Istanbul: das kulturelle Erbe der Selbstversorgung

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Istanbul Pflanzkonzepte
Gartenbau in sogenannten „Bostans“ vor einem instandgesetzten Abschnitt der Theodosianischen Landmauern. Fotos, soweit nichts anderes angegeben, Axel Timpe

Stadt und Landwirtschaft sind in ihrer Geschichte keine Gegensätze sondern Komplementäre. Neben geografisch-strategischer Lagegunst war das Vorhandensein fruchtbarer Böden eine der wichtigsten Grundlagen für die Entstehung von Städten (Lohrberg 2001, S. 91-92). In dieser Beziehung ist nicht nur das Land der Versorgungsraum der Städte, auch die Stadt gibt Waren und Nährstoffe an das Land zurück. Nahrungsmittel, Holz als Baumaterial und Energieträger, veredelte Waren und Abfälle als Düngemittel aus der Stadt bildeten einen Stoffwechsel zwischen Stadt und Land. Wenig beachtet wird jedoch, dass diese nicht nur über regionale Stoffströme miteinander verbunden waren, sondern dass auch ein unmittelbarer Austausch an der Kontaktfläche stattfand: die antike und die mittelalterliche Stadtmauer war an vielen Orten ebenso Schnittstelle wie Trennung, die Abgrenzung von Stadt und Land durch das Bauwerk weit weniger strikt als in der Rückschau vermutet (Ley 2009, S. 167-171). Zahlreiche historische Stadtansichten zeigen Landwirtschaft und Gartenbau auch auf der Innenseite der Stadtmauern. Diese Nutzung war nicht nur praktische Zwischenlösung bis zur vollständigen Bebauung des ummauerten Stadtgebietes, sie diente auch als Notnagel im Belagerungszustand und kann somit als ein Element der Resilienz in Krisensituationen interpretiert werden. In friedlichen Zeiten wurden auch die Bereiche unmittelbar vor und zwischen den Verteidigungsanlagen als Gärten genutzt, der Vorteil der Nähe zum Verbrauchsort überwog oft die Sorge um den Verteidigungsfall.

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In den meisten Städten Europas ist nur noch wenig von dieser lokalen Gartenbautradition zu finden. Die globale Vernetzung der Nahrungsmittelversorgung hat nicht nur viele regionale Stadt-Land Beziehungen gekappt, sondern auch die Orte der professionellen Nahrungsmittelproduktion in der Stadt verschwinden lassen. Bürger und Städte in Europa versuchen unter dem Schlagwort Urban Gardening die Tradition des Produktiven Gartens in der Stadt wiederzubeleben, im Fall der Stadt Andernach sogar in Verbindung mit der historischen Stadtmauer, (siehe auch S. 8). Erhalten hat sich die Gartenbautradition an Stadtbefestigungen jedoch bis heute auf der Grenze zwischen Europa und Asien: Istanbul besitzt mit seinen "bostan" genannten Stadtgärten ein herausragendes Zeugnis der Gartenbaukultur. Auch hier ist der Gemüseanbau jedoch durch die Entwicklung vermeintlich modernerer Formen städtischer Wertschöpfung bedroht.

