Phänomenologische Forschungsergebnisse eines Smellwalks

Beton, Parfüm, Fastfood - Geruchslandschaften

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Gerüche Forschung und Bildung
Abb. 1: Gezieltes Suchen nach Gerüchen. Foto: Sven Endreß

Smellwalks als Methodisches Vorgehen

Wenn wir einen Ort erleben, erfahren wir mehr als nur die "oberflächlichen" Fakten des Ortes. Wir erleben nicht die Anzahl der täglich ankommenden Züge, das Baujahr des Bahnhofes oder die durchschnittliche Lautstärke des Bahnhofbetriebes. Wir erleben vielmehr das Gedränge der Menschenmassen, die Schwere, die von den dunklen großen Steinen des Bahnhofsgebäudes ausgeht, sowie das Stimmengemenge, welches eine Unterhaltung zu einer Schreiprobe machen kann. Dieses leibgebundene Erleben der Umgebung kann mit einer phänomenologischen Methode sehr gut erfasst und beschrieben werden. Gegenüber anderen Denkansätzen kann die Phänomenologie das "Erleben der Welt in der Perspektive der Ersten Person" (Hasse 2017, S. 353) umfänglicher berücksichtigen und methodisch in den Mittelpunkt rücken.

Zwei Eigenheiten der phänomenologischen Betrachtung werden hier deutlich: Zum einen wird klar, dass es sich hierbei um eine stark subjektive erkenntnistheoretische Herangehensweise handelt (Hasse 2017, S. 353). Diese starke Subjektivität wirft dabei die Frage auf, inwiefern Erkenntnisse der Phänomenologie verallgemeinert werden können. Hermann Schmitz, der Begründer der Neuen Phänomenologie, welcher sich auch Hasse zuordnen lässt (vgl. Hasse 2017), betont dabei zwei Punkte: Der Phänomenologe müsse selbst nach allem gerechtfertigtem Zweifel davon überzeugt sein, dass das Phänomen existent sei. Des Weiteren sei davon auszugehen, dass ein "weitgehend übereinstimmende[s] Erleben" (Schmitz 2009, 14f) zwischen verschiedenen Subjekten vorausgesetzt werden könne. Demnach können diese Phänomene auch von anderen nachvollzogen werden, auch wenn "kulturelle und individuelle Prägung" (Schmitz 2009, S. 15) zu leichten Abweichungen führen könnten.

Doch wie findet dieses Erleben statt? Hasse macht deutlich, dass bei diesem Erleben unsere Sinne eine "elementare Rolle" (Hasse 2005, S. 150) einnehmen. Dabei sind alle Sinne gemeint, über welche das Individuum verfügt, denn Erleben ist immer ein Zusammenspiel aus verschiedenen Sinnen (Hasse 2005, S. 150). Der Vorteil einer solchen Vorgehensweise liegt darin, dass so die Innenwelt des Subjektes erfahrbar wird, oder wie Hasse es ausdrückt "was affiziert, berührt, erschrickt, die Aufmerksamkeit lenkt, das aktuelle So-Sein stimmt und von sich selbst ablenkt" (Hasse 2017, S. 358).

In diesem Beitrag soll nun das Bahnprojekt Stuttgart 21, beziehungsweise der sich im Umbau befindliche Stuttgarter Hauptbahnhof, durch diese phänomenologische Brille betrachtet werden. Dabei wird schnell deutlich, dass eine Betrachtung des Bahnhofes mit allen Sinnen den Rahmen dieses Beitrages sprengen würde. Um dieses Projekt daher überschaubar zu halten, soll lediglich der Geruchsinn im Vordergrund stehen, wohl wissend, dass dieser nicht vollkommen losgelöst von den anderen Sinnen beschrieben werden kann.

