Stefan Gelbhaar, Bündnis 90/Die Grünen, im Gespräch mit Stadt+Grün

"Mehr Gleichberechtigung im Straßenverkehr notwendig“

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Fußverkehr Freiraumplanung
1 "Wenn auf einer Straße konkret aufgeteilt werden soll, wo die Autos und wo die Fahrräder fahren, dann lautet für mich die handlungsleitende Frage: Welche Variante trägt dazu bei, den Verkehr zu vermeiden, zu verlagern und zu dekarbonisieren?" Foto: Erik Markquardt 2019

Die Gartenamtsleiterkonferenz möchte sich mehr in die Diskussion um die Mobilitätswende, einbringen. Stadt+Grün befragt hierzu den verkehrspolitischen Sprecher der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag. Fragen von Mechthild Klett

Eine Verkehrswende, einige sprechen auch von Mobilitätswende, hin zu mehr öffentlichen und nachhaltigen Verkehrsmittel, die ohne CO2 oder SO2-Ausstoß auskommen, ist nicht erst seit der Energiekrise auf der Agenda vieler Kommunen. Inzwischen werden die Planungen konkret, vor allem werden Radwegenetze geplant. Die Kosten hierfür sind aber sehr hoch. Wie kann der Bund hier flankieren?

Der Bund kann die Verkehrswende in Kommunen durch Förderprogramme anschieben. Davon gibt es einige, insbesondere für den Radverkehr, etwa zum Bau von Radschnellwegen und anderer Radinfrastruktur wie Fahrradparkhäuser. Es gibt aber zum Beispiel auch ein Förderprogramm zur Anschaffung von E-Bussen. Darüber hinaus können Kommunen für mittelgroße und große Projekte im Bereich ÖPNV - etwa eine neue Straßenbahn - Gelder, die über das sogenannte Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz geregelt sind, erhalten. Dazu gibt der Bund den rechtlichen Rahmen vor, etwa durch die Straßenverkehrsordnung (StVO). Darin wird das Zusammenspiel der verschiedenen Verkehrsmittel geregelt, und in den letzten Jahrzehnten ist dabei das Auto mit massiven Privilegien ausgestattet worden, die heute nicht mehr zeitgemäß sind. Denn immer mehr Menschen wollen sicher, komfortabel und zügig auch ohne Auto von A nach B kommen. Daher braucht es hier mehr Gleichberechtigung - und das ist auch so im Koalitionsvertrag vereinbart. Der Verkehrsminister hat angekündigt, hier bald eine Reform vorzulegen. Wir machen da Druck.

Was ist mit der Entwicklung von Fahrradwegesystemen, die ganze Regionen vernetzen, die sogenannten Fernfahrradwegen?

Auch diese werden vom Bund gefördert. Die Förderung ist auch nicht mehr ganz neu, so dass immer mehr Planungen und baureife Projekte in die Umsetzung gelangen.

Die spannende Frage ist häufig, wo genau verläuft künftig ein Fahrradweg, soll es mehr Fußgängerzonen geben, wohin mit dem Autoverkehr? Es gibt diese klassischen drei Verkehrsteilnehmer*innen, die in Konkurrenz zu einander stehen. Wie kann man diese Konflikte auflösen? Damit verbunden ist die Frage der politischen Prioritäten, welche Art von Verkehrswegen soll Vorrang haben / prioritär ausgebaut werden?

Eine Konkurrenz um Flächen wird es wohl immer geben, gerade in Ballungsräumen. Schließlich sind alle Verkehrsteilnehmenden an möglichst viel Raum, Komfort und Sicherheit interessiert. Deshalb müssen die begrenzt verfügbaren Flächen fair auf die verschiedenen Verkehrsträger aufgeteilt werden.

Mit Blick auf die vorwiegend autozentrierte Politik der letzten Jahrzehnte gilt es, ein enormes Ungleichgewicht zu beheben: Viele Menschen sind seit langem nicht frei in ihrer Wahl der Mobilität. Sie finden eine Infrastruktur vor, die dem Auto Vorrang vor Allem gibt und insbesondere in ländlichen Räumen häufig nur das Auto als praktikables Mittel der Fortbewegung zulässt. Deshalb braucht es nun prioritär eine Stärkung der Infrastruktur für Fuß-, Rad-, Bus- und Bahnverkehr. Das heißt gerade nicht, dass wir das Straßennetz verkommen lassen dürfen, Instandhaltung und wo nötig Sanierung ist vielmehr elementar. Aber: wir haben in Deutschland schon eines der dichtesten Straßennetze der Welt. Also: Schiene vor Straße, Sanierung vor Neubau. Die Rahmedetal-Brücke bei Lüdenscheid zeigt genau dieses Problem: Der Verfall von Infrastruktur. Zu lange wurde von der Substanz gezehrt, jetzt kommt die Quittung. Deshalb muss die Sanierung von Infrastruktur jetzt angegangen werden. Es hilft ja nichts, das Bändchen für eine neue Straße durchzuschneiden, wenn just hinter einem die Brücke zerbröselt.