Modernisierungswellenim 20. Jahrhundert

Die Selbstversorgung Istanbuls mit frischen Nahrungsmitteln reicht bis weit in das 20. Jahrhundert hinein. Kaldjian schätzt die Fläche der Gemüsegärten in der Stadt auf 1200 Hektar zu Beginn des Jahrhunderts und konstatiert keine drastischen Veränderungen dieser Fläche bis in die 1970er Jahre (Kaldjian 2004, S. 291). Neben der großen Anbaufläche beschreibt er die Produktvielfalt mit der Spezialisierung einzelner Stadtteile auf bestimmte Gemüsesorten. Die Lage der Bostans stand häufig in engem Zusammenhang mit dem Wasserversorgungssystem der Stadt. Wo mit geringem Aufwand Grundwasser gefördert werden konnte oder über Leitungen aus byzantinischer Zeit in die Stadt gelangte, konnten größere Anbauflächen entstehen. Offene byzantinische Zisternen wurden ebenfalls in Gemüsegärten umgewandelt. Neben den Zisternen waren auch die landseitigen Befestigungsanlagen und ihr zumindest teilweise mit Wasser gefüllter Graben wohl seit Beginn der osmanischen Zeit ein Ort für den Gemüseanbau. Diese produktiven Freiräume wurden zwischen den 1940er und 1980er Jahren nach und nach durch Freiräume mit reproduktiver oder kommerzieller Funktion wie Sport- und Erholungsflächen oder einen Marktplatz ersetzt (K?v?lc?m Çorakba?s et al. 2014, S. 38). Der Verlust der Stadtgärten geht mit verschiedenen Modernisierungswellen einher, die Istanbul im Laufe des 20. Jahrhunderts erfassen. Nachdem die Gründung der türkischen Republik in den 1920er Jahren zunächst nur einzelne Veränderungen brachte, markiert der Beginn des starken Bevölkerungswachstums in den 1980er Jahren den Auftakt größerer Flächenverluste. Das Bevölkerungswachstum der Stadtregion Istanbul setzt sich bis heute fort, 13 Millionen Menschen leben derzeit in der Stadt, ein Anstieg auf 19 Millionen im Jahr 2020 wird prognostiziert (Baser 2014, S. 15). Das starke Wirtschaftswachstum, das unter den AKP Regierungen seit 2002 in der Türkei einsetzte, bringt Istanbul einen großen Entwicklungsschub. Im Gegensatz zu früheren Gefährdungen der Bostans, die Kaldjian vor allem der Bodenspekulation und Korruption zuschreibt (Kaldjian 2004,S. 291), wird das Stadtbild nun auch durch massive Investitionen in neuen Wohnraum, Verkehrsinfrastrukturen und öffentliche Einrichtungen verändert. Öffentliche und privatwirtschaftliche Investitionen gehen dabei gleichermaßen unsensibel mit den vorhandenen städtischen Strukturen als kulturellem Erbe um. Über diesen Umgang mit dem Stadtraum entbrennt jedoch zunehmend Streit, nicht nur zwischen der Stadtbevölkerung und der oft als autoritär wahrgenommenen Regierung auf nationaler und lokaler Ebene. Auch innerhalb der Bevölkerung werden unterschiedliche Haltungen zur Stadtentwicklung deutlich. Die weltweit beachteten Proteste um die Entwicklung des Gezi-Parks im Juni 2013 sind nur die international wahrgenommene Spitze dieser Konflikte, auch an den Bostan Gärten im Umfeld der Theodosianischen Landmauern entzündete sich im gleichen Zeitraum der Streit zwischen der von oben verordneten Entwicklung zu einer als Reproduktions- und Repräsentationsraum gestalteten Parkanlage und dem Erhalt der in der lokalen Bevölkerung verwurzelten Gärten.

Welterbe Theodosianische Landmauern und lokales Kulturerbe Bostan

Die Theodosianischen Landmauern wurden zur Verteidigung Konstantinopels ab 413 n. Chr. errichtet. Mit der Befestigungsanlage vergrößerte sich die ummauerte Fläche der öströmischen Hauptstadt um etwa die Hälfte auf zwölf Quadratkilometer. Diese Flächenreserve reichte für das Stadtwachstum bis in das 20. Jahrhundert aus, so dass große Bereiche innerhalb der Stadtmauern zunächst noch für die Landwirtschaft genutzt werden konnten. Die zunächst nur von einem einfachen Mauerring gebildete Befestigungsanlage wurde ab 447 zu einem dreifachen Mauersystem mit Graben ausgebaut und folgte damit den Vorschlägen des griechischen Militärschriftstellers Philon von Byzanz (3.-2. Jh. v. Chr.) für ein ideales Verteidigungsbauwerk.

Die Mauern sind knapp sieben Kilometer lang und weisen in der äußeren Mauer 82 und in der Hauptmauer 96 Türme auf, die um 18 Meter hoch sind. Die bauliche Gesamtanlage ist etwa 70 Meter breit: außen liegt zunächst der Graben, der ursprünglich fünf bis sieben Meter tief war und abschnittsweise mit Wasser geflutet werden konnte; nach einer Brustwehr folgte eine erste 18 Meter breite Terrasse (Parateichion = Vormauerbereich), die der nachfolgenden acht Meter hohen und etwa 2,8 Meter mächtigen äußeren Mauer zugeordnet war. Zwischen dieser Mauer und der bis zu zwölf Meter hohen und fünf Meter mächtigen Hauptmauer liegt eine weitere Terrasse (Peribolos = Umfriedung), die zwischen 15 und 20 Meter tief ist. Von der Sohle des Grabens bis zur Mauerkrone erreichte die Anlage damit eine Höhe von knapp 30 Metern. Zur Befestigungsanlage gehörte stadtauswärts auch das bis zu einen Kilometer tiefe freie Schussfeld (Glacis), das im überwiegenden Teil bis heute von Bebauung freigeblieben ist, da auf diesem Vorfeld bereits zu byzantinischer Zeit Friedhöfe angelegt wurden, da Bestattungen innerhalb der Mauern untersagt waren - eine Tradition, der auch die spätere islamische Bevölkerung folgte.