Die Fokussierung auf den Geruchssinn hat dabei mehrere Gründe: Zum einen stellt der Geruchsinn einen der stark vernachlässigten Sinne dar. Die oft vordergründig betriebene Betrachtung eines Raumes bezieht sich meist hauptsächlich auf das visuell Erlebbare. Hierbei kann von einem "Visualitätsparadigma" (Bischoff 2007, S. 23) gesprochen werden. Dieses beschreibt die "Überbewertung des Sehsinns gegenüber allen anderen Wahrnehmungssinnen" (Bischoff 2007, S. 33). Hasse hebt zudem hervor, dass durch die technischen Möglichkeiten in der Postmoderne der Gesichtssinn, also der Sinn für das Visuelle, immer stärker in den Mittelpunkt rückt.

Die Priorisierung dieses Sinnes ist dabei kein neues Phänomen, sondern sei schon bei Aristoteles vorgekommen, welcher als Reihenfolge (absteigend) "Gesicht, Gehör, Geruch, Geschmack, Tastgefühl" (Hasse 2005, S. 38) festgelegt habe. Auch die Kritik daran ist schon seit längerem präsent. So moniert beispielsweise Porteous im Jahr 1985, dass Literatur zur Landschaftsbewertung meist ausschließlich auf visuellen Kriterien beruhe (Porteous 1985, S. 357). In letzter Zeit scheint die Beschäftigung mit Geruchslandschaften jedoch auch verstärkt im wissenschaftlichen Diskurs Platz zu finden wie die Beiträge von McLean (McLean 2020) oder beispielsweise Henshaw (Henshaw 2014) deutlich machen.

Einen Ort nach olfaktorischen Eigenschaften zu untersuchen, stellt neue Herausforderungen an den Forschenden. So wird deutlich, dass uns zum Teil noch die sprachlichen Voraussetzungen fehlen, um in einem gesellschaftlichen oder wissenschaftlichen Diskurs nachvollziehbar das olfaktorisch Erlebte zu beschreiben (Bischoff 2007, S.22; Porteous 1984, S. 360).

Eine Möglichkeit, diese nichtvisuellen Merkmale zu erheben und anschließend visuell aufzubereiten, stellt der von McLean praktisch umgesetzte Ansatz der Smellscapes (etwa Geruchslandschaften) dar. Dabei greift McLean auf einen von Porteous entwickelten Ansatz zurück, welcher davon ausgeht, dass Gerüche in Smellscapes räumlich angeordnet und verhaftet sind, wobei im Unterschied zur eher statischen visuellen Landschaft die starke zeitliche Variation berücksichtigt werden muss (Porteous 1985, S. 359). Um diese Smellscapes zu untersuchen und zu kartieren, schlägt er Smellwalks, also Geruchsspaziergänge, vor. Für die hier durchgeführte Erhebung diente ein Artikel von McLean über einen Smellwalk in Kiew als Grundlage (McLean 2020). Dabei wurde sich während dieses Smellwalks weniger auf den temporalen Verlauf der Geruchsempfindungen fokussiert als auf die räumliche Verteilung.

Für die hier vorliegende Untersuchung konnten fünf Versuchsteilnehmende (V) gewonnen werden, welche aus einem Haushalt stammen, weshalb die Einschränkungen bezüglich COVID-19 während der Untersuchung reduziert werden konnten. Zwei der Teilnehmenden waren weiblichen (w), drei männlichen (m) Geschlechtes. Dabei weisen die Versuchsteilnehmenden allesamt ein junges Alter auf (V1: 20 (w), V2: 22 (w), V3: 24 (m), V4: 24 (m) und V5: 25 (m) Jahre). Alle Teilnehmenden hatten den Stuttgarter Bahnhof zuvor mehrmals besucht, wobei V1 sowie V2 etwas häufiger vor Ort waren als die übrigen Teilnehmenden.

