Haben wir nicht gerade jetzt die besten Argumente zur Veränderung?

Die Stadt von Morgen nach Corona

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Coronavirus Stadtklima
Die Stadt nach Corona. Wenn Stadtplaner, Klimaforscher und Gesundheitsfachleute zusammenarbeiten, kann das Ergebnis nur grün aussehen. Foto: Herbert Dreiseitl

War es für uns alle nicht erstaunlich, wie schnell Änderungen möglich sind und Wirkung zeigen? Dort, wo sich sonst stinkende Blechkonvois durch die Straßen zwängten, die Luft von Abgasen geschwängert Hustenreiz auslöste und der Geräuschpegel aufbrausender Motoren von den Hauswänden widerhallte, war plötzlich Ruhe eingekehrt. Vögel waren wieder mit ihrem feinen Gesang zu hören und die Luftwerte wurden deutlich besser. Die Menschen konnten ruhig über die Straßen gehen - mit dem gebührenden Abstand versteht sich - und erlebten Stadtgrün als Quelle physischen und mentalen Wohlbefindens.

Irgendwie hat das Corona Virus über Nacht das geschafft, was Politiker, Planer und Umweltaktivisten über Jahrzehnte nicht vermochten. Und wie geht es jetzt weiter?

Die persönlichen Erfahrungen in der Corona-Pandemie sind sehr unterschiedlich - sei es mehr Freizeit oder mehr Arbeitsbelastung, seien es finanzielle und gesundheitliche Sorgen bis hin zu Existenzängsten. Aber eines dürfte den Menschen gemeinsam sein: sie erlebten sich selbst und ihre Umgebung neu.

Der Straßenraum ließ - statt ausschließlich dem Autoverkehr zu dienen - plötzlich andere Nutzungen zu, die auch vielerorts ergriffen wurden. Stadträume, vor allem Grünflächen und Parks, belebten sich zusehends durch Fußgänger und Fahrradfahrer. In der Zeit des "Shut Down" war deutlich zu spüren, dass wir dieses in Beziehung-Treten mit der Natur brauchen, um physisch, sozial und mental gesund zu bleiben.

Auch die eigenen Wohnräume wurden plötzlich neu entdeckt und kreativer gestaltet, vor allem zog auch mehr Grün ein in unsere Wohnungen, auf Balkone, Dach- und Hausgärten. Baumschulen, Blumen- und Gartencenter und viele Betriebe der Grünen Branche hatten entgegen des allgemeinen Trends Hochkonjunktur. Irgendwie war zu spüren, dass eine gesunde Umwelt mit viel Grün zu einem zentralen Grundbedürfnis der Menschen gehört. Wir nennen dies auch den Biophilia-Effekt - die Liebe zur Natur und zu allen Lebewesen.

Neue Wertediskussion

Offensichtlich hat sich einiges bewegt. Vielfach wird laut, dass wir weltweit nicht mehr zurück zum alten Zustand sollten, sondern die Chance nutzen mögen für eine Veränderung zu einem nachhaltigeren Lebensstil. Die Diskussion, was ist Lebensqualität, was brauchen und wollen wir wirklich und auf welchen Konsum kann verzichtet werden, ist in vollem Gange - wenn auch noch vornehmlich in den gesellschaftlichen Kreisen, die bereits eine gesicherte Lebensgrundlage haben. Aber auch das Thema der solidarischen Gesellschaft und die Abfederung weniger wohlhabender Kreise beispielsweise durch ein allgemeines bedingungsloses Grundeinkommen ist in dieser Krise erneut aufgeflammt.

Es ist erstaunlich, wie rasch sich Homo sapiens in Krisensituationen auf neue Regeln und Verhaltensweisen einstellen kann. Diese Fähigkeit zur Krisenbewältigung nennt man Resilienz (psychische Widerstandskraft). Die Frage ist, ob die Menschheit damit auch den weit größeren Bedrohungen wie dem Klimawandel begegnen kann. Anders als das Coronavirus ist die Klimakrise zunächst nicht unmittelbar lebensbedrohlich, aber in ihrer Auswirkung umso dramatischer und unumkehrbar.