Für die Bewohner von Byzanz hatten die Landmauern neben ihrer militärischen Funktion auch einen sakralen Charakter; die Jungfrau Maria galt als Schutzpatronin der Befestigungsanlage. Der fortwährende Erhalt der Mauern war eine der Hauptaufgaben der byzantinischen Verwaltung. Erst 1453, 1000 Jahre nach ihrer Errichtung, wurden die Landmauern erstürmt und Konstantinopel vom osmanischen Eroberer Mehmet II. Fatih eingenommen. Die Landmauern verloren zwar ihre unmittelbare Verteidigungsfunktion, blieben aber als Zeichen des Sieges und der Macht der neuen Herrscher erhalten und sind bis heute ohne größere Zerstörungen durch Menschenhand im Stadtbild präsent.

Seit 1985 gehören die Theodosianischen Landmauern als einer von vier Bereichen auf der historischen Halbinsel Istanbuls zum UNESCO Welterbe "Historische Areale von Istanbul". In der Beschreibung des herausragenden universellen Wertes der Welterbestätte werden die Mauern für gleich zwei von insgesamt vier Kriterien aufgeführt. So gilt zum einen ihre Referenzwirkung für den Befestigungsbau als Beispiel für einen wichtigen technologischen Kulturaustausch über mehrere Jahrhunderte hinweg (Kriterium 2). Zum anderen stellt sie ein einzigartiges Zeugnis untergegangener Kulturen dar (Kriterium 3). Von besonderer Bedeutung ist auch die Authentizität und Integrität der Anlage, die sich über die Jahrhunderte fast vollständig in ihrer originalen Bausubstanz erhalten hat. Bereits 1981 hatten die türkischen Behörden die Landmauern mit ihrem Vorfeld zum Denkmal erklärt, so dass zunächst seitens der internationalen Gemeinschaft wenig Handlungsbedarf erkannt wurde. In der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts wurden dann zunehmend die durchgeführten Restaurierungsmaßnahmen an den Landmauern bemängelt, die zu einem starken Verlust von Originalsubstanz und einer Verfälschung der ursprünglichen Baukonstruktion geführt hatten.

In der gleichen Zeit wurde vom Welterbezentrum der UNESCO zunehmend darauf gedrungen, für alle Welterbestätten Managementpläne aufzustellen und neben den Kernzonen ebenfalls Pufferzonen einzuführen, die die Denkmäler in städtebaulicher und stadtplanerischer Hinsicht schützen sollen. Bei einem Denkmal von der Größe der Landmauern mit einer mittlerweile innenstädtischen Lage kein leichtes Unterfangen, so dass bis heute noch kein entsprechendes Planwerk verabschiedet wurde. Allerdings gehören das Vorfeld der Landmauern wie auch umfangreiche altstadtseitige Flächen zur 1985 festgelegten Kernzone und stehen damit eigentlich unter besonderem Schutz.

Spätestens mit der osmanischen Eroberung, durch die die militärische Nutzung obsolet wird, beginnt auch die gärtnerische Nutzung des unmittelbaren Mauerbereiches, die in Teilbereichen bis heute vorhanden ist. Gemüsegärten finden sich vor allem im südlichen Abschnitt der Landmauern zwischen dem Mevlani Tor und der Yedikule Festung. Der ehemalige Wassergraben wird genauso für den Gemüseanbau genutzt wie die Bereiche zwischen den Mauern. Größere zusammenhängende Anbauflächen fanden sich bis in jüngster Zeit auch auf der Altstadtseite.