Die Probanden wurden gebeten, auf einer zuvor festgelegten Strecke alle ihnen auffallenden Gerüche zu notieren. Dabei sollte, ähnlich wie bei McLean, die Uhrzeit, der erlebte Geruch, eine Intensität des Geruches (Skala von 1 (sehr schwach) bis 7 (sehr stark)) sowie eine mit dem Geruch assoziierte Farbe festgehalten werden. Zum einen erleichtert die Angabe einer Farbe die spätere kartographische Aufbereitung, zum anderen betont auch Hasse, dass "der Regress auf Synästhesien [also die Kopplung verschiedener Wahrnehmungs- beziehungsweise Erlebensmodi, Anm. d. Verf.] fast unvermeidlich" (Hasse 2017, S. 355) ist, um das Gespürte verbalisieren zu können. Die Erhebung dieser Daten erfolgte am Smartphone durch den Google Map Service "Meine Orte". Dieser ermöglicht es, eine genaue Georeferenzierung zusammen mit Notizen zu speichern und so angelegte Listen mit anderen Nutzern zu teilen. Die Strecke wurde so geplant, dass möglichst viele Aspekte des Bahnhofgeländes sowie der Baustellen im Rahmen von Stuttgart 21 abdeckt werden. Da im Bahnhofsgebäude selbst eine Maske getragen werden musste, wurde ein Großteil der zu begehenden Strecke im Freien geplant. So konnten die Geruchseinschränkungen minimiert werden, ohne das Ansteckungsrisiko der Teilnehmenden oder anderer Personen zu erhöhen.

Die Strecke war dabei nicht genau vorgegeben, sondern entsprach eher einem losen Leitfaden. Als Versuchsleiter begleitete ich die Gruppe auf dieser losen Wegführung. So konnte ich während des Versuchs zum einen die grobe Richtung des Weges vorgeben sowie das Verhalten der Teilnehmenden genauer beobachten und für Fragen ansprechbar sein. Am Ende des Smellwalks folgte eine Pause, nach der in einem kurzen eroepischen Gespräch das Erlebte beschrieben wurde. Die folgende Darstellung folgt dabei frei dem chronologischen Verlauf des Smellwalks, wobei auf Auffälligkeiten eingegangen wird. Die Informationen aus den eroepischen Gesprächen wurden direkt in die Beschreibung des Smellwalk eingearbeitet.

Ablauf

Da, wie bereits zuvor besprochen, Smellscapes immer nur einen zeitlichen Ausschnitt beschreiben, soll hier zunächst die zeitliche Einordnung vorgenommen werden. Der Smellwalk wurde am Samstag, den 6. Februar 2021 zwischen 12:45 und 14:22 Uhr durchgeführt. Das Wetter war trocken und mit einer Temperatur von etwa 6 Grad Celsius nicht allzu kühl. Als besondere Wetterlage kann die Saharastaubwolke genannt werden, welche an diesem Tag den Himmel über Stuttgart verfärbte (Schöll 2021).

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Abb. 2: Die Teilnehmenden erkunden in ihrem eigenen Tempo die Geruchslandschaft des Schlossgartens.: Foto: Sven Endreß
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Abb. 3: Smellscape von Versuchsteilnehmer 4. Abbildung: Sven Endreß
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Abb. 4: Smellscape von Versuchsteilnehmerin 1. Abbildung: Sven Endreß
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Abb. 5 Smellscape von Versuchsteilnehmerin 2. Abbildung: Sven Endreß
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Abb. 6: Smellscape von Versuchsteilnehmer 5. Abbildung: Sven Endreß
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Abb. 7: Smellscape von Versuchsteilnehmer 3. Abbildung: Sven Endreß

