Kassels Plätze und Parks waren 100 Tage Kulisse für Zeitgenössisches

Grüne Kunst der documenta fifteen

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documenta Veranstaltungen
Abb. 1: Das Logo der documenta (es gab mehrere Varianten davon) mit seinen verschiedenen Händen versinnbildlichte den indonesischen Gemeinschaftsgedanken "lumbung" (eine gemeinsam genutzte Reisscheune), Leitmotiv und Motto des Kuratorenkollektivs ruangrupa aus Jakarta für die doc15. Abb.: documenta fifteen 2022

Seit ihrem Bestehen hat die documenta in Kassel auch polarisiert, provoziert und Zeichen gesetzt. Bei ihrer 15. Auflage im Sommer dieses Jahres gab es von Beginn an, auch schon in der Eröffnungsrede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier Antisemitismus-Vorwürfe, zunächst nur, weil keine israelischen Künstler*innen auf der documenta vertreten waren. Kurz danach kam es zuerst zur Verhüllung, dann zum Abbau eines großflächigen Bildwerks mit antisemitischen Inhalten im öffentlichen Raum und es sollten längst nicht die einzigen Probleme bleiben.

Doch jenseits dieser bisweilen bizarr anmutenden Vorgänge und Diskussionen wurden tatsächlich auch moderne Bilder, Objekte und Skulpturen, darunter auch viele im öffentlichen Freiraum gezeigt. Die documenta gilt als die weltgrößte Ausstellung zeitgenössischer Kunst und findet nur alle fünf Jahre statt. Neben Werken in klassischen Museen und Ausstellungshallen gehört auch "grüne Kunst" immer zum Programm. Die Inszenierung im öffentlichen Raum und das Wechselspiel mit Kassels Plätzen, Park- und Grünanlagen ist ein integraler Bestandteil jeder Schau, so auch bei der "documenta fifteen" vom 18. Juni bis 25. September 2022.

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Vom "Beiwerk" zur Eigenständigkeit

Als Begleitprogramm zur Bundesgartenschau 1955 in Kassel ins Leben gerufen war die documenta ursprünglich nur für dieses eine Mal konzipiert worden. Schon damals gab es neben den Ausstellungen in Museen und Skulpturen im eigentlichen Gartenschaugelände auch viele Kunstwerke im öffentlichen Raum zu sehen. Die erste documenta unter der Leitung von Arnold Bode wurde, ganz im Sinne einer Dokumentation veranstaltet, die jene Moderne Kunst zeigte, die im Nationalsozialismus als "entartet" galt und verfemt war. Mit der documenta sollte die Bevölkerung wieder an zeitgenössische, vielfach abstrakte Kunst herangeführt werden.

Danach ist sie eine eigenständige Veranstaltung, zunächst im Vier- dann (seit 1977) im Fünfjahresrhythmus geworden. Mit der künstlerischen Leitung der "documenta fifteen" 2022 wurde das Kollektiv ruangrupa aus Indonesien betraut und damit seit 50 Jahren erstmals nicht an eine alleinverantwortliche Person. Das Kollektiv aus Jakarta hat der documenta die Werte und Ideen von lumbung zugrunde gelegt, dem indonesischen Begriff für eine gemeinschaftlich genutzte Reisscheune. Als künstlerisches und ökonomisches Modell fußt lumbung auf Grundsätzen wie Kollektivität, gemeinschaftlichem Ressourcenaufbau und gerechter Verteilung und verwirklicht sich in allen Bereichen der Zusammenarbeit und Ausstellungskonzeption.

Auch in diesem Jahr waren in Nordhessens Metropole wieder viele Kunstwerke ausgestellt, die den öffentlichen Raum, Straßen, Plätze und Parkanlagen prägen, auch Kunst, die aus Grün besteht, die Grün inszeniert oder mit Grün, etwa essbaren Pflanzen arbeitet. Hinzu kamen Objekte und Skulpturen vor der Orangerie und in der davorliegenden barocken Karlsaue.

Öffentlicher Raum für Kunst

Schon immer seit es Städte gibt wurden ihre Plätze und Straßen ausgeschmückt, mit Denkmälern, Schmuckbepflanzung oder Kunst in Form von Skulpturen, Wandmalereien und Ähnlichem. Auch in Kassel hat diese outdoor Kunst - die immer ganz ohne Eintritt oder Beschränkungen angeschaut werden konnte - eine lange Tradition im Rahmen der documenta.