Daraus folgt ja die Frage: nach welchen Grundsätzen sollte Verkehrspolitik betrieben werden?

Meine verkehrspolitischen Grundsätze sind dabei einfach: 1. Mehr Mobilität bei weniger Verkehr anstreben. 2. Verkehr vermeiden, verlagern und dekarbonisieren.

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2 "Der Bund kann die Verkehrswende in Kommunen durch Förderprogramme anschieben." Foto: Büro Stefan Gelbhaar

Das ist dann auch eine Antwort auf die Flächenkonkurrenz: Wenn sich etwa mehr Menschen Verkehrsmittel teilen und den Individualverkehr damit verringern, ist für letzteres der Bedarf an Infrastruktur auch geringer, es bleibt mehr Raum für andere. Wenn auf einer Straße konkret aufgeteilt werden soll, wo die Autos und wo die Fahrräder fahren, dann lautet für mich die handlungsleitende Frage: Welche Variante trägt eher dazu bei, Verkehr zu vermeiden, zu verlagern und zu dekarbonisieren? Wahrscheinlich die Variante, die dem Rad mehr Raum gibt. Aus diesen Gründen werden zum Beispiel Parkplätze in den Innenstädten umgewidmet - zu Aufenthaltsflächen, Grünflächen oder Fahrradstellplätzen. Das geschieht nicht, um Autofahrer*innen das Leben schwer zu machen, sondern um Menschen zu Fuß oder auf dem Rad das Leben zu erleichtern. Das geschieht auch, um die Umwelt- und Klimabilanz des Verkehrs zu verbessern und damit die Lebensqualität aller Menschen vor Ort.

Jenseits der Aufteilung von Infrastruktur entstehen Konflikte zwischen den Verkehrsteilnehmer*innen natürlich auch durch individuelles Verhalten. Ein wunderbares Beispiel ist hier die niederländische Stadt Drachten: Alle Verkehrsschilder wurden im Zentrum entfernt, der öffentliche Raum steht Allen gleichermaßen zur Verfügung, ohne formelle Reglementierung. Und es funktioniert! Die Unfallzahlen gingen deutlich zurück. Weil die Menschen dort Rücksicht aufeinander nehmen. So braucht es neben einer gerechteren Verteilung des begrenzten Raumes auch einen friedlicheren Umgang der Menschen miteinander, um Konflikte zu vermeiden.

Die Straße müsste neu aufgeteilt werden, Autofahrerinnen müssten auf Platz zugunsten von Rad- und Fußwegen verzichten. Wie könnte die Akzeptanz für diese Lösungen erhöht werden? Wo gibt es dazu best practice Beispiele?

Der Ausbau von Rad- und Fußwegen fördert zusammen mit dem Ausbau des ÖPNV, eine Mobilität jenseits des Autos und entlastet damit den Autoverkehr auf den Straßen. Verkehrswende heißt für mich auch, zukünftig entspannter mit dem Auto von A nach B zu kommen. Manche Debatten hierzu wirken etwas schräg: Natürlich nutzen viele Autofahrer*innen auch das Rad - und gehen auch zu Fuß. Wer sich im Auto vielleicht ärgert, wenn auf einer Straße eine 2. Fahrspur zum Radweg umgewidmet wurde, wird auf der gleichen Strecke bei einer Radfahrt vermutlich sehr glücklich über den zusätzlichen Platz und die zusätzliche Sicherheit sein.

Das Auto ist nach wie vor für manch einen identitätsstiftend. Hier werden Debatten oft emotional und teils auch mal irrational geführt. Beispiel Brandenburger Tor: In den 1990er Jahren ging ein Aufschrei durch Berlin, als der Senat den KFZ-Verkehr durch das Tor beenden wollte, um einen öffentlichen Platz zu schaffen. Berlin drohe ein Verkehrskollaps und Chaos im gesamten Zentrum, wetterte die Opposition. Tatsächlich ist einer der Orte der Innenstadt entstanden, wo Menschen länger verweilen, lächeln, und der Verkehr fließt eben drum herum oder unten drunter (mit der S-Bahn z. B.).

Ähnlich aufgeladene Debatten erleben wir heute in Berlin beim Thema autofreie Friedrichstraße. Nicht zuletzt geht es bei der fairen Verteilung des Raumes auch um ein faires Maß an Sicherheit: Fußgänger*innen sind die schwächsten Teilnehmenden im Verkehr, sie haben keine 2 Tonnen Stahl um sich, die mit 200 PS beschleunigt werden können. Deshalb müssen deren Bedürfnisse im Vordergrund stehen und eine Straße von außen nach innen geplant werden - also zuerst Fußweg, dann Radweg, dann motorisierter Verkehr und ÖPNV. Würden wir zuerst auf die Ansprüche des KFZ-Verkehrs schauen, liefen wir Gefahr, dem berechtigten Sicherheitsbedürfnis von Fußgänger*innen nicht mehr ausreichend gerecht zu werden.