Zu Beginn des Smellwalks wurde den Teilnehmenden der Ablauf der Erhebung erklärt. Die Teilnehmenden wurden anschließend darauf hingewiesen, dass sie sich auf der Strecke frei bewegen können und sie so möglichen Duftquellen nachgehen können. Dabei können die Teilnehmenden, im Unterschied zu McLeans Erhebung, die Geschwindigkeit ihres Ganges durchgehend selbst bestimmen. Zudem wurde keine Unterscheidung nach verschiedenen Modi des Riechens getroffen. Ob die Teilnehmenden aktiv nach Gerüchen suchen, wie beispielsweise in Abb. 1 zu sehen ist, oder ob sie die Gerüche auf sich zukommen lassen, wie beispielweise in Abb. 2, blieb dabei den Teilnehmenden selbst überlassen. Abb. 2 zeigt daneben auch deutlich den unterschiedlichen Bewegungsradius sowie das unterschiedliche Tempo, in welchem die Teilnehmenden die Gerüche erlebten.

Daneben wurden die Teilnehmenden darauf hingewiesen, dass sie sich gerne über ihre Erfahrungen austauschen können, ohne jedoch die konkrete Farbe oder den Geruch anderen Teilnehmenden mitzuteilen, bevor diese diesen Geruch selbst eingeordnet hatten.

Nach dieser Einführung bewegte sich die Gruppe langsam durch das Bahnhofgebäude in Richtung des Haupteinganges. Durch das Tragen von medizinischen beziehungsweise FFP2-Masken wurden innerhalb des Gebäudes kaum Gerüche erlebt. Vor dem Bahnhofgebäude war ein großes Gedränge, weshalb die Teilnehmenden nicht stehen blieben, sondern sich direkt zu einem Gebiet östlich des Bahnhofes fortbewegten. Einige der Teilnehmenden begannen hier damit, sich über ihre ersten Eindrücke auszutauschen, wobei beispielsweise V4 äußerte, dass er überrascht sei, so viel zu riechen, während V1 sich darüber beschwerte, dass sie bisher kaum etwas riechen konnte. Dies ist auch in der visualisierten Smellscape zu erkennen. Während V4 (s. Abb. 3) zu diesem Zeitpunkt bereits zehn Gerüche erlebt hatte, waren es bei V1 (s. Abb.4) lediglich drei.

Es könnte eine Reihe von Gründen für diese wahrgenommene Differenz geben. Zum einen besteht die Möglichkeit, dass V1 einen weniger sensiblen Geruchssinn aufweist als V4. Vielleicht war V1 in diesem Moment auch weniger aufmerksam oder einfach zur falschen Zeit am falschen Ort. Letztere Begründung liegt zumindest nahe, wenn man die von V4 erlebten Gerüche näher betrachtet: Bis auf den als graubraun eingezeichneten, eher als stationär zu betrachtenden Geruch nach "Regen/Laub/Mörtel/Asphalt" sind alle weiteren erlebten Gerüche vermutlich mobiler, da sie möglicherweise an Menschen gebunden sind. Dies würde bedeuten, dass V1 die Gerüche nach verschiedenen Parfüms, Rauch und Kaffee nicht erleben konnte, da sie den Geruch verströmenden Personen nicht begegnet ist. Diese Annahme wird zudem dadurch verfestigt, dass auch V1 in diesem Anfangsgebiet den Geruch von "Baustelle/Zement" erlebt. V5 spricht davon, dass Gerüche manchmal nur sehr schwer wahrzunehmen sind: "Die meisten Gerüche sind sehr, sehr fein [. . . ], wenn man ein wenig darauf achtet, nimmt man mehr Gerüche wahr, aber die meistens sind nicht so stark und oft kommen Gerüche, die ziemlich schnell wieder verfliegen. Es ist dann schwierig sie richtig zuordnen und zu definieren, was man eigentlich gerochen hat".