Die Europäische Union lancierte bereits vor der Krise den "Green Deal" und der renommierte Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber, Gründer des Potsdam Instituts, fordert darauf aufbauend sehr einleuchtend einen "Klima-Corona-Vertrag", indem er sagt: "Derzeit wird sehr zu Recht von den jüngeren Teilen der Bevölkerung Solidarität mit den Älteren eingefordert, die ja viel stärker durch das Virus gefährdet sind. Umgekehrt sollten die Älteren beim Klima Solidarität mit den Jüngeren üben, denn Letztere werden die Folgen der Erderhitzung in ihrem Leben viel stärker spüren."¹

Der Klimakommissar der Europäischen Union, Franz Timmermann, möchte ein Umdenken im Investment: "Wir müssen dafür sorgen, dass die staatlichen Rettungsgelder auch nachhaltig investiert werden: in den Abbau klimaschädlicher Industrie, in regionale und klimagerechte Wirtschaft und in erneuerbare Energien."²

Ganz zurecht muss das Dogma des unendlichen Wirtschaftswachstums hinterfragt werden. "Degrowth by design" ist jetzt nötig, also bewusste und geplante Wachstumsrücknahme. Laut Friedensforscher Josef Mühlbauer (Varna Institute for Peace Research) sind für die Gestaltung des Umbruchs zur Postwachstumsgesellschaft alternative Wohlstandsindikatoren (z. B. Zeitwohlstand), ökologische Fiskalpolitiken, Emissionsbegrenzungen, gemeinschaftliche Infrastrukturen und nicht zuletzt die Förderung regionaler Selbstversorgung entscheidend.³

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Leer gefegte Städte in Corona-Zeiten. Die Krise lässt nachdenken und Prioritäten neu setzen. Foto: Herbert Dreiseitl

Urbanes Bauen im Wandel

Doch welche Fragestellungen hat die Corona-Krise in der Architekturszene, im Städtebau und in der Freiraumarchitektur ausgelöst? Auch hier herrscht Unsicherheit, aber ebenso der Mut zur Veränderung. Während manche Verbände der eher konservativen Bauwirtschaft mit großen Ängsten einer drohenden Rezession entgegensehen, sind viele innovative Unternehmen, Entwickler, Planer und Architekten bereits auf der Suche nach neuen Möglichkeiten, einen Paradigmenwechsel herbeizuführen und nachhaltigen Städtebau, ökologische Gebäude sowie blau-grüne Infrastrukturen an Bauwerken und im Freiraum viel intensiver einzusetzen.

Der amerikanische Urbanist Richard Florida bemerkt dazu: "Die Krise könnte unseren unbezahlbaren, hypergentrifizierten Städten ein kurzes Zeitfenster bieten, um sich neu zu orientieren und ihre kreative Szene wieder zu beleben. Vorhersagen über den Tod von Städten folgen immer auf Schocks wie diesen. Aber die Verstädterung war schon immer eine größere Kraft als ansteckende Krankheiten."4

Auch für den Architektur-Professor Niklas Maak ist die Corona-Krise Weckruf und Gelegenheit, um sich grundsätzliche Fragen zu stellen: "Wie wollen wir eigentlich leben? In liebloser Schachtel-Architektur, in schlechter, gewinnorientierter Investorenarchitektur? In Wohnformen, die für viele Ältere oder Alleinerziehende gerade sichtbar zu Vereinsamung führen?" Maak arbeitet mit seinen Studenten in Harvard daran, leerstehende Einkaufszentren oder überflüssige Büros umzubauen und Pläne für neuartige Nutzungen zu entwickeln. "Denn es gibt extrem viele interessante junge Architekten, die hervorragende Ideen haben", so Maak.5

Das Thema ist kein akademischer Diskurs, sondern längst bei den Menschen angekommen. Aufgrund der zeitweise drastischen Ausgangsbeschränkungen in der Corona-Pandemie haben die Menschen sowohl den Wert des eigenen Wohnraums als auch der städtischen Grünflächen für das physische und mentale Wohlbefinden elementar erlebt. Und das vielleicht am Stärksten dort, wo man ihnen zeitweise sogar das Erleben des unmittelbaren städtischen Umfeldes eingeschränkt hat, wie in Italien oder Spanien.