Der Gemüseanbau wird kommerziell auf familiärer Basis betrieben. Angebaut werden vor allem verschiedene Blattgemüse im Frühjahr und Sommer sowie Tomaten und Hülsenfrüchte im Sommer und Herbst. Feigen- und Maulbeerbäume finden sich in den Randbereichen der Bostans, ihre Nutzung erfolgt jedoch nur für den eigenen Verzehr, nicht für den Verkauf. Zwar haben moderne Hilfsmittel wie Foliengewächshäuser und einachsige Motorgeräte Einzug in die Anbauweisen gehalten, der Großteil der Arbeiten wird jedoch nach wie vor von Hand erledigt. Das Saatgut wird durch eigene Vermehrung hergestellt und ist durch lange Selektion an die Anbaubedingungen angepasst worden. Für eine Bewässerung, die haushälterisch mit dem knappen Gut Wasser umgeht, werden in den meisten Bostans für jeden Kulturdurchgang kleinteilige, durch Dämme gebildete Beetstrukturen angelegt. Der Wasserzufluss kann passgenau per Hand gesteuert werden, das in der Abbildung 5 gezeigte Wässern direkt aus der Pumpe ist die Ausnahme. Jeder der sich abschnittsweise entlang der Mauer erstreckenden Bostans besitzt einen eigenen Brunnen und einen zentralen Bereich, zumeist mit einer kleinen Laube oder einem Unterstand, schattenspendenden Bäumen und einem Wasserreservoir versehen. Hier werden Arbeitsgeräte verwahrt und gerüstet, vorbereitende Arbeiten durchgeführt, die Ware sortiert und gewaschen. Die Vermarktung erfolgt nach Aussage eines bostançi (Gärtner) über fest etablierte Beziehungen zu Restaurants und Markthändlern, die mit wenige Tage zuvor bestellten Mengen der saisonal verfügbaren Produkte beliefert werden oder diese vor Ort abholen.

Die Gärten entlang der Landmauern sind somit ein Landnutzungssystem, das als kulturelles Erbe beschrieben werden kann, dessen Eigenschaften aber zwischen materiellem und immateriellem Kulturerbe changieren. Natürlich sind die Gärten als materielles Erbe vorhanden, sichtbar und erlebbar. Die über die Auslese herausgebildeten ortsspezifischen Kultivare sind ebenfalls materiell vorhanden, ließen sich zum Beispiel in einer Saatgutbank sichern. Anders als ein klassisches Gartendenkmal mit Wegeführungen, Baumbestand und Parkbauten ist dieses materielle Erbe jedoch äußerst fragil und kann nur durch die stete, wirtschaftlich orientierte Arbeit an seiner Unterhaltung und durch die Weitergabe des Wissens um Kultivierungstechniken, Ressourcennutzung und Vermarktungswege erhalten werden. Lässt sich ein Gartendenkmal aus historischen Plänen, noch vorhandenen Gehölzen oder archäologischen Befunden rekonstruieren, so beruht das Landnutzungssystem als Kulturerbe fast ausschließlich auf der mündlichen Weitergabe von Wissen, den Akteursbeziehungen innerhalb der örtlichen Gemeinschaft und der kontinuierlichen Aktivität in der Bewirtschaftung. Eine Unterbrechung von einer Generation bedeutet den Verlust des relevanten Wissens, eine Unterbrechung von wenigen Jahren kann bereits den Verlust von Teilen der Agrobiodiversität im System bedeuten.

Dass dieses System durchaus Wandel verträgt, zeigt hingegen seine Einbindung in die Migrationsgeschichte der Türkei. Griechen, Armenier, Bulgaren und Albaner lösten einander als wichtigste Gruppen im Gartenbau in Istanbul ab (Kaldjian 2004, S. 292-293). Türkische Migranten aus der Schwarzmeerregion kamen zunächst als Arbeitskräfte in die Bostans und übernahmen diese, als sich die bisherigen Besitzer aus dem Gartenbau oder der Türkei zurückzogen. Bis heute haben die Gartenbesitzer entlang der Landmauern ihren familiären Hintergrund alle in der gleichen Stadt. Kooperationen unter Nachbarn sind nach eigener Aussage zwar selten, sollten die eigenen Kinder den Gartenbau jedoch nicht weiterführen wollen, so wird das Land innerhalb der Community weitergegeben. Der Generationswandel ist dabei durchaus ein Thema: "Ich mache diese Arbeit gerne, aber meine Kinder sollen etwas anderes lernen´," bemerkt einer der Gärtner im Gespräch.