Auch V4 betont beim Gespräch am Ende, "dass man sich darauf konzentrieren muss, [. . . ] weil man sonst nicht aktiv riecht oder nicht merkt, dass man was riecht". Diese Beispiele zeigen, dass das olfaktorische Erleben eines Ortes (Henshaw 2014) ein "aktives Riechen" voraussetzt. Auch V3 zeigte sich am Ende überrascht darüber, wie wenig Gerüche er in der Stadt erleben konnte: "Wenn man wie gewohnt rumläuft - da habe ich jetzt nicht so viel gerochen. Keine Ahnung woran das lag, eigentlich müsste das anders sein, aber anscheinend ist es in Stuttgart so, dass es nicht besonders riecht". Dass man in modernen Städten Gerüche "eliminieren" (Bischoff 2007, S. 20) würde und sich die Qualität der Geruchslandschaft verschiebe, betont auch Bischoff.

Die Strecke führt weiter über einen Gehweg, an der Sternwarte vorbei Richtung Schlossgarten. Während für V1 und V4 auf diesem Abschnitt besonders viele, und im Falle von V1 auch besonders intensive Gerüche erleben (s. Abb. 4 und 3), scheint dieser Streckenabschnitt für V2 (s. Abb. 5) sowie für V5 fast schon geruchsneutral zu sein (s. Abb. 6).

Anschließend folgt der Gang durch den Mittleren Schlossgarten. Beim Eintritt in den Schlossgarten zeigt sich eine interessante Eigenschaft von Smellscapes: So erlebt beispielsweise V3 kurz nach dem Eintritt in den Park einen intensiven Geruch nach feuchtem Laub und Gras (s. Abb. 7). Auch die anderen Versuchsteilnehmenden, mit Ausnahme von V5, erleben zu Beginn des Parks einen Naturgeruch. Beim weiteren Gang durch den Park scheinen sie jedoch kaum weitere Naturgerüche zu erleben. Dies lässt sich möglicherweise durch die schnell eintretende Gewöhnung an Gerüche erklären (Porteous 1985, S. 358).

Wie unterschiedlich Gerüche erlebt werden können, zeigt sich besonders gut in der Mitte des Parks, wo V1, V2 und V4 den Geruch der dortigen Toilette festhalten. Abb. 8 zeigt dabei die Suche nach dem Geruchsursprung. Während V4 diesen Geruch als Urin identifiziert und ihm die Farbe "pissgelb" zuweist und auch V1 den Geruch als "ranzig/säuerlich" umschreibt, erlebt V2 den Geruch einer sauberen Toilette und weist ihm die Farbe "hellrosa" zu.

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Abb. 8: Auch der Ursprung unangenehmer Gerüche soll erkundet werden. Foto: Sven Endreß
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Abb. 9: Die Teilnehmenden stehen vor dem Tunneleingang. Foto: Sven Endreß
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Abb. 10: Auf diesem Platz treffen die Teilnehmenden auf orange Geruchslandschaften. Foto: Sven Endreß
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Abb. 11: Eindrücke aus allen Richtungen! Die Teilnehmenden über einem Lüftungsschacht. Foto: Sven Endreß

Betrachtet man die gesamten Smellwalks, so wird deutlich, dass ein großer Teil der erlebten Gerüche vermutlich negative Reaktionen hervorrief. Dieses Erleben betont auch V1 beim Gespräch am Ende: "Es waren hauptsächlich negative Gerüche, auch im Park,". Neben den eher negativen Gerüchen scheinen sich die anderen Gerüche mehr oder weniger in die Kategorien "Nahrungsmittel", "Körpergerüche", "Natur" sowie "Baustelle" einordnen zu lassen. Hierbei stellt sich die Frage, ob die Teilnehmenden so viele Baustellengerüche erlebten, weil, wie V1 betont, "es sehr viel nach nassem Beton gerochen hat, sehr viel nach Baustelle", oder ob die Teilnehmenden verstärkt diese Gerüche suchten, weil sie wussten, dass das Bauprojekt S21 im Fokus der Arbeit stehen sollte. Ein mögliches Priming kann hier nicht ausgeschlossen werden.