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Aus der Krise lernen: Üppiges Grün macht jede Wohn- und Arbeitsumgebung gesünder und lebenswerter. Foto: Herbert Dreiseitl

Grün wirkt vielfach

Städtische Grünflächen mit Parks und Gärten, begrünte Gebäudefassaden und Terrassen bis hin zu begrünten Dächern und Stadtbauernhöfen bieten zahlreiche Vorteile für die Menschen sowie neue Chancen für Unternehmen. Vielfältiges Grün dient der Biodiversität, also dem Erhalt der Artenvielfalt von Flora und Fauna. Es ist nicht nur Schutzraum für die Natur selbst, sondern ermöglicht erst deren Wirkung und erhält damit die Verbindung zwischen Mensch und Natur.

Die Vorteile von Grün sind geradezu immens. Grün verbessert das Kleinklima und verringert die Luft- und Wasserverschmutzung sowie die Lärmbelastung, Grün dämpft die Wirkungen extremer Wetterereignisse und bietet Schutz vor Überschwemmungen, Dürren und Hitzewellen. Grün auf Dächern bedeutet zudem Schutz der Bausubstanz sowie nutzbare Freifläche und wertvoller Erholungsraum in oftmals dichter Bebauung.

Neue Wege gehen

In vielen fortschrittlichen Städten hat die Krise neue Denkanstöße gesetzt und weltweit Initiativen zur Umsetzung ermutigt. So hat die Stadt Singapur inmitten der Krise neue Richtlinien und Programme einer interdisziplinären Arbeitsweise zur Stadtplanung in die Wege geleitet. Khoo Teng Chye, der Gründer und Leiter des staatlichen CLC Singapur (Center for Liveable Cities) sagt dazu im aktuellen Webinar Healthy Cities in a Post-Pandemic World: "Die Stadt soll gesundes Leben für ALLE fördern. Daher müssen Gesundheitsfachleute und Stadtplaner viel stärker zusammenarbeiten."

Auch der autodominante Straßenraum in Singapur könnte sich verändern und neue Mobilitätsformen herausbilden, denn die Krise hat Arbeitswelt und Mobilitätsverhalten stark verändert. "Homeoffice" und Videokonferenzen haben weniger Reisen und kürzere Wege bewirkt. Das hat Auswirkungen auf die benötigte Infrastruktur in den Städten. Die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo spricht beispielsweise von einer "15-Minuten-Stadt", in welcher die meisten Bewohner ihre täglich zurückzulegenden Wege in kurzer Zeit zu Fuß, mit dem Fahrrad oder öffentlichen Verkehrsmitteln zurücklegen können. Die Vorteile einer gut geplanten kompakten Stadt würden neben kürzeren Wegen für Pendler, einer saubereren Luft und weniger Geräuschbelästigung auch den reduzierten Verbrauch von fossilen Treibstoffen und Energie umfassen, heißt es von Esteban Leon, Chef des City Resilience Global Programme von UN-Habitat.6

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Besonders während des Corona Shut Downs spürten die Menschen, wie wertvoll Grünräume in ihrer direkten Umgebung sind. Foto: Kompetenzzentrum Gebäudebegrünung und Stadtklima e. V.

Europäische Programme für Stadtgrün

Auf Europäischer Ebene sind neue Programme, Normen und Finanzierungen in Vorbereitung. So wird die neue Europäische Plattform für die Begrünung der Städte die Anpflanzung von Bäumen in Städten, auch im Rahmen des LIFE-Programms, erleichtern.