Aktuelle Bedrohung der Bostans und Potenziale für die Zukunft

Bis heute konnten sich die Bostans entlang der Landmauern als traditionelle Nutzung erhalten. Sie profitieren dabei vom Schutzstatus der Mauern, blieben sozusagen im Schatten des Welterbe-Status von Eingriffen verschont. In den letzten Jahren erweist sich diese Symbiose zwischen Welterbe und lokal verwurzelter Tradition jedoch als brüchig.

Zuerst hat der Druck auf dem Immobilienmarkt einen Teil der intra-muros gelegenen Gartenbauflächen in der Pufferzone des Welterbes durch Luxusimmobilien verdrängt. Gärten, die zwar privat bewirtschaftet waren, von deren Wirkungen als grüner Freiraum jedoch der ganze Stadtteil profitierte, haben einer Gated Community Platz gemacht. Zusätzlich werden die Bostans durch öffentliche Vorhaben in ihrer Existenz bedroht. Der Stadtbezirk Fatih plant entlang der Landmauern einen Park, dessen Gestaltung sich aus einem formalen, globalisierten Vokabular der Landschaftsarchitektur speist. Parallel zu den Protesten um den Gezi-Park im Juni 2013 rollten auch entlang der Landmauern Bulldozer an. Begleitet von Protesten räumten sie innerhalb weniger Stunden eine jahrhunderte alte Gartenkultur ab. Ein künstlicher Wasserlauf, geschwungene Wege, Spiel- und Sportflächen sollen das Landnutzungssystem, dass mehrere Jahrhunderte Erfahrung im Umgang mit den lokalen Ressourcen aufweist, ersetzen, die Nachbarschaft in der Logik einer größtmöglichen Immobilienrendite aufwerten. Ob der plötzliche Baubeginn für einen neuen Park an den Landmauern auch eine Reaktion, ein Beruhigungsversuch für die Proteste gegen den Verlust des Gezi-Parks war, kann spekuliert werden. Viele Bürger sehen darin ein weiteres Zeichen für behördliche Willkür, aber nicht alle stehen einem Park negativ gegenüber. Manche versprechen sich auch eine Verbesserung ihrer Lebensqualität durch die von westlichen Fortschrittsbildern geprägten Planungen.

Bislang sind von den baulichen Veränderungen entlang der Landmauern nur die angrenzenden altstadtseitigen Areale betroffen, die Gärten auf den Terrassen der Befestigungsanlage und dem aufgefüllten Graben sind verschont geblieben.

Rechtlich ist ihr Status jedoch ebenfalls nicht abgesichert. In den Managementplänen für das Welterbe finden sie keine Erwähnung, die Pachtverträge für die ansässigen Gärtner beruhen allein auf Gewohnheitsrechten ohne schriftliche Fixierung und können jederzeit beendet werden. Neue Ideen und Projekte für die Landmauern können auch für diesen Teil der Gartenbaukultur ein schnelles Ende bedeuten. Um sie langfristig zu erhalten sind zwei grundlegende Bewusstseinsänderungen notwendig: die Bostans müssen als lokales kulturelles Erbe Eingang in die Bemühungen zum Schutz des Welterbes Theodosianische Landmauern finden und ihre Bedeutung als Freiraum, der nicht nur zufällig das Welterbebauwerk begleitet, sondern eine darüber hinausgehende Bedeutung als Teil einer Grünen Infrastruktur für Istanbul besitzt, muss Eingang in die Planungen der Stadt finden.

Die Bemühungen zum Schutz der Landmauern im Welterbe bezogen sich bislang vorrangig auf das Bauwerk selbst - mit nicht immer zufriedenstellendem Erfolg. Dies wird der großen Aufgabe, des Erhalts der antiken Befestigungsanlage mit ihrer gesamten Geschichte jedoch nicht gerecht. Auch das Vorfeld der Mauern und ihr Anschluss an die Stadtstruktur der Altstadt gehören zu den Erhaltungszielen. Dabei auf das funktionierende Landnutzungssystem der Bostans, das seit Jahrhunderten mit den Mauern verbunden ist, zurückzugreifen, kann eine angemessene Lösung darstellen, die das Welterbe in der lokalen Bevölkerung und ihren Traditionen verankert. Zudem gehören die Bostans mit ihrer über 500 Jahre alten Geschichte, die von der Zivilisierung des militärischen Bauwerks zeugen, als ein authentischer Bestandteil zur Integrität der Welterbestätte - als ein "living heritage". Ein Management Plan für das Welterbe, der den Erhalt des Landnutzungssystems durch die Zusammenarbeit mit den relevanten Akteuren einbezieht, könnte in diesem Bereich daher mit vergleichsweise geringem Aufwand sogar schneller zu Erfolgen führen als die bisherigen Schutzmaßnahmen.

