Für die Zukunft aus der Geschichte lernen
Vertikale Freiraumentwicklung
von: Prof. Dr.-Ing. Ferdinand Ludwig, M.A. Isabel ZintlErdrückende klimatische Prognosen stellen Städte und ihre Freiräume weltweit vor Probleme. Zusätzlich treiben gesellschaftliche Herausforderungen und die fortschreitende Urbanisierung (vgl. Birch und Wachter, 2011 S. 4) Städte an ihre räumlichen Grenzen (vgl. Zintl et al., 2018).
An städtische Freiräume werden deshalb vielfältigste Ansprüche gestellt, denn die noch verbleibenden Flächen sind limitiert und die zur Verfügung stehenden heute etablierten Entwurfsansätze teils beschränkt. Es stellt sich demnach die Frage, ob das allgemeine Verständnis von Freiräumen und herkömmliche Planungsansätze noch zielführend sind, wenn Städte auch in Zukunft lebenswert bleiben sollen.
Was sind Freiräume eigentlich? Park, Platz, Straßenraum - vielleicht noch eine Dachbegrünung?
Die allgemeine Vorstellung von Freiräumen scheint oft eng gesetzt. Dabei brauchen wir doch für eine resiliente Stadt viel mehr von ihnen?! Deshalb ist es naheliegend, dass es vor dem Hintergrund brennende Zukunftsfragen nach Zukunft eine neue Sichtweise auf Freiräume und in der Folge auf Stadtraum im Allgemeinen braucht. Das ist der Ausgangspunkt von Forschungsarbeiten zum Thema "Vertikale Freiräume" der Technischen Universität München, entstanden im Kontext der Promotion von Dr. Isabel Zintl. Die Ergebnisse der Arbeit zeigen unter anderem, dass der Blick in unsere Architektur- und Freiraumgeschichte einen neuen Ansatz aufzeigen kann.
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Wie die Aufarbeitung historischer Beispiele von (Stadt-)Architekturen mit freiräumlichen Charakter nahelegt, war das allgemeine Verständnis von Freiräumen noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein ganz anderes: Freiräume wurden von Innenräumen kaum getrennt betrachtet. Denn aufgrund fehlender Klimabarrieren war eine klare Unterscheidung im engeren Sinne zwischen Innen und Außen praktisch kaum möglich. Erst mit der breiten Verwendung von Fensterglas (vgl. Stark und Wicht 2013, S. 139) Anfang des 20. Jahrhunderts - als Methoden angewendet wurden, die es ermöglichten Glas in großer Menge industriell herzustellen - wurde diese eindeutige Trennung vollzogen. Zudem ist auch die in unseren Breitengraden - besonders im deutschsprachigen Raum - vorherrschende Unterscheidung zwischen Außen- und Innenraum in Verbindung mit den jeweiligen Gestaltungshoheiten der Landschaftsarchitektur und Architektur geschichtlich gesehen jung. Die klare Unterscheidung lässt sich bereits in einigen Ländern Europas kaum finden und ist darüber hinaus in vielen Teilen der Erde kaum existent - gerade in Zonen mit wärmerem Klima, in denen keine klimatischen Hüllen notwendig sind. In vielen Ländern sind die Übergänge zwischen Innen- und Freiraum demnach auch heute noch fließend. Auch in den Städten in unseren Breitengraden finden sich bauliche Typologien, die eine Unterscheidung nur schwer möglich machen, wie zum Beispiel U-Bahn-Höfe, also Bauten ohne Türen, die der Witterung teilweise ausgesetzt sind (vgl. Olsen, 2020). Gegenteilig dazu wurde die Betonung der Unterscheidung in Deutschland in den letzten Jahren zusätzlich durch die verordneten Maßnahmen zur Energieeinsparung und die damit einhergehenden hermetisch dichten Gebäudehüllen verstärkt.
Im Folgenden werden die Potenziale eines offeneren Verständnisses von Freiräumen anhand von Beispielen der Baugeschichte und zeitgenössischen Beispielen erläutert.