Auf der Fassade der C&A Filiale am Opernplatz zeigte das indonesische "Institut für bürgernahe Kultur Taring Padi" (letzteres bedeutet "die Reisszähne") 2022 ein großformatiges Banner, das sich als Gemälde für Demokratie und gegen Ausbeutung einsetzt. Vor 1945 befand sich an dieser besonderen Stelle das elegante Palais Waitz von Eschen, das ab 1770 als repräsentatives Stadtschloss erbaut und im Zweiten Weltkrieg zerstört worden war. Heute fügt sich eine schlichte, schmucklose Fassade in das Stadtbild ein mit einer Straßenbahnhaltestelle davor. An den alten Glanz und daran, warum der Platz eigentlich Opernplatz heißt, erinnert allein das auf dem Platz noch verbliebene Denkmal für Louis Spohr. Er war im 19. Jahrhundert Hofkapellmeister und Komponist an der Kasseler Oper. Das Unternehmen C&A profitierte wie viele deutsche Unternehmen im Nationalsozialismus von der Enteignung jüdischen Besitzes und Zwangsarbeit. Die Firma stand auch schon wegen schlechter Arbeitsbedingungen in seiner globalen Textilproduktion in der Kritik. Heute beteiligt sich C&A selbst an der Kampagne "Aktiv gegen Kinderarbeit" und gilt als großer Abnehmer von Bio-Baumwolle. Fassade, Banner, Denkmal und Platz bilden gemeinsam ein Gesamtkunstwerk mit Potenzial zum Nachdenken.

Auf den Rasenflächen vor dem Staatstheater hatte die gleiche Künstlergruppe 1000 lebensgroße Pappkartonpuppen (wayang kardus) aufgestellt. Sie gehören zu den verschiedenen künstlerischen Ausdrucksmitteln von Taring Padi. In Deutschland, Indonesien, den Niederlanden und Australien fanden im Vorfeld der documenta Workshops statt - etwa mit Geflüchteten, Straßenkünstlerinnen und -künstlern oder Lernenden. Dabei standen vor allem sozialpolitische Themen im Fokus, wie Wohnen, Ernährung oder Fremdenfeindlichkeit. Die Vergänglichkeit der Figuren aus Pappe wird dabei bewusst in Kauf genommen.

Einen Teil des offiziellen Rahmenprogramms zur documenta steuert diesmal der BDA (Bund Deutscher Architekten) bei. Auf dem Platz vor der documenta-Halle mahnt das "Kohlemuseum" in Form eines aus Briketts aufgestapelten, begehbaren Würfels, umgehend aus der Verbrennung fossiler Stoffe auszusteigen. Im Innern ersetzen schon Bambuspflanzen als nachwachsende Rohstoffe die schwarzen Steine, oder durchdringen diese. "Kohle, sofort ins Museum", sagen die Autoren (Architekten Christoph Hesse, Barbara Ettinger-Brinckmann, Stolle Gartenbau und Kalhöfer Landtechnik) und nicht erst 2038, wie es der deutsche Gesetzgeber bisher vorsieht.

Mahnmale - Kunst aus Grün

Auch Pflanzen selbst wurden in Kassel zur Kunst, wie bei den zwei schwimmenden Gärten am Bootsanleger Ahoi. Die slowakische Künstlerin Ilona Németh griff ihre "Floating Gardens" (schwimmende Gärten) von 2011 noch einmal auf und positionierte die beiden je 3,5 x 4,5 Meter großen Gärten in schwimmenden Polypropylen-Elementen auf der Fulda. Der "Healing Garden" (Heilender Garten mit Kräuter- und Heilpflanzen) und der "Future Garden" (Zukunftsgarten für den Klimawandel, mit resilienten Pflanzen) wurden von verschiedenen Menschen, die sich darum bewerben konnten, gepachtet (entgeltlos) und bis zum Ende der documenta gepflegt. So hatte auch dieses Projekt für die Gesamtdauer von 100 Tagen eine interaktive Komponente.