Die übergeordnete Bedeutung der Landmauern wird auf der Ebene der gesamten historischen Halbinsel deutlich. Gemeinsam mit den Freiräumen entlang der Küstenlinie können die Landmauern einen Ring als grüne Infrastruktur bilden, den dieser dicht besiedelte Teil der Stadt dringend benötigt. Die Bostans können zusammen mit anderen grünen Freiräumen im Mauervorfeld wie den historischen Friedhöfen oder den zeitgenössischen Parks ein Teil dieses Ringes werden.

Besondere Bedeutung kommt ihnen dadurch zu, dass sie neben den gängigen Funktionen städtischer Freiräume wie der Erholung oder der Kaltluftbildung und Durchlüftung auch ein funktionierendes System der Ressourcenbewirtschaftung in den Bereichen Wasser, Boden und Nahrungsmittel mitbringen. Keine der neu geschaffenen Parkanlagen im Umfeld kommt ohne Bewässerung aus, in den Bostans hingegen wird diese nicht nur zur Erhaltung, sondern auch zur Produktion eingesetzt. Ein kulturell aufgeladenes Vegetationsbild entsteht dabei ohne weiteren Aufwand für die öffentliche Hand. Die weltweit, sowohl in Entwicklungs- und Schwellenländern als auch in Industrieländern zu beobachtende Hinwendung zur Nahrungsmittelproduktion im städtischen Raum könnte hier auf Wurzeln gedeihen, die Jahrhunderte zurückreichen und ließe sich auch in anderen Bereichen des Grünen Ringes als zeitgenössisches Urban Gardening ausweiten - wenn natürlich auch nicht immer im Schatten eines Welterbes.

Literatur

Baser, Bahar (2014): The Historical Traces of Agrarian Culture in Istanbul: Bostans of Old City Walls. In: Axel Timpe (Hg.): Summer School. Theodosian Walls & Urban Agriculture ; Istanbul 20.-25.05.2013/Chair of Landscape Architecture, Faculty for Architecture RWTH Aachen University. Aachen: Lehrstuhl für Landschaftsarchitektur, S. 15-16.

Istanbul Site Management Directorate (2011): Istanbul Historic Peninsula. Site Management Plan, October 2011. www.alanbaskanligi.gov.tr/english/files/Management_Plan_090312_TUM.pdf, zuletzt gesehen am 12.07.2014.

Kaldjian, Paul J. (2004): Istanbul's Bostans: A Millennium of Market Gardens. In: Geographical Review 94 (3), S. 284-304. DOI: 10.2307/30034275.

K?v?lc?m Çorakba?, Figen; Aksoy, Asu; Ricci, Alessandra (2014): A report on the concern of the conservation issues of the Istanbul Landwalls World Heritage site. With a Special Focus on the Yedikule Historic Vegetable Gardens. Istanbul.

Ley, Karsten (2009): The Urban Matrix : Towards a Theory on the Parameters of Urban Form and their Interrelation. Zugl.: Aachen, Techn. Hochsch., Diss., 2009, Aachen.

Lohrberg, Frank (2001): Stadtnahe Landwirtschaft in der Stadt- und Freiraumplanung. Zugl.: Stuttgart, Univ., Diss., 2001, Norderstedt.

UNESCO 2009: Report on the joint UNESCO World Heritage Centre/ICOMOS reactive monitoring mission to the World Heritage site of Historic Areas of Istanbul from 27. to 30. April 2009. whc.unesco.org/document/102199, zuletzt gesehen am 12.07.2014

UNESCO 2013: World Heritage Centre and ICOMOS Joint Reactif Monitoring Mission Report, Historic Areas of Istanbul, 19.-23. November 2012. whc.unesco.org/document/123045, zuletzt gesehen am 12.07.2014

Dr. Karsten Ley
Autor

Akad. Rat a.Z., Fakultät für Architektur der RWTH Aachen University, Lehrbeauftragter für das Fach Stadtbaugeschichte, ICOMOS-Experte

Dr.-Ing. Axel Timpe
Autor

Landschaftsarchitekt AKBW, stellvertretender Institutsleiter am Institut für Landschaftsarchitektur der RWTH Aachen University

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