Der nächste größere Streckenabschnitt begann am Ende des Schlossgartens. Nach dem Gang durch den Park scheinen sich alle Personen an die Abwesenheit von Abgasen gewöhnt zu haben, zumindest legt der bei allen Versuchspersonen als sehr intensiv erlebte Abgas- und Benzingeruch diese Vermutung nahe. Ein weiterer Grund für das intensive Erleben ist jedoch sicherlich auch der Weg an sich, welcher nun entlang einer stark befahrenen Straße durch einen Tunnel führt, wie in Abb. 9 zu sehen ist.

Die Route führt anschließend weiter über das Gelände des Milaneo hin zu einem belebten öffentlichen Platz. Alle Versuchsteilnehmenden erleben in diesem Gebiet den Geruch nach Nahrungsmitteln, wobei die Angaben vom einfachen Geruch nach "Essen" bis hin zu genaueren Beschreibungen der Küche wie "Asiatisches Fastfood" bis hin zum genauen Gericht wie beispielsweise "Pommes" reichen. Auffällig ist, dass, bis auf V3 für den Geruch "Wurst" alle Versuchsteilnehmenden den Gerüchen nach Nahrungsmitteln gelblich-orange Farben zuordnen. Abb. 10 zeigt den größeren Platz, auf dem sich die Versuchsteilnehmenden frei bewegen konnten. In der näheren Umgebung befinden sich mehrere (Schnell)Restaurants, was die Häufung dieses Erlebens erklärt.

Anschließend führt der Weg westlich parallel zum Bahnhof Richtung Süden. Dabei fällt auf, dass hier V1 und V2 typische Gebäudegerüche erleben (s. Abb. 4 und 5). V1 brachte diesen Geruch in Zusammenhang mit einer Bücherei, wohingegen V2 an den Geruch einer neuen Schule erinnert wird. Den Zusammenhang zwischen Gerochenem und der Erinnerung betont auch Porteous (Porteous 1985, S. 357).

Der Ursprung des Geruchs ist hierbei zudem interessant: Während die vorherigen Geruchsquellen hauptsächlich im näheren Umfeld der Versuchspersonen angesiedelt und zumeist visuell sichtbar waren, wurden die Versuchsteilnehmenden hier vom plötzlich aus einem Lüftungsschacht austretenden Geruch überrascht (s. Abb. 11).

Kurz darauf kamen wir zum Ende der festgelegten Route. Nach einer Pause wurden die Versuchsteilnehmenden in einem Einzelgespräch aufgefordert, über die heutigen Erlebnisse zu berichten.

Reflexion und Fazit

Es zeigt sich, dass die Teilnehmenden alle recht vergleichbare olfaktorische Erlebnisse vermerkten. Die aus den Smellwalks entstandenen Karten zeichnen einen Duftweg durch verschiedene Geruchslandschaften nach, welche allesamt das Gesamtbild der Geruchslandschaft "Stuttgart 21" ergeben. Angefangen von den geruchsarmen Innenräumen des Bahnhofes, über das Geruchschaos auf dem Weg vom Bahnhofsgebäude zum Schlossgarten und die anschließende grüne Naturduftlandschaft hin zum grauen Abgaszwischenstück, an dessen Ende die anregenden orangenen Nahrungslandschaften warten. Die Teilnehmenden selbst schienen am Ende des Smellwalks überrascht über die Mannigfaltigkeit der Gerüche. Zudem scheint diese Art des Außenerlebens eine interessante Erweiterung des üblichen Erlebnisspektrums dargestellt zu haben. V5 betont beispielsweise: "Es war sehr interessant, mal mit einer anderen Sichtweise durch die Stadt zu laufen, überhaupt, weil man sonst nicht so sehr auf Gerüche achtet". V2 konnte sich nach eigenen Angaben sehr gut auf die neue Erlebnisebene einlassen: "Das war ganz interessant, weil man mehr auf den Geruch geachtet hat als sonst, aber ich würde auch sagen, dass ich allgemein sehr auf meine Umwelt oder auf diese komischen kleinen Dinge achte. Deswegen kam mir der Geruch auch sehr natürlich vor."