Unterhalb der documenta Halle war eine Installation aus typisch indonesischer Leichtbauarchitektur aufgebaut. Das lumbung Mitglied Britto Arts Trust lud zu dem künstlerischen Kochprojekt PAKGHOR, "the social kitchen" ein. Das Kollektiv hatte eine Freiluftküche in der Mitte ihres PALANs, eines Gartens errichtet. In Hochbeeten wuchsen hier etwa Tomaten, Gurken, Bohnen und andere Nutzpflanzen, flankiert von Pergolen, Pavillons und Rankseilen. Die Teilnehmenden eines PAKGHOR kommen um einen gedeckten Tisch zusammen, der auch mit Geschichten, Erinnerungen und Freundschaft angereichert ist. Am Ende der documenta wurde vor Ort geerntet und mit diesen Früchten gekocht, auch unter Einbeziehung von Besuchenden, die sich vorab bewerben konnten. Aber auch Spontanteilnahmen waren möglich, je nach Verfügbarkeit von Plätzen und Essensportionen. Aus der Dokumentation aller Veranstaltungen soll später eine Rezeptsammlung entstehen, die auch als E-Book herauskommen soll.

Das Gewächshaus der Parkverwaltung in der Karlsaue forderte mit einer eindringlichen Bildsprache dazu auf, über den Klimawandel nachzudenken. Die Kulturstiftung MAMA (Más Arte Más Acción) bringt an der Pazifikküste Kolumbiens Menschen aus Kunst, Wissenschaft und Literatur sowie Aktivistinnen und Aktivisten zusammen, die sich dieses Themas annehmen. In Kassel zeigte MAMA im Glashaus auf dem Betriebshof der Parkverwaltung eine Multimedia-Installation. In der Mitte des transparenten Gebäudes lagen gestapelt Baumstämme, fast wie aufgebahrt, darunter vor allem Schadholz (Dürre, Borkenkäfer, etc.) aus den Wäldern des Hessenforstes. Hinzu kam eine Sound-Collage mit Waldgeräuschen, aber auch Lärm von Motorsägen. Der Wald stirbt, langsam aber kontinuierlich. Das Kunstwerk war eine Art Mahnmal.

Kunst goes Karlsaue - Installationen im Grünen

Bei jeder documenta wird auch ästhetische Kunst in Parkanlagen und Grünflächen so ausgestellt, sodass sich beides gegenseitig inszeniert. In Kassel ist es vor allem die Karlsaue, die dann zu weitläufigen Kunst-Spaziergängen einlädt. Auf der Karlswiese, direkt vor der Orangerie, stand in diesem Jahr eine Art Nomadenzelt aus Jute. Das chinesische Künstlerduo Cao Minghao und Chen Jianjun aus Chengdu, zeigte im Inneren ein Video zur aktuellen sozioökologischen Realität der Wasserknappheit, die Menschen, Tiere und Pflanzen sterben lässt. Die Ursachen dafür liegen oft ganz woanders in der Welt.

Die Künstler Cinema Caravan und Takashi Kuribayashi (Japan) waren mit Kleinarchitekturen aus Holz und Moskitonetzen, einer Kräutersauna und einem Open-Air-Kino präsent. Die Karawane ist hier Modell einer Gemeinschaft, in der sich der Einzelne seine Autonomie bewahrt, aber dennoch mit anderen zu einer Gemeinschaft zusammenwächst.

The Nest Collective aus Nairobi machte mit ihrem großformatigen Werk "return to sender" auf den Transport von Müll, Elektroschrott und Textilien in die Länder des Globalen Südens aufmerksam. Während diese Art von Mülltrennung und "Recycling" die Absender entlastet - bei gutem Gewissen - führt sie bei den Empfängern häufig zur Zerstörung der Umwelt und der Ökonomie. Deshalb meint das Künstler-Kollektiv: "Zurück an den Absender". Zentrum der Installation war ein aus Stoffballen und Gerüsten erstellter Raum, in dem per Video die Zusammenhänge (auf Englisch) erklärt worden waren.

Weiter westlich in der Karlsaue, nahe des Gewächshauses befindet sich auch ein Komposthaufen beziehungsweise ein Totholzplatz, der von den Landschaftsgärtner*innen der Museumslandschaft Hessen Kassel genutzt wird. In diesem "wilden" Bereich, der nicht von Menschen gestaltet ist, hatte das 14-köpfige Kollektiv La Intermundial Holobiente einen "Lebensraum" für ihre Publikation "The Book of the Ten Thousand Things" geschaffen. Das Großkunstwerk bestand aus einem Bohlenweg, einem Bauwagen und einem riesigen Banner mit einer Waldkulisse, das quer über die Szenerie gespannt war. Menschen, nicht-menschliche Akteurinnen und Akteure sollten den Besuchenden hier eine "kontemplative, entspannende Erfahrung" ermöglichen. Zugleich mahnte das Banner, die reale Natur nicht zu zerstören, sodass am Ende nur noch eine gemalte Ersatznatur verbleibt.