Historische Beispiele
Als erstes historisches Beispiel dienen die archäologischen Ausgrabungen und Rekonstruktionen einer der ersten Großsiedlungen der Menschheit, Catalhöyük aus der Jungsteinzeit (7500 bis 5700 v. Chr.), gelegen in der heutigen Türkei.
Die zum Zwecke der Verteidigung (Mellaart, 1967 S. 84) entstandene Bauweise zeigt einen geschichtlich weit zurückliegenden Umgang mit Freiräumen: "Das Besondere der Siedlungsstruktur war, dass der zentrale Bereich durch eine Dachlandschaft geprägt war. Als zweite Ebene über dem Erdboden wurde diese als Freiraum, Transitraum, Ort des Austausches und Arbeitsplatz genutzt." (Zintl, 2022 S. 235).
Die "Innenräume" der Häuser konnten nur mit Hilfe von Leitern von oben erreicht werden, über Luken in den Dächern. Diese Wohnräume hatten wohl einen innenräumlichen Charakter, der Übergang zwischen Freiraum und Architektur lässt sich aber nur schwer ausmachen und ist kaum existent. Das inspirierende an Catalhöyük ist, dass fehlende Klimabarrieren und ein eingeschränkter Witterungsschutz diese Struktur als ein "vertikales Freiraumsystem" lesbar machen.
Die Betrachtungen der Geschichte zeigen zudem, dass die Unterscheidung zwischen Innen- und Außenraum nicht nur fließend ist, sondern, dass sich diese auch im Laufe der Zeit ändern kann. Dies veranschaulicht die Transformationsgeschichte des Kolosseums in Rom über den Verlauf der Zeit. Der 80 n. Chr. erstellte imposante Bau war zu Beginn wohl klar als Architektur lesbar, mit einer großen steinernen Fassade zur Stadt.
Als die Zeit der Gladiatorenkämpfe und Theater nach etwa 400 Jahren zu Ende ging und nachdem Teile des Baus bei einem Erdbeben zerstört worden waren, trat der architektonische Charakter des Gebäudes wohl zunehmend in den Hintergrund. Denn die Anwohner fingen an, Teile des Kolosseums abzutragen, legten Gärten an und nutzen den Raum für ihr Vieh. Zusätzlich entwickelte sich Spontanvegetation, was wohl einen freiräumlichen Charakter "im Inneren" in den Vordergrund treten ließ.
Die Transformation des Kolosseums setzte sich fort: Im Mittelalter war es Wallfahrtsort mit Kirchen, Krypten und Friedhof. Im 12. Jahrhundert wurde die Struktur wohl wieder "architektonischer" im Charakter, als im Inneren des Baus eine Festung erbaut wurde.
Als der Bau wieder verwitterte, entwickelte sich über die Zeit eine stattliche Vegetation, die das Kolosseum wohl wie einen vertikalen Park erschienen ließ. Aufgrund der zu Beginn der Nutzung des Kolosseums über die für die Kämpfe gehaltenen exotischen Tiere eingetragenen fremdländischen Samen entwickelte sich eine einzigartige Artenvielfalt. Festgehalten wurde diese von den Künstlern der Romantik (vgl. Wegerhoff, 2012).
Im 19. Jahrhundert wurde mit der archäologischen Freilegung und Restaurierung des Kolosseums der architektonische Charakter des Baus wieder stärker sichtbar.
Wie die historischen Beispiele veranschaulichen, ist die Trennung zwischen Innen- und Freiräumen fließender als gemeinhin im deutschsprachigen Raum angenommen: Die Siedlung Catalhöyüks kann aufgrund der fehlenden Klimabarrieren als eine geschichtete Freiraumstruktur gelesen werden, mit großen freiräumlichen Nutzungsmöglichkeiten der Dachlandschaft und einer darunterliegenden vor Witterung geschützteren Ebene mit innenräumlichem Charakter. Die Transformationsgeschichte des Kolosseums zeigt die Veränderlichkeit auf: Eine Architektur kann zu einem Freiraum werden und vice versa. Anstatt drinnen und draußen folglich als einen binären Zustand zu betrachten, dürfen wir anerkennen, dass es ein breites Spektrum zwischen innen und außen gibt (vgl. Olsen, 2020).
