußen für jene einher, denen doch noch mehr an einer ästhetisch-kontemplativen denn sportlich-aktiven bzw. gesellig-kommunikativen Nutzung der Grünanlage liegt. Das macht deutlich, dass die Bedeutung der hier diskutierten drei ästhetischen Erlebnisfaktoren (Grünfläche als solche, konkrete Gestaltung und individuelle Nutzung, also function, form and performance) nicht nur personen- und grünflächenspezifisch stark unterschiedlich ist, sondern auch während ein und desselben Aufenthalts bei derselben Person durchaus variieren kann.
Anmerkungen
1 Der folgende Beitrag basiert auf dem Buch des Verfassers zur 'Ästhetik des Angenehmen – Städtische Freiräume zwischen professioneller Ästhetik und Laiengeschmack', Wiesbaden, 2008. Es wird hier auf entsprechende Einzelhinweise verzichtet.
2Kaplan; S., The restorative benefits of nature, 1995: Toward an integrative framework, S.169-182, in: Journal of Environmental Psychology, Vol. 15, S.174
3Ebda., S.96
4 Ebda, S.54
5 Ebda. S. 58
6 Gehlen, A., 1956: Urmensch und Spätkultur, Bonn