Weitere BDA-Objekte, hier alle aus Holz, besetzten wichtige Schnittpunkte, Achsen und Kreuzungen in der barocken Karlsaue. So etwa vier "Stühle" im Birkenrodell, die Installation "MARIA" aus stehenden Baumstämmen oder eine Art luftiges Gebäude aus tausenden Holzlamellen.

Nur 100 Tage - Und was bleibt?

Auch wenn die documenta als vorübergehendes "Museum der 100 Tage" bezeichnet wird, verbleiben durch Ankauf nach Empfehlung einer Kommission, immer einzelne Werke dauerhaft in Kassel, so etwa das Projekt "7000 Eichen" (doc7, Joseph Beuys, 1982) das mehrere Jahre zur Realisierung beanspruchte und die "Stadtverwaldung" anstrebte. Neben jeder gepflanzten Eiche in Alleen, Parks oder auf grünen Stadtplätzen wurde jeweils eine Basaltstele platziert.

Die Stadt Kassel erwirbt nach jeder documenta stets ein oder mehrere Objekte, oft auch für den öffentlichen Freiraum. Darunter waren etwa die überdimensionale Spitzhacke in der Fuldaaue (doc7, Claes Oldenburg, 1982), die Herkules vermeintlich auf seinem Sockel von der Wilhelmshöhe geworfen hatte, oder der "Himmelsstürmer"/"Man Walking to the Sky" (doc9, Jonathan Borofsky, 1992). Er zierte während der damaligen documenta den Friedrichsplatz und erhielt dann 1995 seinen endgültigen Standort auf dem Platz vor dem Hauptbahnhof.

Ein Obelisk aus Beton mit der Aufschrift "Ich war ein Fremdling und Ihr habt mich beherbergt" (doc14, nach einer Idee des nigerianischen Künstlers Olu Oguibe, 2017) stand zunächst auf dem kreisrunden Kasseler Königsplatz, der "guten Stube" der Stadt. Der Schriftzug in Deutsch, Türkisch, Englisch und Arabisch ist auf den vier Seiten des 16 Meter hohen Monuments zu lesen und thematisiert Flucht und Verfolgung. Nach jahrelanger Diskussion steht der Obelisk heute zwischen rahmenden Bäumen in der Achse der Treppenstraße, Kassels erste Einkaufsstraße der 1950er Jahre.

Kritik, Bilanz, Ausblick

Gleich zu Beginn der documenta fifteen war das Künstlerkollektiv in die Kritik geraten, auch das ist alle fünf Jahre fast Routine. Jede documenta war auf ihre Art umstritten und stets auch politisch, sie nahm aktuelle Themen auf und blieb durchweg dem Beuys' schen Motto treu: Kunst liegt immer im Auge des Betrachters. Die Bevölkerung der Gastgeberstadt nahm auch die doc15 wie immer offen und mit großer Gelassenheit auf. Sie beteiligte sich auch selbst mit spontaner Kunst.

So wurde im Garten des Naturkundemuseums Ottoneum ein Bienenkasten "auf sehr hohem Niveau" aufgestellt, ein Eyecatcher und kleiner Beitrag für den Erhalt der Insekten. Und unweit davon, in der Treppenstraße, fanden sie eine neu angelegte, reich blühende Blumenwiese, ganz im Sinne der Biodiversität. Musizierende in den Straßen und Kunstschaffende aller Art bevölkerten auch außerhalb des offiziellen Programms die öffentlichen Räume, Plätze und Parks. Viele Veranstaltungen und Führungen begleiteten zudem die documenta. Vor allem an den Wochenenden herrschte großer Andrang.

Bis zum Schlusstag am 25. September hatten mehr als 738.000 Menschen aus 86 Ländern die documenta in Kassel besucht. Der Vergleich zu 2017 ist insofern schwierig, weil die documenta damals in Athen und Kassel (an beiden Standorten mehr als 1 Million Besuchende) stattfand. Die Zahlen für Kassel allein sind nur leicht rückläufig, wofür neben der Antisemitismus-Debatte auch immer noch Corona ein gewisser Grund der Zurückhaltung war. Die nächste documenta, dann wieder mit nur einer Kuratorin oder einem Kurator, wie viele heute schon mutmaßen, findet wieder von Juni bis September 2027 in der nordhessischen Metropole statt.

Anmerkungen

Quellen, Künstler, Kunstwerke, Ausstellungsorte und weitere Informationen unter:

Dipl.-Ing.(FH) Thomas Herrgen
Autor

Landschaftsarchitekt

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