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3 "Nach Möglichkeit sollte man bei Grünanlagen verhindern, dass neu versiegelt wird. Das geht bei Radwegen etwa mit einer wassergebundenen Decke." Foto: Büro Stefan Gelbhaar

Verkehrsplanung insbesondere im Straßenbau ist mit Flächenversiegelung und Bodenverdichtung verbunden, dies gilt aber auch für Gleise, Fuß- und Radwege, die durch Grünanlagen führen. Welche Lösungen schlagen Sie vor?

Nach Möglichkeit sollte man bei Grünanlagen verhindern, dass neu versiegelt wird. Das geht bei Radwegen etwa mit einer wassergebundenen Decke. Nicht jeder Radweg muss asphaltiert sein, das ist ja das tolle am Fahrrad. Für Fußwege gilt das gleiche. Wenn es keine andere Möglichkeit gibt und aus irgendeinem Grund versiegelt werden muss, sollten ortsnah Ausgleichsflächen entsiegelt werden.

Das 29 Euro-Ticket gilt beispielsweise noch in Berlin bis zum Frühjahr, später soll das 49 Euro-Ticket eingeführt werden, die Bahnen platzen aber schon jetzt aus allen Nähten, vor allem im Berufsverkehr. Gibt es realistische Verkehrskonzepte, die dieses Dilemma tatsächlich auflösen?

Realistische Lösungen für heute und morgen sehe ich leider nicht, der ÖPNV fristete viel zu lange ein Schattendasein auf der Agenda vorherrschender konservativer Verkehrspolitik. Mittelfristig müssen die Takte zum Beispiel auch mithilfe von Digitalisierung verdichtet und vorhandene Züge effizienter eingesetzt werden, um die Rush Hour am Morgen und am Abend zu bewältigen.

Wir Grünen haben uns im vergangenen Jahr stark dafür eingesetzt, dass die sogenannten Regionalisierungsmittel aufgestockt werden. Hier unterstützt der Bund die Kommunen beim Betrieb des Bus- und Bahnverkehrs. So können dann zum Beispiel mehr Busse oder Bahnen bestellt werden.

Die Corona-Pandemie führte zu einem Umdenken beim Thema Arbeitsplatz: Das Home-Office ist Alltag geworden und kann eine angenehme Alternative zur Arbeit im Großraumbüro sein. Indem wir diese Arbeitsform fördern, etwa mit einer Fortsetzung und Aufstockung der Home-Office-Pauschale im Rahmen der Steuererklärung, vermeiden wir Berufsverkehr und entlasten so die Bahnen und Straßen.

Und tatsächlich müssen wir bei Bus und Bahn auch das Angebot ausbauen. Nehmen wir als Beispiel die Straßenbahn - da dauert das bislang nahezu ewig. Da brauchen wir Planungsbeschleunigung, um deutlich schneller dieses klimafreundliche, günstige und barrierearme Verkehrsmittel in den Städten voran zu bringen.

Die Gartenamtsleiter*innen in Deutschland wollen sich verstärkt zu Verkehrsthemen äußern und die Umsetzung der Verkehrswende mitgestalten. Ist das für Sie sinnvoll oder gibt es nicht schon genug Konflikte mit den beteiligten Planer*innen?

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4 "Der Verkehrssektor ist einer der größten Treiber der Klimakrise. Und nach dem Grundsatz \'global denken – lokal handeln\' gilt es, für jede Kommune einen Plan für die Klimafolgen zu entwickeln zur Verbesserung der Klimabilanz und zur Stärkung der Klimaresilienz." Foto: Büro Stefan Gelbhaar

Die Verkehrswende kann nur gelingen, wenn sie eine breite gesellschaftliche Akzeptanz findet. Dafür braucht es die Vielzahl der Perspektiven. Deshalb kann ich die Gartenamtsleiter*innen nur einladen, ihre Expertise in die Debatten einzubringen. Als Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen freue ich mich besonders über all jene Stimmen, welche die ökologischen Herausforderungen und Chancen der Verkehrswende betonen.

Denn: Der Verkehrssektor ist einer der größten Treiber der Klimakrise. Und nach dem Grundsatz "global denken - lokal handeln" gilt es für jede Kommune, einen Plan für die Klimafolgen zu entwickeln, zur Verbesserung der Klimabilanz und zur Stärkung der Klimaresilienz. Damit ist jede Grünfläche wertvoll und umso behutsamer muss fachlich bewertet werden, wie und wofür hier Flächen versiegelt werden sollen.

Herr Gelbhaar, herzlichen Dank für dieses Gespräch.

M. A. Mechthild Klett
Autorin

Stadt+Grün, Redaktionsleiterin

Patzer Verlag GmbH & Co. KG

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