Was sind Freiräume also demnach?
Wenn wir die geläufige Vorstellung von Freiräumen als Parks oder Plätzen hinter uns lassen und die vermeidlich klare Trennung zwischen Innen- und Freiraum überwinden, entsteht eine neue Lesart für Raum, die viele Potenziale für die Stadt- und Freiraumentwicklung bietet.
Wird die Definition von Freiräumen offener und nicht so eng wie bislang gesetzt, können dem historischen Vorbild folgend auch unsere heutigen Städte als vertikale "Freiraumsysteme" gelesen werden. Klimatisch durchlässiger und porös fließt der Freiraum in der Vertikalen durch die Stadt, auch durch geöffnete Fenster und damit durch Innenräume, welche damit temporär zu Freiräumen - mit zugegebenermaßen sehr "innenräumlichem" Charakter - werden. Auch wenn im europäischen Norden die Fenster oft geschlossen sind, ermöglicht diese Umkehrung der Perspektive eine völlig neue Sichtweise auf Stadtraum.
Vor dem Hintergrund der Klimaerwärmung und damit verbunden zunehmender Überhitzung unserer Städte im Sommer, kann so die Durchlüftung verbessert und es können neue kühlende grüne Pufferzonen und Übergangsräume entstehen. Durch eine Veränderung der Sichtweise wird es möglich, viele Flächen auch in der Vertikalen als Freiräume zu lesen. Als Freiflächen erkannt, könnten so mehr freiräumliche nachhaltige Qualitäten auch in der Vertikalen geschaffen werden. Für die Landschaftsarchitektur würden so völlig neue Entwurfs- und Schaffensfelder entstehen. Diese Sichtweise und die Erweiterung der Freiraumplanung in die Vertikale scheint vor dem Hintergrund globaler Herausforderungen mehr als folgerichtig.
Dabei sollte bedacht werden, dass die Herangehensweise, Entwürfe vom Freiraum her zu entwickeln, grundsätzlich nicht neu ist - in der "Horizontalen" ist dies gängige Praxis in Landschaftsarchitektur und Stadtplanung. Eine Entsprechung dieser Vorgehensweise in der Vertikalen ist jedoch bislang nicht etabliert und eine große Chance.
Diese neue Sicht auf Raum soll keine Utopie bleiben oder eine Vorstellung für vertikale aufwendige Megastrukturen in der Zukunft sein. Vielmehr können durch diese Sichtweise unsere Bestandstrukturen anders qualifiziert und Neubauten anders gedacht und entworfen werden. Bauten können im Zuge von Klimawandelanpassung um nachhaltige Puffer- und Übergangszonen ergänzt werden, die Anzahl an geheizten und kostenintensiven Innenräumen würde insgesamt abnehmen. Was nicht heißen soll, dass wir nun im Winter frieren sollen - es bedarf intelligenter Lösungen: Ein gutes zeitgenössisches Beispiel hierfür ist der Umbau des "Tour Bois le Prêtre" von den Architekten Lacaton & Vassal mit Frédéric Druot, ein Gebäude der Nachkriegsmoderne in Paris.
Die Architekten schufen einen Vertikalen Freiraum, durch die radikale Öffnung der Bestandsfassade. Ergänzt wurden danach neue variable Schichten, die als Pufferzonen Freiflächen schaffen und die laut der Planer Wärme speichern können und so dazu beitragen, die Energiekosten zu senken (vgl. Boureau 2012).