Um der Natur wieder mehr Raum zu geben und Gemeinschaftsmaßnahmen zu belohnen, fordert die Kommission europäische Städte ab 20.000 Einwohnern auf, bis Ende 2021 ehrgeizige Pläne für die Begrünung der Städte auszuarbeiten. Dazu sollten Maßnahmen zur Schaffung von biologisch vielfältigen und zugänglichen städtischen Wäldern, Parks und Gärten, Stadtbauernhöfen, begrünten Dächern und Mauern, Alleen, städtischen Wiesen und Hecken gehören. Diese Pläne sollten auch dazu beitragen, die Verbindungen zwischen den Grünflächen zu verbessern, den Einsatz von Pestiziden zu unterbinden sowie das übermäßige Mähen städtischer Grünflächen und andere Praktiken, die die biologische Vielfalt schädigen, zu begrenzen. Solche Pläne könnten politische, regulatorische und finanzielle Instrumente mobilisieren. Um dies zu erleichtern, wird die Kommission im Rahmen einer mit den Städten und Bürgermeistern getroffenen neuen "Vereinbarung für grüne Städte" im Jahr 2021 eine EU-Plattform für die Begrünung der Städte einrichten. Dies wird in enger Abstimmung mit dem Europäischen Konvent der Bürgermeister geschehen.

Man kann nur hoffen, dass die Pläne für die Begrünung der Städte auch eine zentrale Rolle bei der Verleihung der Titel "Grüne Hauptstadt Europas 2023" und "Grünes Blatt Europas 2022" spielen werden.

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Verstädterung, Versiegelung und Klimawandel: in Ballungszentren sind Grünflächen unabdingbar, um den dramatischen Folgen entgegenzuwirken. Es ist Zeit zur Veränderung! Foto: Kompetenzzentrum Gebäudebegrünung und Stadtklima e. V.

Letzte Chance

Bei allen Einschränkungen und allem Leid hat die Corona-Pandemie auch etwas Gutes, denn sie vermag die grundlegenden Bedürfnisse der Menschen in Städten zu verdeutlichen und Prioritäten neu festzulegen. Bislang hatten Grünflächen und grüne Systeme an Gebäuden wie Fassaden und Dachbegrünung zumeist das Nachsehen, da diese für Investoren scheinbar weniger Rendite brachten und in ihrem Wert zu wenig erkannt wurden. Das scheint sich jetzt zu ändern, denn das Bedürfnis wächst und artikuliert sich deutlicher, besonders durch den wachsenden Anteil der in städtischen Gebieten lebenden Bevölkerung.

Die Förderung gesunder Ökosysteme braucht Infrastrukturen mit naturbasierten Lösungen und diese müssen systematisch in die Stadtplanung einbezogen werden: bei der Planung öffentlicher Räume, bei der Gestaltung von Gebäuden, deren Infrastruktur und in der kontextuellen gesunden Einbettung in die Umgebung.

Ziel ist die Schaffung einer lebenswerten und resilienten urbanen Landschaftsarchitektur. Die Bereitschaft zu Neuem und zur Veränderung in der Gesellschaft ist in Krisenzeiten am Größten. Wenn wir diese Chance nicht nutzen, haben wir vielleicht eine Letzte zur Eindämmung des Klimawandels vertan.

Heute geht es darum, in der Herausforderung eine Chance zu sehen für einen Wertewandel mit einer besseren Prioritätensetzung auf eine gesündere Umwelt gerade in der Stadt und damit einen gesellschaftlichen Gewinn, für die Gesundheit der Menschen und damit mehr Hoffnung für zukünftige Generationen.

Quellenangaben

¹ www.klimareporter.de/gesellschaft/wir-brauchen-einen-klima-corona-vertrag

² campax.org/climate-strike-online/

³ www.umbruch.at/beitraege/josef-muehlbauer

4foreignpolicy.com/2020/05/01/future-of-cities-urban-life-after-coronavirus-pandemic/

5www.arcguide.de/aktuelles-trends/blog/corona-wird-unsere-staedte-veraendern/

6punkt4.info/social-news/news/architekten-ueberdenken-urbane-infrastrukturen.html)Kompetenzzentrum Gebäudebegrünung und Stadtklima e. V. , www.kgs-nt.de

Prof. Herbert Dreiseitl
Autor

Landschaftsarchitekt und Künstler. Professur für klimagerechte, lebenswerte Stadtentwicklung, Freiraumplanung und Stadthydrologie

Dreiseitlconsulting GmbH, Überlingen

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