Es wird deutlich, dass alle Personen ein sehr subjektives Geruchserleben hatten, sei es bezüglich der Gerüche an sich, der damit verbundenen Farben sowie der damit einhergehenden Bewertung der Gerüche. Gleichzeitig zeigen sich jedoch auch Überschneidungen zwischen verschiedenen Teilnehmenden. Es scheint demnach auch hier, wie bei Schmitz beschrieben, zwischen verschiedenen Subjekten zu einem teilweise übereinstimmenden Erleben gekommen zu sein (Schmitz 2009, 14f).

Zukünftig wären weitere Begehungen interessant, insbesondere der Innenräume ohne Maske. So würden die spezifischen Gerüche des Zentrums der Bahnhofslandschaft, also den Bahnhof selbst, herausgearbeitet. Zudem wären Smellwalks in verschiedenen Bahnhöfen - nach Möglichkeit auch international - interessant, um zu erkennen, ob es einen "typischen Bahnhofsgeruch" gibt, oder ob verschiedene "Geruchsfamilien" identifiziert werden können und wie diese sich unterscheiden. Auch für Stadtplaner können diese Informationen von Interesse sein. Der Bahnhof stellt für viele Personen den ersten Kontakt mit einer Stadt dar, teilweise dienen sie selbst als Aushängeschild der Stadt. Wäre es da nicht schön, wenn dieses Schild nicht nur optisch strahlt, sondern auch dazu noch gut riecht?

Literatur

Bischoff, W. (2007). Nicht-visuelle Dimensionen des Städtischen. Olfaktorische Wahrnehmung in Frankfurt am Main, dargestellt an zwei Einzelstudien zum Frankfurter Westend und Ostend (Wahrnehmungsgeographische Studien, Bd. 23). Oldenburg: BIS-Verl. der Carl-von-Ossietzky-Univ.

Fritz GmbH Beratende Ingenieure VBI (2015): Schalltechnische Untersuchung. Unter Mitarbeit von Heike Kaiser, Katrin Endres und Peter Fritz. Online verfügbar unter www.bahnprojekt-stuttgart-ulm.de/anlieger/gutachten/immissionen/, zuletzt geprüft am 14.03.2021

Hasse, J. (2005). Fundsachen der Sinne. Eine phänomenologische Revision alltäglichen Erlebens (Neue Phänomenologie, Bd. 4). Freiburg: K. Alber.

Hasse, J. (2017). Die Abwesenheit der Phänomenologie in der deutschen Humangeographie. Geographica Helvetica 72 (3), 351-360. doi:10.5194/gh-72-351-2017

Henshaw, V. (2014). Urban smellscapes. Understanding and designing city smell environnments. New York, N.Y.: Routledge.

McLean, K. (2020). Temporalities of the Smellscape. Creative Mapping as Visual Representation. In D. Edler, C. Jenal & O. Kühne (Hrsg.), Modern Approaches to the Visualization of Landscapes (RaumFragen: Stadt - Region - Landschaft, 1st ed. 2020, S. 217-245). Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden; Springer VS.

Porteous, J. D. (1985). Smellscape. Progress in Physical Geography: Earth and Environment 9 (3), 356-378. journals.sagepub.com/doi/abs/10.1177/030913338500900303. Zugegriffen: 17. Februar 2021.

Schmitz, H. (2009). Kurze Einführung in die neue Phänomenologie (Originalausg). Freiburg: K. Alber.

Schöll, J. (2021). Darum trübt sich Stuttgarts Himmel so sonderbar gelb. Saharastaub statt Schnee, Stuttgarter Nachrichten. www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.saharastaub-statt-schnee-darum-truebt-sich-stuttgarts-himmel-so-. Zugegriffen: 17. Februar 2021.

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