Ein Beispiel einer Transformation eines Bestandsgebäudes in einen Freiraum zeigt die "Ruin Academy" des finnischen Architekten Marco Casagrande von 2010 - ein Umbau eines vormals verlassenen fünfstöckigen Wohnhauses im Zentrum von Taipeh. Die Nutzer entfernten alle Fenster und Innenwände des Hauses, um im Inneren Bambus und Gemüse anzubauen. Zudem wurden alle Decken des Gebäudes mit Löchern versehen, um den Regen ins "Innere" zu lassen. Der Vertikale Freiraum dient hier als unabhängiges Architekturforschungszentrum, in dem die Studierenden und Professoren der ansässigen Universität auch Übernachtungsmöglichkeiten haben. Die "Ruin Academy" zeigt, wie vielfältig Bestand umgenutzt werden kann und herkömmliche Typologien, wie die eines Wohnhauses, zu Freiräumen transformiert werden können.
Neubauten und damit Stadt bewusst als Vertikalen Freiraum zu lesen, wird auch jetzt schon immer populärer, was sich an interessanten neuen Projekten wie beispielsweise der Baugemeinschaft "gemeinsam größer II" in München zeigt.
Die Außenerschließung in der Vertikalen erweitert private und halböffentliche Freiräume und integriert sie als wichtigen Bestandteil in den Entwurf. Als große Vertikale Freiräume ermöglichen sie das Wandeln in der Vertikalen und bieten Raum für sozialen Austausch.
Abschließend lässt sich festhalten, dass die beschriebene neue Sicht auf (Stadt-)Raum, auch in der Vertikalen vom Freiraum her zu denken, ein großes Potenzial für nachhaltige und resiliente Stadtentwicklung birgt. Es zeigt sich, dass in diesem Kontext genau da Chancen für Neuerungen entstehen, wo unsere bisherigen Vorstellungen zwischen Innen- und Freiraum verschwimmen. Gesagt werden muss an dieser Stelle, dass damit nicht grundsätzlich die mit den jeweiligen Räumen bislang verbundenen Gestaltungshoheiten von Freiraum mit der Landschaftsarchitektur und Innenraum mit der Architektur infrage gestellt werden muss. Um qualitätsvolle Räume schaffen zu können, ist immer spezifisches Fachwissen notwendig, wie beispielsweise das einer guten Pflanzenverwendung. Dennoch zeigt sich, dass diesem Ansatz folgend die Zusammenarbeit zwischen den Professionen dringend enger werden sollte. Zudem könnte und sollte allgemein die Wichtigkeit der Profession Landschaftsarchitektur zunehmen, die in diesem Sinne eine federführende Position auch in einem - vom vertikalen Freiraum her gedachten - Hochbau erhalten könnte. Allgemein zeichnet sich zudem ab, dass sich die Grenzen zwischen den Professionen tendenziell auflösen und neue Synergien entstehen.
Anmerkung
Dieser Text basiert in Teilen auf der Promotion "Vertikale Freiräume Untersuchung, Definition und Charakterisierung einer Klasse von Freiräumen als Ausgangspunkt für eine neue Sichtweise auf Raum" von Isabel Zintl (2022). München: Technische Universität München
Literatur und Quellen
Birch, E., Wachter, S. (2011). Global Urbanization, Philadelphia: University of Pennsylvania Press.
Boureau, D. (2012). Möglichkeiten der Nachkriegsmoderne Umbau in Paris von Druot und Lacaton Vassal. Zugegriffen am 22.02.2023 von www.baunetz.de/meldungen/Meldungen-Umbau_in_Paris_von_Druot_und_Lacaton_Vassal_2460693.html
Mellaart, J. (1967). Çatal Hüyük. Stadt aus der Steinzeit, Bergisch Gladbach: Gustav Lübbe.
Olsen, E. (2020). Mid-doors: The zone between inside and outside that could change building design. Zugegriffen am 13.03.2023 von www.fastcompany.com/90575944/mid-doors-the-zone-between-inside-and-outside-that-could-change-building-design
Stark, J., Wicht, B. (2013). Geschichte der Baustoffe. Springer-Verlag: Heidelberg.
Wegerhoff, E. (2012). Das Kolosseum. Berlin: Wagenbach.
Zintl, I., Ludwig, F. (2018). Vertikale Freiräume - Chancen für die dritte Dimension in der Landschaftsarchitektur. Stadt+ Grün (2), 44-49.